Männlichkeitenforschung. Bilanz und Perspektiven

Männlichkeitenforschung. Bilanz und Perspektiven

Organisatoren
Arbeitskreis für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung – Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften (AIM GENDER); Referat Geschichte der Akademie der Diözese Rottenburg-Stuttgart
Ort
Stuttgart-Hohenheim
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.12.2015 - 12.12.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Pierre Pfütsch, Institut für Geschichte der Medizin der Robert Bosch Stiftung

Anlässlich der nunmehr bereits 10. Tagung des 1999 gegründeten Arbeitskreises für interdisziplinäre Männer- und Geschlechterforschung – Kultur-, Geschichts- und Sozialwissenschaften (AIM Gender) setzte man sich zum Ziel, Bilanz zu ziehen und Perspektiven zu eröffnen. Um dies einlösen zu können, wurde von den Veranstaltern ein großer Kreis an etablierten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern als Referenten gewonnen. Im Zentrum der Tagung standen daneben aber auch Fragen zum Status quo der Männlichkeitenforschung in Deutschland.

Nach der Eröffnung der Tagung durch PETRA KURZ (Referentin der Akademie, Stuttgart) führte MARTIN DINGES (Stuttgart) in die Thematik ein, indem er sowohl die Geschichte des Arbeitskreises als auch die der Männlichkeitenforschung kurz Revue passieren ließ. In den Jahren seines Bestehens habe sich der Arbeitskreis zu einem festen Bestandteil der deutschsprachigen Männlichkeitsforschung entwickelt, der durch seine Tagungen immer wieder Akzente gesetzt habe. Dabei hob Dinges insbesondere die interdisziplinäre Ausrichtung hervor, die oftmals zu neuen Denkanstößen in den einzelnen Fachdisziplinen geführt habe.

Die erste Sektion „Sozialisation“ eröffnete JÜRGEN BUDDE (Flensburg), der aktuelle Perspektiven der Erziehungswissenschaften auf dem Feld der männlichen Sozialisation vorstellte. Ihm zufolge werden gegenwärtig insbesondere die Gebiete „Schule“, „Peer-Group als Sozialisationsfeld“, „die Jungenpädagogik“ und „männliche Pädagogen“ diskutiert. Zum Schluss konstatierte Budde, dass es immer noch wenig theoretische Konzepte zur Beschreibung von Transformation und Tradierung von Männlichkeiten gebe. CORNELIA HELFFERICH (Freiburg), deren Vortrag krankheitsbedingt von Sylka Scholz verlesen wurde, versuchte genau dieses Desiderat zu schließen, indem sie ein Modell von männlicher Sozialisation vorstellte, welches die soziale Kategorie Alter miteinbezog. Demnach stelle männliche Sozialisation einen Prozess dar, der nicht nur auf die Kindheit und Jugend beschränkt sei, sondern sich auf alle Lebensphasen beziehe und immer an Fragen von Männlichkeit gekoppelt sei. Innovativ war insbesondere Helfferichs Hinweis darauf, dass eine gelungene Übernahme des väterlichen Erbes durchaus auch durch Töchter erfolgen könne.

In der zweiten Sektion zur "Gewalt" bilanzierte der Sozialwissenschaftler HANS-JOACHIM LENZ (Freiburg) die Erforschung von Gewalt an Männern und stellte dabei die These auf, dass der „verletzte Mann“ auch heute noch dysfunktional für das bestehende System sei und in der Gewaltforschung daher noch immer der Blick auf die Männer als Opfer durch den auf Männer als Täter überlagert sei. ANKE NEUBER (Kassel) schloss sich den Ausführungen an und rahmte das Verhältnis von Gewalt und Männlichkeit theoretisch, indem sie Gewalt als Ressource auffasste, durch die eine bedrohte Männlichkeit wiederhergestellt werden könne. So gelang es Neuber, das Modell von doing masculinity durch eine konflikttheoretische Perspektive zu erweitern.

Diskurse über den Männerkörper standen im Mittelpunkt der Ausführungen von MICHAEL MEUSER (Dortmund) in der Sektion „Körper“. Neben dem wissenschaftlichen Diskurs, der oftmals durch eine Defizitdarstellung geprägt sei, bezog Meuser sich auf die Massenmedien, die gegenwärtig vor allem durch den Anspruch, am eigenen Körper zu arbeiten, bestimmt werden. Dies führe zu einer Entgrenzung der Geschlechterverhältnisse, da Körperarbeit nicht mehr nur auf Frauen bezogen werde. Da sich über Körperarbeit berufliche und sexuelle Distinktionsgewinne herstellen ließen, werde sie für die Konstruktion von Männlichkeit zunehmend wichtiger. Anhand von Befragungen aus dem Zeitraum von 1975 bis 2014 referierte ELMAR BRÄHLER (Leipzig) über Körperbeschwerden von Männern. Aufgrund der analysierten Daten plädierte Brähler dafür, die Aussagekraft der Kategorie Geschlecht nicht überzubewerten und diese immer auch im Kontext mit anderen Kategorien wie Alter oder Herkunft zu betrachten. So konnte er beispielsweise zeigen, dass die Angaben von Körperbeschwerden zwischen Männern und Frauen viel weniger differierten als diejenigen zwischen den ‚neuen‘ und den alten Bundesländern.

ROLF POHL (Hannover) eröffnete die Sektion „Sexualität“ und fragte nach Grenzen und Reichweiten psychoanalytischer Ansätze in der Männlichkeitsforschung. Da die männliche Geschlechtskonstruktion sich vor allem über die unbewusste Abwertung von Weiblichkeit darstelle, forderte er einen Rekurs auf die Psychoanalyse, da sie die Möglichkeit biete, diese Prozesse nachträglich zu beschreiben. BENNO GAMMERL (Berlin) konstatierte eine Pluralisierung von sexuellen Lebensverhältnissen seit den 1980er-Jahren, die zu einem Aufbrechen der stereotypen Homo-/Hetero-Unterscheidung geführt hätte. Von dieser Erkenntnis ausgehend, fragte er, ob es Hierarchien von Männlichkeitsmodellen innerhalb der Homosexuellen gebe und forderte von der historischen Männlichkeitenforschung, verstärkt den Blick auf den Körper und die Praktiken zu richten.

In der Sektion „Gesundheit“ zeigte MARTIN DINGES (Stuttgart) zunächst auf, warum es sich lohne, Männergesundheitsgeschichte zu betreiben. So können zum einen gängige Vorurteile, wie jenes, dass Männer „schon immer“ weniger über Gesundheit redeten, ausgeräumt und zum anderen aber auch Geschlechterbilder und deren Konstruktion hinterfragt werden. Aufgrund von Daten der letzten 30 Jahre stellte Dinges sowohl eine parallel verlaufende Medikalisierung beider Geschlechter, als auch die stärker nachholende Medikalisierung der Männer fest. Im Anschluss widmete sich BEATE SCHAPPACH (Bern) anhand des Beispiels Aids den Männlichkeitsentwürfen in Literatur, Theater und Film. So konnte sie zeigen, wie Männlichkeit performativ hergestellt wird und welche gesellschaftlichen Wirkungspotentiale dies entfalten kann. In einer ersten Darstellungsphase während der 1980er-Jahre habe man Schappach zufolge in der Kunst auf dichotome Geschlechtermodelle zurückgriffen und sich auf alte Seuchendiskurse bezogen. In den 1990er-Jahren sei man dagegen zunehmend dazu übergegangen, meist heterosexuelle, weiße Männer als Protagonisten darzustellen, worin sich auch der Wandel der Krankheit von einer tödlichen zu einer chronischen widerspiegelt habe.

Die Sektion „Künste“ nutzte zunächst WALTER ERHART (Bielefeld) dazu, eine Bilanz über die Männlichkeitenforschung in der Literaturwissenschaft zu ziehen. Erhart konstatierte, dass die masculinity studies in eine Zeit fielen, in der man sich in der Forschung zunehmend vom Autor gelöst und textzentriert gearbeitet habe. Bezugnehmend auf Paul Ricœur sprach Erhart von einer generellen „Hermeneutik des Verdachts“, die in diesem Feld zu beobachten gewesen sei. Perspektivisch ermutigte Erhart dazu, sich weiterhin mit Männlichkeiten als Inhalt der Literatur zu beschäftigten, jedoch dazu neue Methoden und einen anderen Blick zu wählen. GREGOR SCHUHEN (Siegen) wählte für seinen Vortrag hingegen ein aktuelles Beispiel der Männlichkeitenforschung im Kontext der Literaturwissenschaften aus und zeigte anhand der Genres ‚Schelmenroman‘ und ‚autobiographische Texte des 20. Jahrhunderts‘ die konsistente Konstruktion von Männlichkeiten in den untersten sozialen Schichten, für deren Positionierung er den Begriff des Abjekts gebrauchte. Schuhen stellte die These auf, dass das Abjekte auch in unserem auf Inklusion bedachten neoliberalen Staat gegenwärtig sei und damit das Pikareske des Schelmenromans auch 400 Jahre später noch Aktualität besitze.

In der Sektion „Erwerbs- und Fürsorgearbeit“ sprach zunächst SYLKA SCHOLZ (Jena) über den Wandel von Arbeits- und Familienformen und dessen Auswirkung auf die Männlichkeitskonstruktion. Scholz verwies darauf, dass durch sich angleichende Erwerbsquoten beider Geschlechter und die Ausbreitung atypischer Arbeitsverhältnisse tradierte Männlichkeitskonzepte sich zwar nicht in einer Krise befänden, aber doch vor einer Herausforderung stünden. TONI THOLEN (Hildesheim) konzentrierte sich in seinem Beitrag auf das Konzept der Sorge, die er im Sinne Foucaults sowohl als Sorge um andere als auch als Sorge um sich selbst begriff. Anhand der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur konnte er aufzeigen, dass sich Männer vermehrt über Sorgebeziehungen (z. B. Vaterschaft) definierten und diese auch reflektierten.

DIANA LENGERSDORF (Köln) gab zu Beginn der Sektion „Vaterschaft“ einen Überblick über die soziologische Forschung in diesem Feld. So seien verstärkt die Themenfelder „Partnerebene“, „Familienebene“ und die „Ebene zwischen Erwerbs- und Familienarbeit“ bearbeitet worden. Danach zeigte Lengersdorf neue Perspektiven für die Vaterschaftsforschung auf, indem sie sowohl eine verstärkte Betrachtung des Körpers und anderer Artefakte als auch die Männlichkeitskonstruktion von Vätern im Kontext von Migration als Forschungsdesiderate benannte. Auf die Auswirkungen des fehlenden Vaters für die Kinder ging MATTHIAS FRANZ (Düsseldorf) aus psychohistorischer und entwicklungspsychologischer Perspektive ein. Anhand verschiedener Studien zu den Vatergenerationen der letzten 100 Jahre konnte Franz eine signifikant höhere psychosomatische Symptomlast von Kindern aufzeigen, die ohne den Vater aufwuchsen. Da gegenwärtig aufgrund hoher Vollzeittätigkeit und dem vermehrten Leben in Trennungsfamilien durchaus von einer strukturellen Vaterlosigkeit unserer Gesellschaft gesprochen werden könne, leitete Franz daraus einen sozialpolitischen Handlungsbedarf ab.

Während einer Podiumsdiskussion diskutierten STEFAN HORLACHER (Dresden), ANDREA MAIHOFER (Basel), LOTHAR BÖHNISCH (Brixen) und JÜRGEN MARTSCHUKAT (Erfurt) theoretische Zugänge und Perspektiven im Feld der Männlichkeitsforschung. Alle Teilnehmer konstatierten eine zunehmende Pluralisierung von Männlichkeitskonstruktionen und -entwürfen, die es theoretisch zu konzeptualisieren gelte. In ihrem Statement verwies Maihofer unter anderem auf die immer noch große Bedeutung von Raewyn Connells Konzept der hegemonialen Männlichkeit, da es nicht nur die Abgrenzung von Männlichkeit und Weiblichkeit, sondern auch die von unterschiedlichen Männlichkeiten erlaube. Um die Differenzierung von Männlichkeiten ging es auch Böhnisch. Er schlug das Konzept des „modularisierenden Mannes“ vor, um der alltäglichen Anpassung von Männern an unterschiedliche Lebenswelten Rechnung zu tragen. Dieses biete den Vorteil, Mannsein in unterschiedlichen Systemen wie Familie, Arbeit oder Verein beschreiben zu können, aber auch deren Überlappungen und Gleichzeitigen nicht ausschließen zu müssen. Jürgen Martschukat forderte von der Geschichtswissenschaft, die Kategorie Geschlecht noch stärker in die Analyse von Feldern einzubeziehen, die auf den ersten Blick nichts mit der Geschlechterfrage gemein hätten, um neue Erkenntnisse zu gewinnen. Auch Stefan Horlacher setzte sich für eine Erweiterung des Blickwinkels innerhalb der Geschlechterforschung ein. Ihm zufolge sollten zum einen die queer studies noch stärkere Berücksichtigung finden und zum anderen Fragen der Männlichkeitsforschung verstärkt auch im Kontext der postcolonial studies diskutiert werden.

Der Anspruch der Tagung, Bilanz zu ziehen und Perspektiven aufzuzeigen, wurde sowohl von den Veranstaltern als auch den Referenten eingelöst. An den acht thematisch unterschiedlichen Sektionen wurde eindrucksvoll deutlich, welche Fülle an Ergebnissen zur Männlichkeitenforschung in Deutschland in den letzten 15 Jahren erreicht wurde und welche Methodenvielfalt ihnen zugrunde liegt. Dass für die masculinity studies trotzdem noch erheblicher Bedarf besteht, zeigte die Tagung jedoch ebenfalls auf. Es deutete sich unter den Teilnehmenden der Wunsch nach einer stärkeren theoretischen Unterfütterung abseits von den etablierten Theorien Raewyn Connells, Pierre Bourdieus und Michel Foucaults an. Aber auch die immer wieder angesprochenen inhaltlichen Desiderate belegen den weiteren Forschungsbedarf auf dem Gebiet der Männlichkeitenforschung.

Konferenzübersicht:

Tagung „Männlichkeitenforschung. Bilanz und Perspektiven“

Sektion „Sozialisation“
Moderation: Martin Dinges (Stuttgart)

Jürgen Budde (Flensburg): Erziehungswissenschaftliche Perspektiven auf männliche Sozialisation

Cornelia Helfferich (Freiburg): Männlichkeitsformation in Kindheit und Jugend. Sozialisation, Weitergabe, Nachfolge

Sektion „Gewalt“
Moderation: Michael Meuser (Dortmund)

Hans-Joachim Lenz (Freiburg): Zwischen Objektivität und Peinlichkeit. Forschung über und Thematisierung von Gewalt an Männern

Anke Neuber (Kassel): Männlichkeit und Gewalt. Ein undurchsichtiger Zusammenhang

Sektion „Körper“
Moderation: Martin Dinges (Stuttgart)

Michael Meuser (Dortmund): Der Männerkörper als Aufgabe und Projekt. Zur schwindenden Geschlechterdifferenz der Körperarbeit

Elmar Brähler (Leipzig): Kultur-, Kohorten- und Altersabhängigkeit der Körperbeschwerden von Männern (1975-2014)

Sektion „Sexualität“
Moderation: Toni Tholen (Hildesheim)

Rolf Pohl (Hannover): Zwischen Autonomiewunsch und Abhängigkeitsangst. Die sexuelle Begehrensstruktur in der männlichen Subjektkonstitution

Benno Gammerl (Berlin): Männer, die Sex mit Männern haben? Zum Wandel und zur Vielfalt homosexueller Geschlechtlichkeiten

Sektion „Gesundheit“
Moderation: Sylka Scholz (Jena)

Martin Dinges (Stuttgart): Wofür Männergesundheitsgeschichte?

Beate Schappach (Bern): „AIDS ist das, was Homosexuelle kriegen. Ich habe Leberkrebs.“ Männlichkeitsentwürfe in der Darstellung von Aids in Literatur, Theater und Film

Sektion „Künste“
Moderation: Toni Tholen (Hildesheim)

Walter Erhart (Bielefeld): Literaturwissenschaft – nach der Männlichkeitsforschung

Gregor Schuhen (Siegen): Access denied. Abjekte Männlichkeiten und Topographien der Gewalt im kultur- und medienhistorischen Vergleich

Podiumsdiskussion: „Theoretische Zugänge und Perspektiven der Männlichkeitsforschung“
Moderation: Martin Dinges (Stuttgart)

Teilnehmende:
Stefan Horlacher (Dresden)
Andrea Maihofer (Basel)
Lothar Böhnisch (Brixen)
Jürgen Martschukat (Erfurt)

Sektion „Erwerbs- und Fürsorgearbeit“
Moderation: Diana Lengersdorf (Köln)

Sylka Scholz (Jena): Männer im Vereinbarkeitsdilemma? Der soziale Wandel von Arbeits- und Familienformen

Toni Tholen (Hildesheim): Transformation von Männlichkeit in Kulturen der Sorge

Sektion „Vaterschaft“
Moderation: Michael Meuser (Dortmund)

Diana Lengersdorf (Köln): Väter sind auch nur Männer – Über Dynamiken an der Schnittstelle zwischen soziologischer Männlichkeits- und Familienforschung

Matthias Franz (Düsseldorf): Wenn der Vater fehlt: Ursachen und Folgen aus psychohistorischer und entwicklungspsychologischer Sicht (1935–2015)


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