Imitation als Killer-App? Erfolgs- und Misserfolgslogiken einer Kulturtechnik im Mittelalter

Imitation als Killer-App? Erfolgs- und Misserfolgslogiken einer Kulturtechnik im Mittelalter

Organisatoren
DFG-Netzwerk: "Imitation. Mechanismen eines kulturellen Prinzips im Mittelalter"
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2015 - 14.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Susanne Knaeble, Universität Bayreuth

Auf der Tagung des von der DFG geförderten Netzwerks Imitation wurde die innerhalb der Forschergruppe anhaltende Diskussion um soziokulturell bestimmte Formen der Imitation im Mittelalter fortgeführt. Im Zentrum steht hierbei die Frage nach dem Phänomen der Imitation im Mittelalter, das über ein enges Verständnis im Sinne des semantischen Gehalts von imitatio weit hinaus reicht. Das Netzwerk definiert Imitation als ein kulturelles Narrativ, d.h. als einen bewussten Akt prozesshafter Nachahmung, den es anhand von historischen Quellen, aber auch anhand von kulturellen Praxen und Diskursen zunächst einmal beobachtbar zu machen und daraufhin zu analysieren gilt. Dem Ziel der Tagung, auf welcher die jeweiligen Vorträge durch einen Kommentator zielgerichtet für die Diskussion perspektiviert wurden, entsprach die phänomenologische Reflexion von Imitation in zwei Richtungen: im Hinblick auf die Intention (was wird warum imitiert?) sowie die Wirkung (was wird durch die Imitation repräsentiert bzw. welche Effekte erzielt die Imitation?).

In seinem Eröffnungsvortrag stellte LUKAS CLEMENS (Trier) die Vielfalt und den Bedeutungsreichtum von Romimitationen nördlich der Alpen vor. Dabei konnte er zeigen, dass in diesem Raum nicht nur römische Techniken und Materialen auf ornamentaler Ebene in antiker Tradition verwendet wurden sowie ganze Spolienensembles das Vorbild Rom versinnbildlichten, sondern vielmehr führte er auch zahlreiche Beispiele an, die belegen, dass Rom ebenso auf sakral-topographischer Ebene als Vorbild fungierte. In Konstanz zum Beispiel ebenso wie auch in Trier und Lüttich würden schriftliche Quellen und Grabungsbefunde zeigen, wie versucht wurde, ähnliche Sakrallandschaft wie in Rom zu schaffen (Hügel, Lage der Kirchen, Reliquien derselben Heiligen, Nachbenennung von Kirchen). Die Imitation der imitatio Romae sei sehr früh bereits selbst imitiert worden, indem sich andere Städte eben nicht unmittelbar auf Rom bezogen hätten, sondern ihnen eben zum Beispiel die Romimitation Triers als Vorbild gedient habe. Grundsätzlich sei es allerdings auch schwer zu unterscheiden, ob mit der Imitation bewusst auf Rom zurückgegriffen wurde oder nicht vielmehr die Anbindung an die „einheimische Antike“ gesucht wurde.

Am Folgetag eröffneten GERALD SCHWEDLER (Zürich) und JÖRG SONNTAG (Dresden) die Reihe der Vorträge mit einer methodischen Hinführung zum Thema der Tagung. Anhand von drei Beispielen veranschaulichte Gerald Schwedler zunächst die Schwierigkeit, die Dynamiken des Imitierens methodologisch greifbar zu machen. Hierzu formulierte er drei Beobachtungen, die er anschließend zu Thesen verdichtete: Erstens könne es vorkommen, dass eine Handlungsweise oder eine Technik über Jahre, vielleicht auch über Jahrzehnte hinweg imitiert würde, ohne dass sich Hinweise auf eine kritische Reflexion erhalten hätten. Dies sei beispielsweise der Fall in der mit einem vermeintlichen Erstbeleg von 1280/90 verfassten Wimpfener Chronik für die Stiftskirche St. Peter zu Wimpfen, in welcher der Bau als opus francigenum bezeichnet wird. Zweitens lasse sich anhand spezifischer Beispiele zeigen, dass auch im Mittelalter Originalität und Innovation unter scharfer Beobachtung der Zeitgenossen gestanden habe, wenn zum Beispiel etwa Berengar von Poitiers, ein Schüler Peter Abaelards, dessen Widersacher Bernhard von Clairvaux mit dem Vorwurf konfrontierte, ein Plagiator zu sein. Drittens hätten im Mittelalter auch Ansätze zu einer Theorie der Imitation existiert, die sich auf Basis überlieferter antiker Überlegungen entwickeln konnten. Es lasse sich schließlich zeigen, dass das Ideal den richtigen Vorbildern nachzustreben gewichtiger gewesen sei, als Neues erschaffen zu wollen. Dies veranschauliche im Besonderen die vielfache Rezeption der Bienenmetapher, nach welcher die Biene von vielen Blüten, d.h. von vielen Autoritäten, Nektar sammle, um den eigenen Honig zu produzieren.

JÖRG SONNTAG oblag die Aufgabe, Funktion und Semantik des Imitationsbegriffs zu erläutern, wobei er den methodologischen Zugriff des Netzwerks markierte, das Imitation im Sinne einer bewussten, aktiven Imitierung von ontischen Größen (Personen oder Gegenständen) ebenso wie von Ideen, Handlungen und Techniken begreift. Zu diesem Zweck formulierte er Abgrenzungen zu verwandten Phänomenen wie etwa der Allegorie, dem Exempel, dem Topos, der renovatio, des Mythos sowie der auctoritas (im Allgemeinen) und der (speziell exegetisch relevanten) Funktionen von Typik und Atypik des Alten und Neuen Testaments. Sonntag benannte des Weiteren unterschiedliche „Bestimmungskanäle“ von Imitation (z.B. Techniken, Quantitäten und Intensitäten, „magische“ Qualitäten, Wahrnehmungsspezifika), über welche Nachahmungen Wirkung entfalten könnten. Seine Ausführungen band er abschließend in Reflexionen zur europäischen Gesellschaft des Mittelalters ein, in der nicht nur „Selbstfindung über Ent-Selbstung funktionieren“ könne, sondern überhaupt der Kraft des Illusorischen ein kulturtragender Stellenwert zukäme.

CHRISTOF ROLKER (Konstanz) stellte in seinem Vortrag Muster und Vorbilder bei der Namensvergabe auf der Basis von Taufregistern und Familienbüchern südlich und nördlich der Alpen vor. Dabei ging es ihm weniger um spektakuläre Umbenennungen und Namensimitationen, wie sie etwa im Kontext von Bekehrungsmomenten oder bei königlicher Amtsübernahme erfolgten, sondern um Praktiken aus dem Bereich des familiären Umfelds. Rolker beleuchtete Schwierigkeiten der Umbenennung unter anderem anhand eines Beispiels aus der Zimmerschen Chronik aus dem 15. Jahrhundert, worin ein Sohn Heinrich nach dem Großvater Ulrich umbenannt wurde, sich jedoch die damit verbundenen Erwartungen nicht erfüllten.

In der Funktion des Kommentators stellte JÖRG ROGGE (Mainz) Bereiche unterschiedlicher Imitationsintensivität heraus und unterstrich die spezifische Handhabung von Imitationsmodellen im kirchlich-klösterlichen, urbanen und herrschaftlichen Kontext. Insbesondere für den herrschaftlichen Bereich betonte er, dass etwa in Schottland dem Namen eine geradezu magische Dimension zugeschrieben worden sei. Ein König habe eben nicht nur „Robert“ heißen, sondern sich auch als „ein Robert“ – wie einst Robert Bruce als imitierungswürdiger Kämpfer – auf dem Thron beweisen müssen.

FLORIAN HARTMANN (Bonn) postulierte für die hoch- und spätmittelalterliche Imitationskultur ein Forschungsdefizit im Bereich der Briefsteller und artes dictaminis Italiens. In zahlreichen Editionen sei nicht auf Imitationen bzw. Imitationsketten von Textstellen und Formulierungen von Briefstellern verwiesen. Insgesamt sei aber auch die Briefliteratur des Mittelalters trotz ihrer breiten Überlieferung noch wenig ediert. Für die Ausbildung von Kanzlisten und Schreibpersonal stelle Imitieren geradezu die Leitkategorie dar, deren Beherrschung für das Abfassen von Briefen und Urkunden von höchstem Wert gewesen sei. Imitieren sei derart als formgebendes Prinzip anerkannt gewesen, dass sogar das entgegengesetzte Prinzip des Variierens als eine Unterkategorie des Imitierens begriffen worden sei. Als Gewährsmann für seine These zog Hartmann Boncompagno von Bergamo heran, der in seiner Rhetorica Nova formulierte: Variatio est inventionis precipua imitatrix.

Im Kommentar des Beitrags verwies MICHAEL MATHEUS (Mainz) auf eine paradigmatische Wende im mittelalterlichen Kommunikationsverhalten und der Briefkultur durch die päpstliche Kanzlei. Der reflektierte Umgang mit Zitaten und weiterführende epistolographische Traditionen sowie die stete Wiederverwendung von als klassisch erachteten Zitaten hätten mit Gregor VII. zu einem Umbruch geführt, nach welchem in der westlichen Christenheit dem Heiligen Stuhl absolute Vorbildlichkeit für die Briefliteratur zugekommen sei. Bestimmte Schriftstücke, wie etwa Universitätsgründungsprivilegien, hätten hiernach immer wieder nach denselben Formulierungen verlangt. Er schloss, dass es letztlich nur durch die Autorität des Papstes möglich gewesen sei, eine jahrhundertelang geläufige Imitationspraxis zu ändern und neue Vorbilder einzuführen.

Am Beispiel des Bußbuches des Bischofs Burchard von Worms diskutierte BIRGIT KYNAST (Mainz) eindrücklich die Kraft alttestamentlicher Vorbilder für den Bereich der praktischen Kirchenbuße. Sie rekurrierte dabei unter anderem auf die Vertreibung Adams aus dem Paradies sowie einen dem König David zugeschriebenen Bußpsalm und auch auf von Ninive und anderen Urbildern abgeleitete Bußtechniken. Das Imitationskonzept beziehe sich im Bereich der Bußpraxis insbesondere auf die Aufgabe des Priesters, eine passende Buße für den Sünder zu finden, wobei Kynast die Rolle Christi als Medicus hervorhob, derer sich der absolvierende Priester als Seelenarzt zumindest mental bestmöglich imitativ annähern sollte.

ERNST DIETER HEHL (Mainz) untermauerte in seinem anschließenden Kommentar nachdrücklich, wie sehr äußeres Tun und inneres Bewusstsein im Mittelalter grundsätzlich verbunden seien, und sich Letzteres auch nur schwer in den Quellen fassen ließe. Das Problem der Verknüpfung von Äußerem und Innerem sei aber relevant, wenn nach bewussten Imitationen gesucht würde. Für die Diskussion warf er die Frage auf, ob sich nicht nur äußerliche Dinge imitieren lassen könnten, ob innere Haltungen überhaupt imitierbar seien.

ANDREAS BIHRER (Kiel) zog zwischen dem theoretischen Zugang des Netzwerkes und der aktuellen Kulturtransferforschung methodologische Parallelen. Hierbei beschäftigte er sich mit grundlegenden Fragen, um auch eine genauere inhaltliche Trennschärfe des Imitationsbegriffs zu ermöglichen. So fragte er, ob Imitation mit Transformation, Adaption und produktiver Rezeption gleichgesetzt werde solle, ob Differenzabstände zum Imitationsobjekt eigentlich präzise beschrieben werden könnten, welcher räumliche Geltungsbereich dem kulturellen Prinzip der Imitation im Mittelalter zukäme, und insbesondere warf Bihrer die produktive Frage auf, welches Bild vom Mittelalter eigentlich durch welche Vorstellung von Imitation erschaffen würde.

Als Kommentator formulierte LUDGER KÖRNTGEN (Mainz), dass die Zugkraft des Imitationsbegriffs gerade in der Abgrenzung zu anderen Konzepten wie Adaption usw. liege. Er stellte in Frage, ob Imitation in Prozessen des Kulturkontakts überhaupt feststellbar sei, da diese doch eher an feste Identitäten geknüpft sei. Er betonte, dass Imitation als ein Prozess der Entwicklung, im Sinne einer allmählichen Veränderung zu verstehen sei, und man letztlich nur imitieren könne, solange der Kontakt nicht so eng sei. Als Beispiel verwies Körntgen auf die Byzanzimitationen, mit welchen man schließlich nicht Byzanz, sondern in erster Linie sich selbst beeindruckt habe.

An die Vorträge, Kommentare und Diskussionen schlossen sich gemeinsame Überlegungen zur Erarbeitung einer Anthologie an, in welcher aussagekräftige Texte des Mittelalters zum Akt des Imitierens sowie der expliziten Reflexion dessen zusammengestellt werden sollen.

Konferenzübersicht:

Öffentlicher Abendvortrag im Römisch-Germanischen Zentralmuseum

Lukas Clemens (Trier): Roma Altera Roma, Rome soror, Roma secunda – Romimitationen in mittelalterlichen Städten

Gerald Schwedler (Zürich) und Jörg Sonntag (Dresden): Methodische Hinführung

Christof Rolker (Konstanz): Gleiche Namen, gleiches Wesen. Praktiken der Nachbenennung im spätmittelalterlichen Europa

Kommentar: Jörg Rogge (Mainz)

Florian Hartmann (Bonn): Imitatio als Prinzip der Lehre? Muster und Beispiele in den italienischen Brieflehren des 13. Jahrhunderts

Kommentar: Michael Matheus (Mainz)

Birgit Kynast (Mainz): „sicut Adam proiectus est de paradiso“. Imitation und Buße

Kommentar: Ernst-Dieter Hehl (Mainz)

Andreas Bihrer (Kiel): Transformation, Adaption, Rezeption – Imitation? Nachfragen aus der Perspektive der Kulturtransferforschung

Kommentar: Ludger Körntgen (Mainz)

Interne Diskussion zur geplanten Quellenanthologie


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