Kontinuität und Wandel von Vorsorgeregimen und Risikodebatten

Kontinuität und Wandel von Vorsorgeregimen und Risikodebatten

Organisatoren
Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS)
Ort
Freiburg im Breisgau
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2015 - 21.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Peggy Froese / Maike Fröhlich / Jakob Vetter, Institut für Germanistik, TU Dresden

Die Wahrnehmung und die Beurteilung von Risiken beherrschen seit Jahren nicht nur öffentliche Debatten, auch in der Alltagssprache werden Risiken vermehrt thematisiert, um eine breite Fülle von Situationen und Optionen zu bezeichnen, die als unsicher wahrgenommen werden. Spätestens seit Ulrich Becks Zeitdiagnose „Risikogesellschaft“ (1986) wird Risiko auch innerhalb der deutschsprachigen sozialwissenschaftlichen Forschung als explizit (post-)modernes Phänomen untersucht. Die interdisziplinäre Tagung versuchte bewusst, diese dominierende Annahme zu hinterfragen und auch vormoderne Risikophänomene und -debatten zu diskutieren. In fünf Sektionen wurden aus geschichtlicher, kulturwissenschaftlicher und soziologischer Perspektive verschiedene Dimensionen von Risiko beleuchtet: Neben ‚klassischen‘ Risikofeldern wie Technik, Versicherung und Vorsorge wurde auch das Verhältnis von Risiko und Körper sowie Risiko und Wissenschaft in den Blick genommen. Im Fokus standen dabei sowohl der Austausch über disziplinäre Methoden und Inhalte als auch der Dialog über Brüche, Wandel und Kontinuitäten von Risikodebatten.

Die Anglistin EVA VON CONTZEN (Freiburg) und der Historiker PETER ITZEN (Freiburg) betonten in ihrer Einführung das Potenzial von Risiko als interdisziplinäre Analysekategorie, mit deren Hilfe sich nicht nur eine Geschichte der Wahrnehmung von Ungewissheiten nachzeichnen lasse, sondern auch Funktionsweisen von Lernprozessen und Prozessen der Selbstvergewisserung. Außerdem warfen sie die Frage nach der Materialität von Risiken auf und stellten zur Debatte, ob und wie ‚Risiko‘ nicht nur als Analysekategorie, sondern auch als Untersuchungsgegenstand fruchtbar gemacht werden könne.

Den Auftakt der ersten Sektion bildete FRITZ DROSS‘ (Erlangen) Vortrag über den vormodernen Umgang mit Leprosen insbesondere in Nürnberg, der nicht nur die medizinische Umdeutung des biblischen lepra​-Begriffs aufzeigte, sondern auch den ambivalenten Status Aussätziger deutlich machte, denen im frühneuzeitlichen Almosenwesen eine funktionale Rolle zukam. Vor dem Hintergrund der Praxis der so genannten „Sondersiechalmosen“ – der Versorgung mehrerer hundert fremder Aussätziger im Zentrum der Stadt Nürnberg zur Karwoche – wurde zudem die zeitgenössische Risikokonstruktion im Umgang mit Aussatz dargestellt, die eben nicht nur das ‚Ansteckungsrisiko‘ fokussierte.

Medizinischen Risiken widmeten sich auch STELLA BUTTERs (Gießen) Ausführungen, allerdings aus literaturwissenschaftlicher Perspektive und mit Blick auf die Gegenwart. Sie zeigte an der Gattung des Medizinthrillers – exemplarisch erläutert an Robin Cooks Roman Cell (2014) –, wie in rezeptionsstarker Belletristik Risikokommunikation über Biopolitik stattfindet. Nach der Identifizierung genrespezifischer Merkmale (beispielsweise exakter medizinischer Terminologie, Laienfreundlichkeit, Komplexitätsreduktion etwa durch Verschwörungsplot und Dichotomisierungen) äußerte sie den 'paradoxen' Befund, dass die durch den Medizinthriller kritisierten und als riskant herausgestellten Biopraktiken durch ästhetische Strategien subtextuell gestützt werden, indem der Körper als Risikozone dargestellt wird und das Risiko ins Innere des Subjekts verlagert wird.

Auch KATHRIN REICHERTs (Darmstadt) Vortrag nahm gesundheitliche Risiken in den Blick, beschäftigte sich überdies mit den generellen Umweltrisiken, die von der chemischen Industrie ausgehen und seit den 1970er- und 1980er-Jahren zunehmend in den Fokus öffentlicher Debatten gerieten. Dabei wurde deutlich, dass institutionelle Lernprozesse bei chemischen Unternehmen zwar das Bewusstsein ökologischer Verantwortung fördern können, ein ‚Restrisiko‘ aber nicht eliminiert werden kann. Mit Blick auf ‚Unfälle‘ in der chemischen Industrie wurde außerdem gezeigt, dass hier keine radikalen turning points im Umgang mit chemischen Gefährdungsgütern ausgemacht werden konnten, aber ein erhöhtes subjektives Risikobewusstsein in der Bevölkerung wahrnehmbar ist, welches das Fortschrittsnarrativ im Umgang mit der chemischen Industrie nachdrücklich in Frage stelle.

Um ökonomische Risiken im weitesten Sinn und deren Prävention ging es in der zweiten Sektion des Workshops, die von JOANNA ROSTEK (Passau) eröffnet wurde. Ihre diskurshistorische Untersuchung der Ehe um 1800, also jener Zeit, in der bekanntlich das Konzept der Liebesheirat nachhaltig Verbreitung fand, ließ eine sehr frühe Quelle aus ‚weiblicher Feder‘ zu Wort kommen: Sarah Kirkham Chapones Pamphlet The Hardships oft he English Laws in Relation to Wives (1735). Entgegen der patriarchalen Deutung der Ehe als Vorsorgeregime weist Chapone kritisch auf die (nicht nur ökonomischen) Risiken der Eheschließung für die Frau hin, die diese faktisch entmachtete und in absolute Abhängigkeit vom Ehemann überführte.

Der Beitrag von ANNA MICHAELIS (Düsseldorf) befasste sich mit den Vorsorgepraktiken und -diskursen deutscher Juden im Kaiserreich, die sich gerade im ausgehenden 19. Jahrhundert mit spezifischen Herausforderungen konfrontiert sahen. Den Gefahren des zunehmenden rassistisch-biologistischen Antisemitismus bei einem gleichzeitigen massiven demografischen Wandel durch Emanzipation und Verbürgerlichung wurden so dank eines neuen Wissenstransfers vor allem im Bereich der Gesundheitspolitik ökonomische Maßnahmen entgegengehalten, welche eine strategisch geplante Zukunftsabsicherung erkennen lassen. So konnte am Beispiel der wohlfahrtlichen Aktivitäten im Umfeld der Berliner Jüdischen Gemeinde gezeigt werden, wie neues demografisch-medizinisches Wissen zur Durchführung von Kuraufenthalten für unterernährte jüdische Kinder genutzt wurde. Daneben gab es aber nach wie vor Bereiche, in denen das neue Wissen nicht zu einer Änderung in der Debatte führte, sondern vielmehr traditionelles Alltagswissen herangezogen wurde, um eben diesen antisemitischen Vorurteilen zu begegnen – so beispielsweise in der Ausgestaltung der Berufsumschichtung.

Die dritte Sektion widmete sich dem Themenfeld Risiko und Risikoabschätzung im Bereich der Kernenergie. KARENA KALMBACH (Berlin) konstatierte, dass es hinsichtlich der Katastrophe von Tschernobyl nach wie vor um ein so genanntes Angstmanagement gehe, dass Angst als Fortschrittskatalysator gebraucht werde und zugleich deren Eindämmung organisiert werden müsse. Es lasse sich dabei feststellen, dass das fortschreitende Lernen aus der Katastrophe nicht nur zu neuen Erkenntnissen führe, sondern auch das akute Nicht-Wissen evident mache. Nichtsdestotrotz dienten die Lehren aus Tschernobyl als Folie für den Umgang mit einer neuen nuklearen Bedrohung in Fukushima. Die Risikodebatte der Kernenergie werde vor diesem Hintergrund heute heftiger geführt als vor 29 Jahren direkt nach dem Unglück.

Eine andere Herangehensweise wählte CHRISTIAN GÖTTER (Braunschweig). Davon ausgehend, dass die seit den 1970ern ausgetragene Konfliktdebatte um die Sicherheitstechnologien und die immer detaillierteren Risikoberechnungen nicht maßgeblich für die Risikowahrnehmung der Anwohner eines Atomkraftwerkgebiets seien, könne Vertrauen als zentrale Kategorie in der persönlichen Risikobewertung angenommen werden. Die Untersuchung eines deutschen Standortes, in dessen Umfeld keinerlei Unfälle oder dergleichen passiert sind, führte zu der Erkenntnis, dass die Akzeptanz von Risiken abhängig vom Vertrauen in die Führungspersönlichkeiten sei, das – wie das gewählte Beispiel zeigte – bei als unzureichend empfundener Informationsvergabe nachhaltig erschüttert werden kann.

In der ersten Kommentarsektion stellte MARINA MÜNKLER (Dresden) zunächst dar, dass Risikokommunikation und Risikonarrative als zentrale Schnittmengen von Literaturwissenschaft und Geschichtswissenschaft zu betrachten sind. Anschließend führte sie im Theorie-Rekurs auf Luhmann aus, dass die Beiträge der ersten drei Sektionen primär Systemrisiken thematisierten, denen jeweils eine hohe Zukunftsrelevanz zugeschrieben wurde und wird. Die Beiträge hätten auch gezeigt, dass die Codierungen von Risiko stark differieren können. Risikokommunikation und Risikonarrative gestalteten sich dabei als stark vernetzte Einheit, die kaum zu separieren seien.

MARTIN KNOLL (Salzburg) führte in seinen kommentierenden Ausführungen den Begriff der ‚Risikospirale‘ ein und wies damit darauf hin, dass Unsicherheitsbewältigungsstrategien neue Unsicherheiten generieren. Die anschließende Diskussion betonte darüber hinaus die Pluralität und Multi-dimensionalität des Risikobegriffs, wobei gleichzeitig dessen Ideologiebehaftung hervorgehoben wurde.

Den Blick auf die historische Risikowahrnehmung als Ungewissheit richteten die Beiträge der vierten Sektion. Die Generierung von Sicherheit mit Hilfe eines globalen Informationsnetzwerkes stand dabei im Fokus von STEFAN GEISSLER (Heidelberg). Seine Untersuchungen der Lloyd’s List zeigten, dass im maritimen Bereich das Gefühl der Unsicherheit und die gleichzeitige Zunahme des wirtschaftlichen Risikos ein gesteigertes Sicherheitsbedürfnis entstehen ließen, welches wiederum sehr früh Ver- und Absicherungsmaßnahmen hervorbrachte. Die Risiken des Scheiterns und des Verlustes konnten so dank schneller Informationsbeschaffung und -weitergabe minimiert und der Vorteil gegenüber der Konkurrenz gestärkt werden. Dieser Umgang mit natürlichen Risiken und Gefahren besitze bis heute Relevanz.

Einen historischen Schwerpunkt hatte auch die Arbeit von TOBIAS HUFF (Mainz). Seine Ausführungen zu einem selbstreferenziellen Text eines mittelständischen Bauern des 18. Jahrhunderts zeigten, dass die risikoaverse Einstellung des Bauern hinsichtlich neuer technischer Entwicklungen und damit einhergehender ökonomischer Veränderungen das Überleben des Landwirts sicherten, gleichzeitig aber auch die Chance auf höhere Gewinne verhinderte. Der Text stellt gezielt traditionelle und moderne Methoden in der Landwirtschaft gegenüber und vergleicht diese hinsichtlich des Nutzens und Gewinns. Er ist damit ein frühes Paradebeispiel für ökonomische Risikokalkulation, als deren Resultat eine bewusste Entscheidung gegen die als ökonomisch riskant wahrgenommenen neuen Formen der Landwirtschaft gezeitigt wurde.

Dem Themenfeld Risiko und Wissenschaft widmete sich die fünfte Sektion. MARTIN SABLOTNY (Dresden) illustrierte am Beispiel von Mary Shelleys Roman Frankenstein die Funktion und die Strukturen literarischer Risikonarrative. In Anlehnung an Niklas Luhmanns Unterscheidung von Risiken und Gefahr zeigte er, wie der Roman den zeitgenössischen Wissenschaftsdiskurs aufgreift und in der Figur des Viktor Frankenstein als ‚mad scientist‘ bzw. ‚personifiziertes Systemrisiko‘ kumuliert. Besondere Bedeutung kam dabei der Polyperspektive zu, der sich Mary Shelly bedient: Diese Erzählhaltung befördere nicht nur die Reflexion der Risikowahrnehmung der Rezipientinnen und Rezipienten, sondern verweise auch zentral auf die generelle Diskrepanz zwischen Eigen- und Fremdwahrnehmung von Risiken.

MAX LIEBERMAN (Bern) beschäftigte sich im letzten Vortrag des Workshops mit den in der Geschichtswissenschaft bisher kaum beachteten Ansätzen der kognitiven Psychologie. Bereits 1979 wurde die sogenannte Neue Erwartungstheorie von Daniel Kahnemann und Amos Tversky vorgestellt, die es erlaubt, Entscheidungen in Situationen der Unsicherheit zu untersuchen. Die kognitive Psychologie geht demnach von der zunächst widersprüchlich erscheinenden Annahme aus, dass Verlustaversion zu einer erhöhten Risikobereitschaft führen könne. Den daraus resultierenden „Endowment-Effekt“ wies Lieberman anschließend in einem ersten Versuch anhand der GestaRegum des William of Malmesbury nach.

In der abschließenden zweiten Kommentarsektion skizzierte MICHAELA HOLDENRIED (Freiburg), ausgehend von der Prämisse ‚no risk – no literature‘, eine Literaturgeschichte des Risikos, wobei sie die literarische Gattung der Novelle als besonders risikoaffin kennzeichnete, da das gattungskonstitutive ‚unerhörte Ereignis‘ als Ausgangspunkt für Risikowahrnehmung anzunehmen sei. Epochenspezifisch dagegen habe sich beispielsweise der Naturalismus besonders mit sozialen Risiken und Risikofolgeabschätzungen auseinandergesetzt, während der Expressionismus die Urbanisierung als Risiko-Themenfeld explizierte. Obwohl Technikphänomene eine lange Tradition in der literarischen Darstellung haben, rücken sie als Technikrisiken schließlich zunehmend in der Literatur nach 1945 in den Blick, so beispielsweise in Christa Wolfs Störfall.

FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER (Freiburg) betonte abschließend noch einmal einige zentrale Aspekte, die in den Beiträgen zur Sprache kamen: So thematisierte er die kulturelle Prägung von Risikowahrnehmungen und Risikobegriffen und stellte fest, dass Diskussionen über eine ‚Risikogesellschaft‘ (Beck) eine Debatte sei, die primär in Deutschland geführt werde. Zudem hob er auf das Spannungsfeld von Diskurs und Realität in rezenten Risikodiskussionen ab, wobei er aber auch deutlich machte, dass sich eine Abgrenzung moderner und vormoderner Risikodiskurse als schwierig gestalten dürfte. Ferner ging er auf die Rolle von Informationsvermittlung und -beschaffung für Risikodiskurse ein und fragte, inwieweit ‚Normalitätsverletzungen’ konstitutiv für Risiken seien. Zuletzt wies er – am Beispiel des Begriffs ‚Restrisiko‘ – auf die semantischen Verschiebungen einschlägiger Begrifflichkeiten hin.

Insgesamt hat die Tagung eine Vielzahl verschiedenster Forschungsfelder beleuchtet, die mit der Kategorie ‚Risiko‘ bearbeitet werden können und deren interdisziplinäres Potenzial unterstrichen. In den Diskussionen wurden aber auch die Polysemie und Multidimensionalität des Risikobegriffs deutlich, die im interdisziplinären Dialog nochmals an Komplexität zuzunehmen scheint.

Konferenzübersicht:

Willkommen und Einführung: Eva von Contzen (Freiburg) und Peter Itzen (Freiburg)

Sektion I: Risiko, Krankheit und Körper
Chair: Sonja Levsen (Freiburg)

Fritz Dross (Erlangen): Un/Reinheit und Aussatz – Perspektiven auf ein mehrdimensionales Risikoformat der Vormoderne

Stella Butter (Gießen): Mörderische Nebenwirkungen: Riskante Körper im zeitgenössischen Medizin-Thriller

Kathrin Reichert (Darmstadt): Chemie als (potenzielles) Risiko – der Fall Sandoz

Sektion II: Risiko, Vorsorge und Versicherung
Chair: Kerstin Fest (Freiburg)

Johanna Rostek (Passau): Die Ehe um 1800 aus Sicht der Frau: Absicherung oder Risiko?

Anna Michaelis (Düsseldorf): Zwischen ‚traditioneller‘ Wohltätigkeit und ‚moderner‘ Sozialarbeit? Vorsorgepraktiken und -diskurse im Judentum des deutschen Kaiserreiches

Sektion III: Risiko und Risikoabschätzung
Chair: Thomas Zimmer (Freiburg)

Karena Kalmbach (Berlin): Was werden wir aus Tschernobyl lernen?

Christian Götter (Braunschweig): Von der Risikoberechnung zur Vertrauensfrage – Die deutsche Kernenergiedebatte am Beispiel des Kernkraftwerks Stade

Kommentarsektion I
KommentatorInnen: Marina Münkler (Dresden) und Martin Knoll (Salzburg)

Sektion IV: Risiko und (Un-)Gewissheit
Chair: Marco Tomaszewski (Freiburg)

Stefan Geissler (Heidelberg): Die Lloyd’s List als Global Intelligence Unit

Tobias Huff (Mainz): „…ob es einen guten oder schlimmen Fortgang gehabt…“: Beschreibungen von Risiko in der Hausväterliteratur des 18. Jahrhunderts

Sektion V: Risiko und Wissenschaft
Chair: Stefan Seeber (Freiburg)

Martin Sablotny (Dresden): Innovation und Wahnsinn: Der ‚mad scientist‘ als personifiziertes Systemrisiko

Max Lieberman (Bern): Risikowahrnehmung im Mittelalter: Ein Versuch in kognitiver Geschichtswissenschaft

Kommentarsektion II und Abschlussdiskussion
KommentatorInnen: Michaela Holdenried (Freiburg) und Franz-Josef Brüggemeier (Freiburg)