Leben im Paradigma des Verhaltens. Verhaltensbeobachtungen und Verhaltensregulierungen im 20. Jahrhundert

Leben im Paradigma des Verhaltens. Verhaltensbeobachtungen und Verhaltensregulierungen im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Rüdiger Graf / Annelie Ramsbrock, Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.12.2015 - 05.12.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Christopher Kirchberg, Historisches Institut, Ruhr-Universität Bochum

Hat das „Verhalten“ eine Geschichte und wenn ja, wie kann man sie schreiben? Diese auf den ersten Blick gerade für Historikerinnen und Historiker ungewöhnliche Frage stand im Mittelpunkt eines von Rüdiger Graf und Annelie Ramsbrock am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam organisierten Workshops mit dem Titel „Leben im Paradigma des Verhaltens. Verhaltensbeobachtungen und Verhaltensregulierungen im 20. Jahrhundert“. Die Feststellung, dass „Verhalten“ in der Geschichtswissenschaft oft unreflektiert als Analysebegriff verwendet werde, motivierte die Frage nach der Historizität von Verhalten selbst, also nach der Wandelbarkeit seiner Definitionen und Erfassungsmethoden sowie der Abgrenzung zum Begriff des Handelns.

In ihren Einführungsbemerkungen konstatierten ANNELIE RAMSBROCK und RÜDIGER GRAF (beide Potsdam) zwei Stränge der Auseinandersetzung mit dem Verhalten im Spannungsfeld zwischen Normativität und Normalität: als normative Verhaltenslehre auf der einen und deskripitve, wissenschaftliche Verhaltensbeobachtung auf der anderen Seite. In einer begriffsgeschichtlichen Annäherung zeichnete Graf die Karriere des Terminus in seiner semantischen Offenheit nach, die eine Verwendung in der Alltagssprache sowie innerhalb verschiedener wissenschaftlicher Fachdisziplinen gleichermaßen befördert habe. Insbesondere in den USA wurde nach dem Zweiten Weltkrieg versucht, sowohl die Sozialwissenschaften unter Label der behavioural sciences neu zu ordnen als auch eine Einheitswissenschaft zur umfassenden Erforschung und Erklärung menschlichen Verhaltens zu entwerfen. Beides führte nicht nur zu professionellen Verhaltensbeobachtungen, sondern ebenso zur Entwicklung verschiedener Techniken der Verhaltensregulierung, die auf der Tagung anhand ausgewählter Praxisfelder aufgezeigt und diskutiert wurden. Im Kern ging es darum, die Bedeutung des Aufschwungs der Verhaltenswissenschaften für die Beeinflussung, Steuerung und Regulierung wirtschaftlicher, gesellschaftlicher und politischer Prozesse herauszustellen.

Im ersten Panel „Ökonomie“ ging es um den Aufstieg und die Bedeutung der Kategorie Verhalten als spezifische Form des Humankapitals in betrieblichen Kontexten. ANNE SUDROW (Potsdam) untersuchte behavioristische Konzepte alternativer Ökonomie als angewandte Verhaltensforschung. Anhand des egalitären Gemeinwesens der US-Kommune Twin Oaks, die sich an Skinners kollektiv-utopistischen Roman „Walden Two“ orientierte, stellte Sudrow die Wirkungsgeschichte und die Bewährung des Behavorismus zur Steuerung unangenehmer Arbeiten über instrinsische Motivationstrategien wie der Einführung eines Labour Credit Systems in der Praxis dar. BRIGITTA BERNET (Zürich) richtete dagegen den Blick auf das Verhaltensmanagement in Betrieben, indem sie Verhalten als eine relationale, auf die Umwelt bezogene Kategorie im Feld der Ökonomie untersuchte. Mit dem Aufstieg der Arbeit zur zentralen Kategorie des modernen Staates zu Beginn des 20. Jahrhunderts seien Versuche der Verhaltensnormierung und -orientierung aufgekommen wie die auf Psychotechniken zurückgreifende wissenschaftliche Produktionssteuerung des Taylorismus. Im Verlauf des Ost-West-Konflikts habe sich die Blickrichtung auf human resources geändert: Statt die Unternehmen an das Verhalten der Menschen anzupassen, sollten sich nun die Menschen dem Unternehmen anpassen.

Das zweite Panel „Devianz und Therapie“ richtete den Blick auf den gesellschaftlichen Umgang mit abweichendem Verhalten. Dabei ging es vor allem um die Frage, welche Steuerungsmechanismen zur Regulierung von Verhalten im Feld der sozialen Kontrolle entwickelt und implementiert wurden. Am Beispiel der Resozialisierung von Gefängnisinsassen zeigte Ramsbrock, dass das Paradigma der Resozialisierung, wie es seit den frühen 1960er-Jahren diskutiert wurde, eine unmittelbare Antwort auf den Aufschwung und die Prominenz des Verhaltensbegriffs in den Sozialwissenschaften war. In Anlehnung an die neueren Sozialisationstheorien der sechziger Jahre wurde auch das Gefängnis als eine „Sozialisationsinstanz“ begriffen, in der das Verhalten der Insassen reguliert werden sollte. Dabei diskutierte Ramsbrock ebenfalls, welche Rolle dabei dem Aufsichtspersonal zukam und inwieweit es selbst Formen der Resozialisierung durchlief. JENS ELBERFELD (Bochum) konstatierte nach einem Überblick über die Wissensgeschichte des Behaviorismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einen Transfer des US-amerikanischen „Psychobooms“ in die Bundesrepublik seit den 1960er-Jahren, der das Aufkommen therapeutischer, auf Selbstoptimierung abzielender Techniken und Trainingsmethoden befördert habe. Er ordnete den Behaviorismus ins Spektrum der Verhaltenswissenschaft ein und interpretierte Verhalten als transhumanistisches Konzept avant la lettre zwischen Natur und Kultur. CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) untersuchte anhand von kriminologischer Fachliteratur die Bedeutung von Verhaltenskategorien zur Beschreibung des Verfassungsfeindes durch den Verfassungsschutz: Während auf dem Feld der Spionage Verhalten keine wissenschaftliche Kategorie darstellte, habe sich der Verfassungsschutz seit den 1960er-Jahren im Umgang mit dem Extremismus verfassungsfeindlicher Gruppen unter Rückgriff auf die Individual- und Sozialpsychologie am verhaltenswissenschaftlichen Diskurs beteiligt. Anhand der jährlich publizierten Verfassungsschutzberichte zeichnete Goschler die Konstruktion von Verhaltenskategorien zur Unterscheidung von Rechts- und Linksextremismus nach.

Im Panel „Körper und Substanzen“ stellte MAREN MÖHRING (Leipzig) einen Wandel vom quantitativ ausgerichteten Essverhalten zum qualitativ orientierten Ernährungsverhalten fest: Während das Essverhalten lange Zeit Gegenstand anthropologischer Studien gewesen sei, die auf den Habitus als vorverhaltenswissenschaftlichen Verhaltensbegriff abzielten, sei das Ernährungsverhalten zu einem Zeitpunkt aufgekommen, als sich die allgemeine Perspektive von der Unterernährung zur Fehlernährung verschoben habe. In den 1970er-Jahren habe sich dadurch der Fokus auf Ernährungshandlungsmuster gerichtet, um Essstörungen durch Beobachtung und Quantifizierung der Nahrungszufuhr zu normalisieren. Dabei sei Aufklärung durch Informationskampagnen das zentrale Mittel zur Verhaltensänderung und zur Optimierung der Ernährung im Namen der Gesundheit gewesen. JAKOB TANNER (Zürich) untersuchte Verhaltensaspekte in der Epistemologie der Erklärungsansätze von Sucht und Drogenabhängigkeiten seit 1945. Anhand der Trias Subjekt – Substanz – Gesellschaft beobachtete er einen Wandel der Ursachenzuschreibung vom sozialen Milieu zum Individuum. Indem Tanner die Diskurse über Drogensucht mit Konzepten der praktischen Optimierungsversuche aus der Verhaltensökonomie verknüpfte, diskutierte er Positionen, die Drogenkonsum anhand von Markttheorien erklären und den Menschen durch entsprechende Kampagnen zu beeinflussen versuchen.

Im vierten Panel „Körper und Gesundheit“ stellte zunächst HANNAH AHLHEIM (Göttingen) für die Untersuchung des Schlafverhaltens seit den 1950er-Jahren eine Begriffsverschiebung von der Gewohnheit zum Verhalten fest. Da sich Versuche zur beliebigen Veränderung von Schlafgewohnheiten in den 1940er- und 1950er-Jahren als nicht realisierbar erwiesen hätten, wandelte sich das Paradigma in den 1960er- und 1970er-Jahren hin zum Schlafverhalten, das als Kombination aus sozialer Aneignung und biologischer Vererbung verstanden wurde. Welche Bedeutung die wissenschaftliche Beobachtung von Schlafverhalten innerhalb des Militärs im 20. Jahrhundert einnahm und welchen Steuerungsversuchen die Soldaten ausgesetzt waren, zeigte Ahlheim ebenfalls auf. Für den Bereich des Gesundheitsverhaltens in der Bundesrepublik Deuschland untersuchte MALTE THIESSEN (Oldenburg) zunächst den Zusammenhang zwischen individuellem Gesundheitsverhalten und gesellschaftlichen Gesundheitsverhältnissen. Dabei ging es vor allem darum, die Bedeutung von Sozialisation und Geschlecht für das Gesundheitsverhalten herauszuarbeiten. Davon ausgehend interpretierte er die Gesundheits(vor)sorge als eine Art Gesellschaftsvertrag des 20. und 21. Jahrhunderts: Es gelte als politische Legitimationsressource und Ausdruck sozialer Verantwortung.

FRANK BÖSCH (Potsdam) befasste sich im fünften Panel „Erziehung und Steuerung“ mit der wissenschaftlichen Untersuchung des Medienverhaltens: Audiovisuelle Medien und neue Beobachtungsformen der Soziologie, Psychologie und Kommunikationswissenschaften hätten Rezipientenforschung verändert. Aus dem passiven, manipulierten Mediennutzer sei seit Mitte des 20. Jahrhunderts ein aktiver Medienkonsument geworden. Während Modelle im frühen 20. Jahrhundert von einfachen Stimulus-Response-Annahmen ausgegangen waren, wurde Medienverhalten seit den 1940er-Jahren an das soziale Milieu gebunden und somit als Teil des Sozialverhaltens gedeutet. Aus diesem Wandel, so Bösch, sei letzlich die empirische Vermessung der Mediennutzung hervorgegangen. TILL KÖSSLER (Bochum) befasste sich in seinem Vortrag mit dem Aufkommen der Verhaltensmodifikation in der Erziehungswissenschaft seit den 1960er-Jahren. Eine Folge dieser Wahlverwandtschaft waren neuartige Methoden der Verhaltensbeobachtung: Das Schülerverhalten wurde nun in kleinste Einheiten zergliedert und zum Ausgangspunkt konkreter pädagogischer Maßnahmen gemacht, die eher auf positive Verstärkung denn auf autoritäre Dispositionen setzten. Als eine weitere Folge der Prominenz des Verhaltensparadimas in den Erziehungswissenschaften stellte Kössler den Glauben an die soziale Chancengleichheit dar, die im Zentrum der Bildungsreformen um „68“ stand. Die Aktivierung brachliegender Bildungsreserven durch die Einbeziehung marginalisierter Schülerinnen und Schüler in Form von Differenzierungen und individueller Förderung sei, so Kössler, wesentlich auf den Aufstieg der Verhaltenswissenschaften zurückzuführen.

Das letzte Panel „Sicherheit und Umwelt“ eröffnete KAI NOWAK (Gießen) mit einem Vortrag zum Verkehrsverhalten in der Bundesrepublik. Nowak stellt eine Fundamentalverschiebung vom Ziel der Vermeidung von Unfällen in den 1950er-Jahren hin zum reibungslosen Funktionieren des Verkehrs und der Herstellung von Erwartungssicherheit durch spezifisch angepasstes Verhalten in den 1970er-Jahren fest. Setzten zuvor Verkehrspsychologen auf Einsicht durch Appelle, trat seit Ende der 1950er-Jahre die Selbstdisziplinierung in den Vordergrund; externer Fremdzwang sollte in internalisierten Selbstzwang überführt werden. Seit den 1980er-Jahren werde Verkehrsverhalten nicht nur auf Sicherheit und Risiko, sondern auch auf ökologische Kriterien bezogen. Abschließend sprach RÜDIGER GRAF zum Thema Umweltverhalten – Entstehung, Erfassung und Beeinflussung. Der selten explizit definierte Begriff des Umweltverhaltens sei aufgekommen, als erkannt worden sei, dass das aus kognitiven, affektiven und intentionalen Elementen zusammengesetzt verstandene Umweltbewusstsein anders als erhofft nicht zu umweltschonenderem Verhalten führe. Für den Aufstieg des Umweltverhaltens machte Graf die Deutungsansprüche der Sozialwissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften sowie die Fokussierung der Umweltdiskussion auf Ressourcennutzung, die mit den Energiekrisen und den Debatten um die Grenzen des Wachstums aufgekommen sei, verantwortlich. Auf Ebene der Verhaltensbeeinflussung unterschied Graf zwischen technischen Lösungen, ökonomischen Anreizen zur Internalisierung externer Kosten sowie erzieherischen Maßnahmen und Steuerungsbemühungen, die auf die Gestaltung der Verhaltensumgebung abzielten.

In der Abschlussdiskussion ging es insbesondere darum, den Verhaltensbegriff in Beziehung zu anderen Ordnungsbegriffen wie Rationalisierung, Regulierung und Versicherheitlichung zu setzen und seine Anschlussfähigkeit zu diskutieren, aber auch Verhalten und Handeln als analytische Begriffe voneinander zu unterscheiden. Dabei ging es zunächst um das dem Verhaltensparadima zugrunde liegen Menschenbild, konkret: um die Frage, ob der Mensch als freies, rational handelndes Indviduum begriffen wird oder als sich verhaltendes und damit in höhrerem Maße manipulierbares Objekt von Steuerungstechniken. Gerade hier deutete sich ein Spannungsfeld zwischen Steuerungsansprüchen moderner Staaten und der Legitimation ihrer politischen Ordnungen an, das über die Untersuchung kontroverser Verhaltenssteuerungsansprüche genauer ausgeleuchtet werden könne. Die Chancen des Verhaltensbegriffs wurden auch darin gesehen, die historisch variablen Verhältnisbestimmungen von Natur und Kultur in den Blick zu nehmen. Allerdings wurde auch gefordert, stärker zu unterscheiden, ob es sich beim Verhaltensbegriff um einen auf den Behaviorismus rekurrierenden Terminus handle, oder dieser andere Urspürung habe und etwa auch als analytische Kategorie nutzbar gemacht werden könne.

Insgesamt deutete die Tagung das weitreichende Potenzial eines neuen Blickes auf westliche Demokratien nach 1945 durch die Untersuchung von Verhaltensbeobachtungen und Verhaltensregulierungen an, auch wenn das Verhaltensparadigma nicht alle gesellschaftlichen Bereichen gleichermaßen durchdrang und verschiedene Implikationen hatte. Ein weiteres Nachdenken scheint vor allem für das Verhältnis von Verhalten und Geschlecht angebracht, und auch eine Erweiterung um andere, zeitlich langfristigere Stränge der Verhaltensforschung, wie zum Beispiel der Erforschung des Wahlverhaltens, könnten gewissermaßen als Konstrastfolie dazu dienen, die Reichweite des auf der Tagung in vielen Feldern konstatierten Wandels in den 1970er-Jahren zu überprüfen.

Konferenzübersicht:

Rüdiger Graf / Annelie Ramsbrock (Potsdam): Begrüßung und Einführung

Ökonomie:

Anne Sudrow (Potsdam): Walden, too: Alternative Ökonomie als angewandte Verhaltensforschung
Brigitta Bernet (Zürich): Verhaltensmanagement

Devianz und Therapie:

Annelie Ramsbrock (Potsdam): Resozialisierung oder der Ort des Verhaltens in der juristischen Anth-ropologie
Jens Elberfeld (Bochum): Verhaltenstherapie
Constantin Goschler (Bochum): Verfassungsfeinde zwischen Ideologie und Verhalten

Körper und Substanzen:

Maren Möhring (Leipzig): Essverhalten und Ernährungsverhalten
Jakob Tanner (Zürich): Sucht. Zwangsverhalten und Kritik der Verhaltenszwänge

Körper und Gesundheit:

Hannah Ahlheim (Göttingen): Schlafverhalten
Malte Thiessen (Oldenburg): Gesundheitsverhalten

Erziehung und Steuerung:

Frank Bösch (Potsdam): Medienverhalten
Till Kössler (Bochum): Verhaltenserziehung

Sicherheit und Umwelt:

Kai Nowak (Gießen): Vom „Unfäller“ zum „Könner“. Expertendiskurse zum Verkehrsverhalten in der Bundesrepublik Deutschland
Rüdiger Graf (Potsdam): Umweltverhalten – Entstehung, Erfassung und Beeinflussung

Abschlussdiskussion