Alternativentwürfe. Aufbruchsversuche in Wissenschaft und Hochschule seit den 1960er-Jahren

Alternativentwürfe. Aufbruchsversuche in Wissenschaft und Hochschule seit den 1960er-Jahren

Organisatoren
a.r.t.e.s. Graduate School for the Humanities Cologne, Research Lab „Transformationen des Wissens“; Historisches Institut, Universität zu Köln
Ort
Köln
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.12.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Christian Holtorf, Wissenschafts- und Kulturzentrum, Hochschule Coburg

Hochschulreformen sind im Grunde Routineangelegenheiten. Das liegt nicht nur daran, dass es in der Regel sehr lange dauert, um Abläufe und Strukturen an einer Hochschule zu erneuern - die grundgesetzlich verankerte Freiheit von Forschung und Lehre verhindert das politische Durchregieren. Es hat auch damit zu tun, dass die Freiheit der Wissenschaft selbst eine lange Tradition von Bildungsreformen hervorgebracht hat, die durch Kontinuitäten gekennzeichnet ist.

Im Kontext kritischer Auseinandersetzungen mit dem Bologna-Prozess ist heute häufig von der Förderung von Interdisziplinarität und Persönlichkeitsbildung, von Projektlehre und gesellschaftlicher Verantwortung die Rede. Dafür hat Dieter Lenzen, Präsident der Universität Hamburg, die kompakte Formulierung gefunden, dass die Universität „sich, neben der Presse und der Kultur, als vierte Gewalt verstehen und deshalb Öffentlichkeit zum Prinzip erheben“ 1 solle. Nicht nur Lenzens an die Studentenbewegung erinnernder Ton, sondern auch sein ergänzender Hinweis auf Humboldts Ziel der „allgemeinen Menschenbildung“ verweisen bereits auf historische Anknüpfungspunkte.

In Köln hat jetzt ein Workshop stattgefunden, der die Erfahrungen mit hochschulpolitischen Alternativentwürfen seit den 1960er-Jahren diskutiert hat. Tatsächlich haben viele der Reformstichworte von heute bereits eine längere Vorgeschichte, die der Workshop anhand von acht Fallbeispielen nicht nur nach ihren methodischen Ansätzen, sondern auch nach den jeweils verwendeten medialen Gestaltungsformen sowie nach den Milieus befragt hat, aus denen sie stammten. Dafür haben die beiden Tagungsleiterinnen SUSANNE SCHREGEL und BERIT SCHALLNER (beide Köln) ein “Moment der Distanzierung gegenüber dem Bestehenden“ betont, das historisches Denken auszeichnet und selbst der Bildung dient.

Der Philosoph und Schriftsteller Peter Bieri hat diese „Fähigkeit, die eigene Kultur aus einer gewissen Distanz heraus zu betrachten“ 2 zu einem Kennzeichen von Bildung erklärt. Weil alles auch hätte anders kommen können, liege im „Bewusstsein historischer Zufälligkeit“ 3 ein Bildungsziel. Auch Dieter Lenzen forderte eine Lehre, die „immer historisch“ ist und „die Geschichtlichkeit des scheinbar Sicheren thematisieren“ 4 müsse. Beide stellen sich damit in Opposition zu jüngeren Bildungszielen, die vermehrt „in Richtung Sinnsuche und Therapie gehen“ 5, wie der Soziologe Armin Nassehi schon 2001 weitsichtig bemerkt hat. Die neuen Angebote würden „an der Totalität einer individuellen Befindlichkeit“ ansetzen und daher „nicht auf Distanz (...), sondern auf die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt“ 6 zielen. Diese Veränderung der Nachfrage bildet veränderte gesellschaftliche Bedingungen ab, wie sie auch die Bologna-Reform selbst verkörpert. Solche Zusammenhänge zu erkennen, ist ein Potential der Geschichtswissenschaft, das, wie der Kölner Workshop deutlich gemacht hat, von aktuellen hochschulpolitischen Alternativentwürfen mehr als bisher genutzt werden sollte.

Besonders prägnant hat im letzten Beitrag des Workshops ANNA GROEBEN (Hamburg) die Chancen der Historisierung am Beispiel des Trends zum Service Learning zusammengefasst. Was erst vor wenigen Jahren an deutschen Hochschulen Einzug gehalten hat, wurde schon Ende der 1960er-Jahre in den USA entwickelt, um ehrenamtliches Engagement mit akademischer Lehre zu verbinden. Entwickelt als Antwort auf Forderungen nach höherer praktischer Relevanz und mehr aktiven Gestaltungsmöglichkeiten im Studium, ist die weitere Entwicklung jedoch eher diskontinuierlich verlaufen. Denn was in der US-amerikanischen Tradition schwacher Staatsregulation und starken Privatengagements als freiwilliges Zusatzangebot begann, wurde in den 1970er- und 1980er-Jahren mit Leistungspunkten belohnt und reduzierte sich auf die Förderung der „Employability“ von Studierenden. Erst danach wuchs die Orientierung an bürgerschaftlichem Engagement wieder an. Groeben plädierte dafür, diese normative Vorgeschichte und die damit verbundene Frage, ob es angemessen ist, “touchy-feely“-Selbsterfahrungen zum Gegenstand eines akademischen Studiums zu machen, bei heutigen Adaptionen mitzubedenken.

Doch während Fragen der Ökonomie und Mitbestimmung an Hochschulen heute kaum öffentlich diskutiert werden, standen sie in den 1960er- und 1970er-Jahren im Mittelpunkt der Reformen. In dieser Zeit wurde eine Reihe neuer Universitäten (wie in Bielefeld, Bochum und Konstanz) gegründet und der Typus der Fachhochschule entwickelt. Darauf aufbauend gab der Wissenschaftsrat im Jahr 1970 funktionalistisch-technokratische Empfehlungen „zur Struktur und zum Ausbau des Bildungswesens“ heraus, die OLAF BARTZ (Köln) vorstellte. Der Wissenschaftsrat arbeitete dabei auf der Grundlage von Zukunftsprognosen und vertraute auf die Planbarkeit gesellschaftlicher Entwicklungen. Er versuchte, den künftigen Bedarf an Hochschulabsolventen zu quantifizieren und das Hochschulsystem entsprechend darauf auszurichten. Dafür schlug der Wissenschaftsrat vor, „integrierte Gesamthochschulen“ für möglichst passgenaue Absolventinnen und Absolventen einzurichten. Der Vorschlag entsprach den Normen der damaligen Zeit, so Bartz, doch die Planungseuphorie verebbte schnell wieder.

Die vielfältigen Bildungsutopien manifestierten sich nicht zuletzt auch an Kunstakademien. Der Widerspruch der Hochschulausbildung zwischen freier Entfaltung der Persönlichkeit und Orientierung an gesellschaftlichem Erfolg wurde hier auch in den künstlerischen Arbeiten selbst zum Ausdruck gebracht. Zwei Beispiele stellte THERESA NISTERS (Paris) in ihrem Vortrag in den Mittelpunkt: Jörg Immendorff und Chris Reinecke gründeten 1968 die dadaistisch beeinflusste LIDL-Akademie (die nichts mit der gleichnamigen Supermarktkette zu tun hat, die diesen Namen erst später erhielt). Als demokratische Arbeitsplattform für den freien Austausch von Ideen wandte sich LIDL gegen die Hierarchisierung von Wissen. Prompt protestierten Professoren anderer Fachbereiche gegen die Gründung der „Gegeninstitution“ an der Düsseldorfer Kunstakademie. 1970 löste sie sich auf. Das zweite Beispiel, die fiktive „Académie Worosis Kiga“, wurde 1976 von Gérard Gasiorowski ins Leben gerufen. Er parodierte mit der Akademie die Arbeitsformen und -rituale von Kunsthochschulen. Aufgabe der Studierenden war es, jedes Jahr einen Hut zu zeichnen. Kreativität und Autonomie der Kunst standen hier gegen ihre gesellschaftliche Funktionalisierung. Die Künstler stellten die Frage, ob Freiheit und Kreativität lehrbar sind - und wenn ja, wie.

Der Entwurf von alternativen wissenschaftlichen Ausbildungen betrifft naheliegenderweise aber nur zu einem kleinen Teil den Umbau von kompletten Hochschulen und sehr viel häufiger die konkrete Ausrichtung von Forschung und Lehre. Mit diesem Kapitel beschäftigte sich der zweite und größte Teil des Workshops.

Zunächst zeigte WILFRIED RUDLOFF (Mainz), dass über mangelnde Qualität der Lehre schon in den 1970er-Jahren diskutiert wurde. Gegen den damals üblichen Frontalunterricht und die Monologe von Ordinarien, aber auch gegen den Vorschlag, die Studiendauer zu verkürzen, wandten sich Studentenbewegung und Bundesassistentenkonferenz mit dem Vorschlag eines „Projektstudiums“. Die Projekte sollten gesellschaftsrelevante Themen behandeln, die Studierenden selbst an Forschungsprozessen beteiligen und die Fachgrenzen dabei interdisziplinär überschreiten. Lehrreich ist besonders, woran diese Initiative scheiterte: die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen erforderte einen zu hohen organisatorischen Mehraufwand, andere Universitäten und Bundesländer drohten damit, Abschlüsse solcher Studiengänge nicht anzuerkennen, schließlich überwog auch bei den Studierenden eine Berufsaussicht das Reforminteresse.

Zu den Interessen der Studentenbewegung gehörte jedoch immer die Erhöhung der Chancengleichheit im Bildungswesen. Der Optimismus war groß, durch bessere Bildung auch soziale Durchlässigkeit fördern zu können. Als wissenschaftliche Antwort auf den gesellschaftlichen Aufbruch wurde, so SINDY DUONG (Berlin), eine empirische Hochschulforschung begründet. Doch obwohl sich schon Mitte der 1970er-Jahre auch Sozialhistoriker wie Hartmut Kaelble und Hochschulforscher wie Ulrich Teichler mit Analysen zur sozialer Öffnung der Hochschulen beschäftigten, hat die empirische Hochschulforschung die historischen Perspektiven seitdem vernachlässigt. Duong fragte, ob sich dadurch die bis heute in Deutschland bestehende geringe soziale Mobilität im Bildungswesen miterklären lässt. Das Beispiel zeigt jedenfalls, wie eng Wissenschaft und Gesellschaft zusammenhängen.

Dass drängende gesellschaftliche Probleme ganz unterschiedliche Zugänge in die Wissenschaften finden konnten, führte MARTIN LÖHNIG (Regenburg), der per Skype zugeschaltet war, am Beispiel der juristischen Publizistik vor. Der Alternativkommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch, der zwischen 1979 und 1990 in sechs Bänden erschienen ist, werde heute kaum noch beachtet. Sein Herausgeber Rudolf Wassermann, kein Professor, sondern Präsident des Braunschweiger Oberlandesgerichts, stellte darin die historische Bedingtheit des Rechts und seine sozialen, wirtschaftlichen und politischen Prämissen in den Vordergrund. Viele seiner Gedanken seien heute Allgemeingut, sagte Löhnig, doch eine zweite Auflage ist nie erschienen. Dagegen konnte sich die Zeitschrift „Kritische Justiz“ fest etablieren: aus einem Blatt, das Fragestellungen der Kritischen Theorie aufgriff und mit der Aufarbeitung der nationalsozialistischen Geschichte der Rechtswissenschaft verband, sei heute eine menschenrechtlich orientierte liberale Zeitschrift geworden, die sich neuen sozialen Bewegungen angepasst und dadurch überlebt habe.

Während die „kritische Justiz“ kein Vorreiter für Frauenrechte war, führte BERIT SCHALLNER (Köln) mit einem praxeologischen Ansatz die Überlegungen früher Feministinnen wie Gerda Lerner und Karin Hausen im transatlantischen Vergleich vor. Die Historikerinnen setzten sich dafür ein, Frauengeschichte respektabel zu machen und Archive und Quellenmaterial für neue Fragestellungen zu öffnen. Zugleich sollte der Zugang von Frauen zu Bildung und Hochschule erleichtert werden. Doch die Entwicklungen in den USA und Deutschland verliefen unterschiedlich: In den USA wurde Diskriminierung durch Rassismus breit diskutiert, so dass die gesellschaftliche Debatte von Frauenhistorikerinnen nur um eine weitere Kategorie erweitert zu werden brauchte. In Deutschland baute die Frauengeschichte dagegen auf die Bielefelder Sozialgeschichte auf und knüpfte - weniger radikal - an die Analyse historischer Sozialstrukturen an.

Im dritten und leider kürzesten Teil des Workshops wurden Aktionen von Studierenden beleuchtet. Neben der bereits erwähnten Geschichte des Service Learning zwischen bürgerschaftlichem Engagement und eigenem Studienerfolg, stellte MORVARID DEHNAVI (Hamburg) den „Aktiven Streik“ von Frankfurter Studierenden der Erziehungswissenschaft im Wintersemester 1968/69 vor. Statt die Lehrveranstaltungen zu besuchen, diskutierten die Studierenden alternative Lehr- und Lernmöglichkeiten. Dehnavi fragte, ob die Studentenbewegung dabei mehr Katalysator für sozialwissenschaftliche Fragestellungen und Methoden als Initiator struktureller Wandlungsprozesse war, und stellte ihr Forschungsprogjekt vor, Vorlesungsverzeichnisse der Universität Frankfurt nach Spuren der neuen Ansätze zu durchsuchen.

Sozialhistorische und sozialwissenschaftliche Ansätze bestimmten den Workshop auch im Ganzen. Er hat dadurch bereits am eigenen Beispiel gezeigt, dass die wissenschaftlichen und hochschulpolitischen Aufbrüche seit den 1960er-Jahren nicht folgenlos geblieben sind. Zugleich hat er ein weites Themenfeld umrissen, das historiografisch auch deswegen ergiebig scheint, weil es so vielfältig und komplex ist. Weiterer Forschungsbedarf etwa zur Geschichte zentraler Begriffe, zu unterschiedlichen Fachkulturen und unterschiedlichen Ländern im Vergleich oder auch zur Bauplanung neugegründeter Universitäten wurde in der Abschlussdiskussion festgestellt. Interessant wäre es auch, den Experimentalcharakter der einzelnen Initiativen noch stärker zu beachten und genauer nach den Motiven der handelnden Personen, den Reaktionen auf ihre Vorschläge und der Dynamik des Verlaufs zu fragen.

Dass an keiner Stelle des Workshops die Diskussion über „Utopien“ eine ausdrückliche Rolle spielte, ist kein Zufall. Gerade in der Vermeidung von vereinheitlichenden Schlussfolgerungen (Master-Erzählungen) und einer Differenzierung konkreter Sachverhalte liegen vielmehr die Potentiale historischer Untersuchungen für die wissenschaftliche Selbstreflexion. Die Geschichte selbst bietet ein nahezu unerschöpfliches Reservoir an „Alternativentwürfen“. Die Beiträge und Diskussionen des produktiven Workshops haben deutlich gezeigt, dass die Beschäftigung mit Geschichte aktuelle Hochschulreformen kritisch begleiten und dadurch zu einem elementaren Bestandteil angewandter Zukunftgestaltung werden kann.

Konferenzübersicht:

Begrüßung: Susanne Schregel, Berit Schallner (Köln)

Panel I: Hochschulentwürfe
Chair: David Sittler (Köln)

Olaf Bartz (Köln): Die funktional differenzierte integrierte Gesamthochschule. Ein „technokratisches“ Hochschulreformprojekt aus dem Jahr 1970

Theresa Nisters (Köln): Akademiefiktion als Strategie künstlerischer Institutionenkritik um 1970

Panel II: Alternative Modi der Wissensproduktion
Chair: Ralph Jessen (Köln)

Wilfried Rudloff (Mainz): Projektstudium. „Forschendes Lernen“ als Studienreformkonzept

Sindy Duong (Berlin): Entstehung und Disziplinierung von alternativem Wissen über sozialen (Nicht-)Aufstieg, ca. 1965–1990

Fortsetzung Panel 2: Alternative Modi der Wissensproduktion
Chair: Susanne Schregel (Köln)

Martin Löhnig (Regensburg): Alternativentwürfe in der juristischen Publizistik

Berit Schallner (Köln): “…the primary tool of women’s emancipation.“ Frauengeschichte als politische Praxis in USA und BRD, 1965–1989

Panel 3: Aktivistisches Lernen und Lehren
Chair: Haydée Mareike Haass (Köln)

Morvarid Dehnavi (Hamburg): „Aktiver Streik“. Initiierung alternativer Lehr- und Lernveranstaltungen durch Studierende und ihre Auswirkungen am Beispiel der Universität Frankfurt (Mitte 60er bis Mitte 70er)

Anna Groeben (Hamburg): Service Learning in den USA als Bestärkung der Third Mission von Universitäten, 1967–1990

Schlussdiskussion

Anmerkungen:
1 Dieter Lenzen, Humboldt aufpoliert. Kann ein Studium Bildung und Ausbildung zugleich sein? Ja!, in: Die Zeit 15.3.2012, S. 77.
2 Peter Bieri, Wie wäre es, gebildet zu sein?, in: Heiner Hastedt (Hg.), Was ist Bildung?, Stuttgart 2012, S. 228-240, hier S. 232.
3 Ebd.
4 Lenzen, Humboldt, S. 77.
5 Armin Nassehi, Beratung, Orientierung, Bestätigung. Erwachsenenbildung zwischen Wissensvermittlung, Sinnsuche und Therapie, in: Heiner Barz / Susanne May (Hrsg.), Erwachsenenbildung als Sinnstiftung? Zwischen Bildung, Therapie und Esoterik, Bielefeld 2001, S. 12-20, hier S. 14.
6 Nassehi, Beratung, S. 17.


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