Kinless Worlds? Familienlosigkeit und asketische Milieus von der Spätantike bis zum Spätmittelalter.

Kinless Worlds? Familienlosigkeit und asketische Milieus von der Spätantike bis zum Spätmittelalter.

Organisatoren
Exzellenzcluster "Kulturelle Grundlagen von Integration", Universität Konstanz
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.06.2015 - 06.06.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Lukas Barwitzki / Hanna Nüllen, Universität Konstanz

Der Christianisierung des römischen Imperiums und seiner Randgebiete misst die historische Familienforschung traditionell eine zentrale Bedeutung für die Transformation verwandtschaftlicher und familiärer Strukturen im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter bei. Auch ist für die gesamte mittelalterliche Geschichte ein profunder Einfluss der christlichen Religion auf familiäre Funktionen und Vernetzungsstrategien nicht von der Hand zu weisen. Welche Auswirkungen hingegen familienfeindliche asketische Leitbilder und biblisch begründete Absagen an die Familie im Rahmen dieser Entwicklungen hatten, ist bisher kaum systematisch erforscht worden. Meist scheint die Forschung implizit der Annahme von Max Weber (1864–1920) zuzuneigen, der, ausgehend von rigoristischen Postulaten in den neutestamentlichen Schriften, einen strukturellen Gegensatz von christlicher Gemeinde und Sippengemeinschaft postulierte. An diesem Punkt setzte die in Konstanz veranstaltete Tagung an, indem sie die in der christlichen Überlieferung fassbaren familienfeindlichen Tendenzen in ihren Auswirkungen auf gesellschaftliche Diskurse und Praktiken von der Spätantike bis ins Spätmittelalter thematisierte. Im Zentrum der Diskussionen stand die Frage, in welchen Formen biblische Postulate und kulturelle Leitbilder von Familienfeindlichkeit aus der Perspektive unterschiedlicher historischer Gesellschaften aufgenommen, modifiziert und weiterentwickelt wurden, wie diese Rahmenbedingungen den Umgang mit dem biblischen Erbe beeinflussten und in welcher Weise die Diskurse auf die Positionierung von Asketen und asketischen Gemeinschaften im gesellschaftlichen Kontext zurückwirkten. Die einzelnen Vorträge spannten dabei einen weiten Bogen, der sich, ausgehend von konzeptionellen Grundsatzreferaten zum Verhältnis von Askese und Familienlosigkeit, von der Spätantike bis ins 16. Jahrhundert erstreckte.

LUTZ KAELBER (Vermont) gab in seinem Eröffnungsreferat zu bedenken, dass aus der Sicht von Max Webers ‚Protestantischer Ethik‘ Ehe- und Familienlosigkeit kein zentraler Bestandteil der Askese sei. Im Gegenteil werde Askese in der protestantischen Ethik gerade durch die Familie in die Welt hineingetragen. Die Idee griff er im Folgenden am Beispiel zweier Häresien (der Katharer und der Waldenser) auf, die in der Verfolgung mit unterschiedlichen Modellen innerweltlicher Askese operierten. BERNHARD JUSSEN (Frankfurt am Main) plädierte dafür, den in den poströmischen lateinischen Gesellschaften zu beobachtenden Wandel des Verwandtschaftssystems von einer starken, agnatischen zu einer im Kulturvergleich schwachen und bilateralen Institution in die Diskussion einzubeziehen. Die lateinische Kirche sei nicht „familienfeindlich“, sondern „abstammungsfeindlich“ gewesen. Überdies gelte es zu bedenken, dass die Leitimpulse zur Infrastrukturbildung der lateinisch-christlichen Gesellschaften gerade nicht von der Lebensform der Askese ausgegangen seien, sondern ihrer Domestizierung.

GEOFFREY NATHAN (Sydney) ging der Frage nach, weswegen die Jungfräulichkeit der Gottesmutter Maria seit dem 4. Jahrhundert in der Theologie und Frömmigkeit der Westkirche zunehmend an Bedeutung gewann. Diese Bedeutungszunahme verstand er als Reaktion auf die von Jovinian und seinen Anhängern verfochtene Auffassung, dass alle getauften Christen, unabhängig von der Frage, ob sie Jungfrauen, verheiratet oder verwitwet waren, vor Gott gleich seien. In diesem Zusammenhang hätten die Kirchenväter den Vorbildcharakter der Jungfrau Maria gefestigt. Im Osten hingegen habe der Streit um die Natur Christi zu einer Stärkung Marias als Gottesmutter geführt. BARBARA FEICHTINGER-ZIMMERMANN (Konstanz) setzte sich kritisch mit den vielfach beschworenen familienfeindlichen Tendenzen in den Streitschriften des Asketen Hieronymus auseinander. Für Hieronymus sei die spiritualisierte Familienbindung durch die Gotteskindschaft der Christen das Hauptargument für die Lösung aus der weltlichen Familie gewesen. Dennoch seien selbst bei Hieronymus christliche Askese und Familie nicht als Antagonismus zu verstehen. Vielmehr sei der Bezug zwischen den beiden Kräften von einer symbiotischen Ambivalenz geprägt. Neben der antifamilialen Askesepropaganda fänden sich nämlich auch bei Hieronymus Stellungnahmen, die zu den antifamilialen Appellen des Neuen Testamentes deutlich auf Distanz gingen. SUSANNA ELM (Berkeley) hob die Vielfalt des spätantiken Sponsa-Christi-Gedankens als Idee und Lebensform hervor. Im Fokus ihrer Aufmerksamkeit standen die spätrömische Ehe-Auffassung, in der die Kernfamilie eine Aufwertung fand, und die Bestrebungen diese spätantike Ehe zu asketisieren. In den innerweltlichen Askeseformen (asketische Ehe und Haushaltsaskese, in der die Frauen dem Vorbild der Jungfrau und Ehefrau Maria folgen sollten) zeige sich das breite Spektrum des Sponsa Christi-Konzepts. Auch gab sie zu bedenken, dass das Leben als Braut Christi denjenigen Frauen, die keine Jungfrauen mehr waren, aber zölibatär lebten, die Möglichkeit bot, spirituelles Kapital zu akkumulieren und sich zugleich dem römischen Heiratsmarkt zu entziehen. DANIEL WEISSER (Bonn) zufolge erfuhr die theologische Reflexion über Enthaltsamkeit im 4. Jahrhundert mehr Aufmerksamkeit als je zuvor: Alle bedeutenden Theologen der Zeit hätten mindestens eine Schrift verfasst, in der sie über Jungfräulichkeit und Enthaltsamkeit reflektierten und diese als ideale christliche Lebensform darzustellen versuchten. In einigen Gruppierungen, wie den Eutasthianern in Kleinasien oder den Hierakiten in Ägypten, sei das Jungfräulichkeitsideal sogar zu einem exklusiven Ideal geworden, das heißt Verheiratete und andere nicht-asketisch Lebende seien aus ihrer Sicht vom Heil ausgeschlossen gewesen. Die Großkirche habe auf die Herausforderung durch die exklusiven Asketen reagiert, indem sie deren Exklusivitätsanspruch ablehnte und in einer Hierarchisierung der Lebensformen die Jungfräulichkeit zwar hervorhob, zugleich aber die Verheirateten als potentiell heilsfähig anerkannte.

ALBRECHT DIEM (Syracuse) ging der Frage nach, ob und auf welche Weise die monastische Gemeinschaft als Familienersatz zu begreifen sei. Trotz der scheinbar großen Anzahl an Belegen, die in Richtung Ersatzfamilie deuteten, sei es jedoch schwierig, die Stimmenvielfalt zu einem stimmigen Ganzen zusammenzuführen. ANNE-MARIE HELVÉTIUS (Paris-Vincennes) machte darauf aufmerksam, dass in der Tradition des antiken Elogiums auch die christliche Heiligenvita gewöhnlich mit der Vorstellung der gentilen Abstammung ihrer Protagonisten beginne. Anders als das Elogium fokussiere die Vita jedoch häufig auf die Abkehr von ebendieser Familie, darin dem Beispiel Abrahams oder des reichen Jünglings des Matthäusevangeliums (Mt 19, 16–30) folgend. Der ideale Mönchsheilige sei derjenige, der von anderswo herkomme und mit Heimat und Familie gebrochen habe, um Christus nachzufolgen. Zu bedenken gab sie, dass wir in der Hagiographie der Merowinger allerdings bemerkenswert selten auf diese radikale Form der Weltentsagung träfen. Vielmehr hätten die merowingischen Mönchsheiligen ihr Leben in den Dienst des Königs oder der mächtigen Adelsfamilien gestellt, denen sie entsprungen seien. Generalisierungen verböten sich, stattdessen gelte es die Vielgestalt der Lebensentwürfe ernst zu nehmen. CLAUDIA ZEY (Zürich) stellte nach einem einleitenden Abriss über die Etappen der Zölibatsstreits bis in die Zeit der Kirchenreform, nach einer Typologie der einschlägigen Quellengattungen und einer Analyse der Begrifflichkeit, mit denen die Reformer nicht-enthaltsame Kleriker, deren Frauen und Kinder bedachten, die Argumente für und gegen den Zölibat vor und untersuchte sie auf die Frage hin, ob und inwieweit familiäre Bindungen überhaupt Gegenstand dieses Streits waren. Bei den Kirchenreformern, besonders bei Gregor VII., suche man vergeblich nach Verfügungen, die auf das Schicksal von vom Zölibat betroffenen Frauen und Kindern eingingen. Der Priesterzölibat wurde als eine absolute Norm, repräsentativ für die von jedem weltlichen Bezug losgelöste Kirche, vorgeschrieben. GERT MELVILLE (Dresden) widmete sich den kanonistischen Grundlagen der Keuschheitsfrage. Sein besonderes Interesse galt der Möglichkeit, aus dynastischen Gründen die Verbindlichkeit des Mönchsgelübdes außer Kraft zu setzen.

CRISTINA ANDENNA (Dresden) befasste sich mit der Familienlosigkeit im religiösen Diskurs der Franziskaner. Die Abkehr von der Familie und dem elterlichen Erbe sei bekanntermaßen ein zentraler Bestandteil der Vita des Franz von Assisi und habe späteren Mönchsgenerationen als Vorbild beim Eintritt in den Orden gegolten. Der Eintritt sei bei den Franziskanern auch ohne elterliche Zustimmung möglich gewesen, was zusätzliches Konfliktpotential mit dem familiären Umfeld in sich trug. Die normativen Quellen aus dem 13. Jahrhundert, die immer wieder das hagiographische Ideal des Franz von Assisi einforderten, deuteten auf die Schwierigkeiten hin, die Trennung von der Familie in der Praxis umzusetzen und die Besitzfragen verbindlich zu klären. ANNETTE KEHNEL (Mannheim) rekonstruierte einen Fall von "familienfreundlicher Askese" im frühmittelalterlichen Irland. Die Überlieferung aus dem zentralirischen Kloster Clonmacnoise erlaube detaillierte Einblicke in die Verwandtschaftsverhältnisse der Führungselite. Am Beispiel der Familie Meic Cuinn na mBocht, zeigte Kehnel, dass sich auch hier Familie und Askese nicht ausschlossen, selbst unter den radikalen Reformern der sogenannten Culdee- oder Céli Dé-Bewegung nicht. Die Familie stellte neben dem Leiter des Klosters und der Klosterschule auch Schreiber, Verwalter der Totenkapelle sowie seniores (Älteste) und Bischöfe. Kehnel warf abschließend die Frage auf, ob diese auffallende Dominanz der Abstammung (kin) unter den Vertretern der monastischen Eliten in Irland mit der vergleichsweise schwachen Position des konjugalen Paares im irischen Recht begründbar sei. Eine wesentliche Voraussetzung für die irische Form der 'familienfreundlichen Askese' wäre nach dieser Deutung ein Verwandtschaftssystem, in dem das konjugale Paar eine vergleichsweise schwache Institution, die Abstammung dagegen eine sehr starke war. KRISTIN BOESE (Köln) ging auf die Modelle spätmittelalterlicher Verbildlichung von Askese und Familie ein. Im Vergleich zu den Texten seien bildliche Darstellungen von asketischen Heiligen selten, abgesehen von Franz und Clara von Assisi. Oft bilde die Lösung von der Verwandtschaft den Einstieg in einen Bilderzyklus, ebenso wie die Darstellung der Klause als Rückzugsort aus der Gesellschaft. Andere Zyklen fokussierten hingegen auf den engen Bezug zwischen Askese und Familie, wenn die Familie der Schauplatz der häuslichen Askese war oder weil die Familie zu einem essentiellen Bestandteil des religiösen Lebens geworden sei. EVA SCHLOTHEUBER (Düsseldorf) ging zunächst auf die Gründe ein, weswegen speziell das Leben in einem spätmittelalterlichen Dominikanerinnenkloster für die „Welt“ attraktiv sein konnte. Im zweiten Teil ihres Beitrages zeigte sie auf, wie eng Rituale wie das der Oblation mit der Familie der Kinder verwoben waren. Im Fokus der Aufmerksamkeit standen dabei vornehmlich die Veränderungen des Aufnahmeritus und der damit verbundenen Erweiterung des asketischen Milieus, welches auch Kinder, Mütter und Witwen gleichberechtigt miteinbezog.

Am Beispiel der Beziehungen des Abtes des Klosters Weingarten, Gerwig Blarer (1520–1567), zu seinen Geschwistern ging MICHAEL HOHLSTEIN (Konstanz) der Frage nach einer möglichen gegenseitigen Steigerung sozialen Kapitals zwischen Kloster und Welt nach. Als Inhalte der Kommunikation, in der die Geschwister miteinander verbunden waren, ließen sich unterschiedliche Themenfelder ausmachen, die sich nicht in der Gegenüberstellung des Monastischen und des Familiären erschöpfen, und die darüber hinaus durch die unterschiedlichen Kontexte bestimmt waren, in denen diese Dinge verhandelt wurden. In der Kommunikation Blarers lässt sich eine zunehmende Ausdifferenzierung sozialer Kontexte fassen, in denen das Verhältnis zwischen Askese und Familie auf unterschiedliche Weise thematisiert und handlungsrelevant wurde.

VOLKER LEPPIN (Tübingen) schloss die Tagung mit einem Ausblick auf Martin Luthers Werdegang. Sozusagen in mittelalterlicher „Tradition“ habe Luther den Weg ins Kloster im Konflikt mit seinen Eltern, namentlich dem Vater, gewählt. Das Mönchtum erschien hier als Alternative zur bürgerlichen Familie – und entsprechend habe Luther sich nach seinem Klostereintritt 1505 in eine Gemeinschaft von Brüdern eingeordnet und seinen Ordensoberen Johann von Staupitz als Vater gesehen. Als Luther das Kloster verließ und 1525 Katharina von Bora heiratete, bedeutete dies in gewisser Weise eine Rückkehr zum bürgerlichen Familienmodell, das er freilich an manchen Stellen, etwa bei der Lesung der Schrift beim Essenstisch, an klösterlichen Formen orientierte.

Konferenzübersicht:

I Theorien und Konzepte

Steffen Diefenbach (Konstanz) / Gabriela Signori (Konstanz), Einleitung
Lutz Kaelber (Vermont), Askese, Familienlosigkeit und Mönchtum: Ein erneuter Blick auf Max Weber
Bernhard Jussen (Frankfurt am Main), Abstammungsfeindlich“, nicht „familienfeindlich“. Der lateinische Westen und der kulturanthroplogische Normalfall

II Spätantike

Geoffrey Nathan (Sydney), The Jovinianist controversy and Mary Aieparthenos: questioning Mary’s virginity and the question of motherhood
Barbara Feichtinger-Zimmermann (Konstanz), Familiale Aspekte familienfeindlicher Askese bei Hieronymus
Susanna Elm (Berkeley), The sponsa and the sponsa Christi: variations of the late roman marriage plot
Daniel Weisser (Bonn), Ehe- und Familienlosigkeit als einziger Weg zum Heil: (Sexuelle) Askese als exklusives christliches Ideal im 4. Jahrhundert

III Frühes Mittelalter

Albrecht Diem (Syracuse), The monastery as surrogate family in the early Middle Ages
Anne-Marie Helvétius (Paris-Vincennes), Gott, dem König oder der Familie dienen? Die Bedeutungsvielfalt monastischer Konversionen in der Hagiographie der Merowinger

IV Hohes Mittelalter

Claudia Zey (Zürich), Ohne Frauen und Kinder. Askese, Familienlosigkeit und Zölibat in den Streitschriften des 11. und 12. Jahrhunderts
Gert Melville (Dresden), Klösterliche Keuschheit im kanonistischen Diskurs des 12. und 13. Jahrhunderts

V Spätes Mittelalter

Cristina Andenna (Dresden), Familienlosigkeit und Familienbewußtsein in der franziskanischen Welt des 13. Jahrhunderts
Annette Kehnel (Mannheim), Monastic Life styles for kith and kin. The Céli Dé in Clonmacnoise
Kristin Boese (Köln), Askese und Familie in der Bilderwelt des Due-, Tre- und Quattrocento
Eva Schlotheuber (Düsseldorf), Familienfreundlich oder familienfeindlich? Der Klostereintritt von Kindern, Müttern und Witwen in die spätmittelalterlichen Dominikanerinnenklöster
Michael Hohlstein (Konstanz), Dual Career – Geschwisterliches Sozialkapital zwischen Kloster und Welt?

VI Ausblick

Volker Leppin (Tübingen), Martin Luther: Vom Mönch zum Familienvater


Redaktion
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