Nationale Sozialpartnervereinbarungen zur Arbeitsverfassung

Nationale Sozialpartnervereinbarungen zur Arbeitsverfassung

Organisatoren
Initiative Arbeitsrechtsgeschichte, Hugo Sinzheimer Institut für Arbeitsrecht; Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
11.12.2015 -
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Von
Dennis Vogt, LOEWE-Schwerpunkt "Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung", Goethe-Universität Frankfurt am Main

Nationale Sozialpartnervereinbarungen zur Arbeitsverfassung waren das Thema der ersten Jahrestagung der 2015 gegründeten Initiative Arbeitsrechtsgeschichte. Diese vereinigt Forscher/innen unter der Leitung des Hugo Sinzheimer Instituts für Arbeitsrecht (HSI) (Frankfurt am Main) und des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (MPIeR) (Frankfurt am Main). Neben halbjährlichen Arbeitskreis-Sitzungen soll jeweils zum Jahresende eine Tagung zu einem arbeitsrechtshistorischen Thema stattfinden. 2015 setzte sich diese mit zentralen Sozialpartnervereinbarungen in Deutschland, Schweden und der Schweiz auseinander.

Thomas Duve (Frankfurt am Main) begrüßte die Anwesenden als einer der Direktoren des gastgebenden MPIeR und wies auf das Interesse an der Tagung und deren Thema von sowohl Wissenschaftler/innen als auch Praktiker/innen hin.

MICHAEL KITTNER (Frankfurt am Main) stellte sodann die Initiative vor und führte in das Thema der Tagung ein. Der Normalfall in den Arbeitsbeziehungen sei der Streit. Dissens zwischen den Sozialpartnern und Entwicklungen im Bereich der Arbeitsverfassung gingen normalerweise vom Staat aus. Demgegenüber stellten die auf der Tagung thematisierten Sozialpartnervereinbarungen, bei denen die Sozialpartner einen Konsens erzielten und der Staat diese Abkommen sogar teilweise in Gesetze überführe, den großen und seltenen Ausnahmefall dar. In Deutschland sei dies dann auch nur in Krisensituationen geschehen, wie die kommenden Fallbeispiele zeigten. In Bezug auf die auf der Tagung besprochenen Beispiele aus Schweden und der Schweiz ließen sich die Vereinbarungen im Kontext der europäischen Entwicklungen der 1930er-Jahre verstehen.

GERD BENDER (Frankfurt am Main) stellte das Stinnes-Legien-Abkommen über die „Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber und Arbeitnehmer“ (ZAG) Deutschlands vom 15. November 1918 vor. Diese in der und durch die Umbruchsphase der Revolutionszeit erfolgte enorm weitgehende Vereinbarung mit hohem symbolischem Gehalt stehe im Kontrast zur schwachen Position der Gewerkschaften im Kaiserreich. Neben der Festschreibung arbeitsrechtlicher Verbesserungen wie des Achtstundentages oder der Bereitschaft zu flächendeckenden Tarifverträgen seien vor allem auch die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiter/innenschaft anerkannt worden. Beide Seiten hätten hier ein ambitioniertes und spektakuläres Projekt des sozietalen Korporatismus initiiert, in welchem sie das Wirtschaftssystem selbständig regulieren wollten und konnten. Teile des Projektes hätten sogar eine „Umsetzung“ durch den Staat erfahren, wie in der Tarifvertragsverordnung von 1918. Doch schon 1919 habe in der ZAG, verursacht durch Widerstand unter den Mitgliedern der Arbeitsmarktkoalitionen selbst, ein Prozess der Schwächung und Auflösung begonnen, der 1924 seinen formalen Abschluss gefunden und nichts mehr von den großen Ambitionen und Errungenschaften des Abkommens von 1918 übriggelassen habe.

ACHIM SEIFERT (Jena) thematisierte die Bedeutung des Hattenheimer Abkommens von 1950 für die junge Bundesrepublik. In den von den Sozialpartnern selbst initiierten Hattenheimer Gesprächen, bei denen die Bundesregierung nur beobachtend teilnahm, hätten Einigungen erzielt werden können, die teilweise auch vom Gesetzgeber übernommen wurden: die Ausweitung des Kündigungsschutzes für Arbeitnehmer/innen, die Einführung von „tariflicher Schlichtung“ anstelle staatlicher Schlichtung sowie die paritätische Selbstverwaltung von Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Hingegen seien die Gespräche und auch weitere Treffen an der „Neuordnung der Wirtschaft“ gescheitert. Die Gewerkschaften hätten die Parität der Sozialpartner auf der überbetrieblichen und der betrieblichen Ebene als unteilbares Gesamtkonzept gefordert. Die Arbeitgeber/innenverbände hätten in Bezug darauf zwar in manchen Aspekten eingewilligt, jedoch die paritätische Beteiligung der Arbeitnehmer/innen in wirtschaftlichen Entscheidungen der Unternehmen entschieden abgelehnt. Während bei Beginn der Gespräche der Gedanke der Sozialpartnerschaft noch groß gewesen sei, sei er in den folgenden Jahren von harten Auseinandersetzungen abgelöst worden.

Ergänzt wurden diese Beiträge durch zwei nicht-deutsche Beispiele. KJELL Å. MODÉER (Lund) beschrieb den schwedischen Saltsjöbad-Vertrag von 1938 als zentralen Punkt einer Wende der bis in die 1930er-Jahre hinein stark konfrontativen schwedischen Sozialpartnerbeziehungen. Verschiedene Faktoren hätten eine Annäherung beider Seiten möglich gemacht, unter anderem ein größeres Konsensbewusstsein in Schweden im Allgemeinen (auch in Reaktion auf den Nationalsozialismus) und bei den Sozialpartnern im Besonderen – etwa aufgrund einer neuen Akteursgeneration bei diesen und in der Rechtswissenschaft – sowie ein allgemeines Wirtschaftswachstum. Jedoch seien beide Sozialpartner schließlich auch durch die seit 1932 amtierende sozialdemokratische Regierung gezwungen worden, in Verhandlungen zu treten. Diese hätten dann im zweiten Halbjahr 1938 in Saltsjöbad stattgefunden und seien mit einem großen Kompromiss in Form eines Vertrages geendet, der zahlreiche Aspekte des Arbeitslebens und des Arbeitskonflikts geregelt habe. Dieser Vertrag habe eine Periode der Harmonie in der Arbeitswelt sowie der Passivität des Gesetzgebers im Arbeitsrecht eingeläutet, die als „schwedisches Modell“ bis in die 1970er-Jahre hinein angedauert habe.

Den Schweizer Arbeitsfrieden der Metallindustrie von 1937 stellte THORSTEN KEISER (Frankfurt am Main) vor. In den Verhandlungen zu diesem hätten die Gewerkschaften den Arbeitgeber/innen weitreichende Zugeständnisse gemacht. Dabei sei jedoch zu beachten, dass die Arbeitnehmer/innenverbände zu dieser Zeit schwach gewesen seien und schon die Anerkennung als Verhandlungspartner als Erfolg zu werten gewesen sei. Der Arbeitsfrieden hätte ein mehrstufiges Verfahren zur Regelung von Arbeitsstreitigkeiten festgelegt, wobei in der Praxis überwiegend nur die erste Stufe, die betriebliche Verhandlung ohne Einbeziehung der Verbände, relevant gewesen sei. Die größte Bedeutung des Arbeitsfriedens sei jedoch die Einführung der absoluten Friedenspflicht gewesen. Schon kurze Zeit später sei der Arbeitsfrieden im Einklang mit gesellschaftlichen Auffassungen der Zwischenkriegszeit zum auf die Gemeinschaft und die Wurzeln der Schweiz rekurrierenden Nationalmythos geworden – und sei dies bis heute. Er habe ein Zusammenrücken der Sozialpartner in Friedenszeiten symbolisiert und sei auf die Bewahrung des Hergebrachten ausgerichtet gewesen, gerade auch in Abgrenzung zu den die Schweiz umgebenden Diktaturen.

Abschließend fasste MANFRED WEISS (Frankfurt am Main) zentrale Erträge der Tagung zusammen. Er betonte dabei, dass bei der Analyse von Sozialpartnervereinbarungen dem jeweiligen nationalen Kontext große Bedeutung zukomme – und zugleich die Verhältnisse so komplex und multikausal lägen, dass eindeutige Erklärungen schwierig seien. Ebenfalls sei die Vereinbarung einer umfassenden Arbeitsverfassung illusionär, jedoch könnten punktuelle Einigungen erreicht werden. Dann betrachtete er die Lage in anderen europäischen Ländern und auf der EU-Ebene, wo es teilweise – auch aktuell – andere Entwicklungen in Bezug auf Sozialpartnervereinbarung gebe. Er verwies auch auf die International Labour Organisation (ILO), die mit ihrer dreigliedrigen Struktur (Einbeziehung von Regierungen und Verbänden beider Arbeitsmarktparteien) Konventionen zur Arbeitsverfassung erzielte, jedoch durch die Erosion der Arbeitgeber/innenverbände und der Gewerkschaften vor Herausforderungen stehe.

Beim Zustandekommen von nationalen Sozialpartnervereinbarungen zur Arbeitsverfassung ist – so ein Ergebnis der Tagung – die jeweilige nationale politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Situation von entscheidender Bedeutung. So können Krisensituationen und der Mangel an arbeitsrechtlichen Regelungen zum Konsens und einer Vereinbarung der Sozialpartner führen, mitunter werden diese zu einer solchen Einigung aber auch durch die jeweilige nationale Regierung angehalten und direkt oder indirekt gezwungen. Während die auf der Tagung thematisierten Vereinbarungen bzw. Teile von diesen und die damit einhergehenden konsensualen Beziehungen der Sozialpartner manchmal nur von kurzer Dauer waren, besaßen sie in anderen Fällen eine lange Gültigkeit. Deutlich wurde, dass Sozialpartnerschaften erreicht werden konnten, der Weg dorthin aber häufig schwierig war und eine Vereinbarung mitunter auf tönernen Füßen stand.

Konferenzübersicht:

Thomas Duve (Frankfurt am Main): Eröffnung

Michael Kittner (Frankfurt am Main): Einführung in das Tagungsthema

Gerd Bender (Frankfurt am Main): Verbände machen Rechtsgeschichte. Das Stinnes-Legien-Abkommen

Achim Seifert (Jena): Das Hattenheimer Abkommen und seine Bedeutung für das Arbeitsrecht der frühen Bundesrepublik

Kjell Å Modéer (Lund): Der Saltsjöbad-Vertrag. Selbstregulierung im schwedischen Volksheim zwischen Konsensus und Vertragsautonomie

Thorsten Keiser (Frankfurt am Main): Dynamik durch Harmonie? Der Schweizer Arbeitsfrieden von 1937 im ideengeschichtlichen Kontext der Zwischenkriegszeit

Manfred Weiss (Frankfurt am Main): Zusammenfassung und Schlusswort


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