29. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

29. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung

Organisatoren
Florian Bock / Daniel Gerster, Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung; Markus Leniger, Katholische Akademie Schwerte
Ort
Schwerte
Land
Deutschland
Vom - Bis
20.11.2015 - 22.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Florian Bock, Lehrstuhl für Mittlere und Neuere Kirchengeschichte, Eberhard Karls Universität Tübingen; Daniel Gerster, Centrum für Religion und Moderne, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Zur 29. Jahrestagung des Schwerter Arbeitskreises Katholizismusforschung (SAK) versammelten sich vom 20. bis 22. November circa 25 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus verschiedenen Disziplinen wie Theologie, Geschichtswissenschaft und Soziologie. Die Tagung, die von den neuen Sprechern FLORIAN BOCK (Tübingen) und DANIEL GERSTER (Münster) geleitet wurde, fand in Kooperation mit der Katholischen Akademie Schwerte des Erzbistums Paderborn statt. Im Mittelpunkt der Veranstaltung standen wie gewohnt die Vorstellung und Diskussion laufender Forschungsarbeiten zur Katholizismusforschung. Die Generaldebatte am Sonntag widmete sich in diesem Jahr dem Thema „Familien als Transmissionsriemen von religiösem Wissen“.

Die Tagung begann am Freitagabend mit einem Vortrag von MARKUS MÜLLER (Mainz). Im Anschluss an die Ergebnisse seiner Doktorarbeit zum Deutschen Institut für wissenschaftliche Pädagogik fragte er nach dem Stellenwert, den katholische Pädagogen der Familie als ‚Erziehungsfaktor‘ zwischen 1920 und 1960 zumaßen. Er konnte anhand von Quellenbeispielen zeigen, dass die streng normativ arbeitende ‚katholische Pädagogik‘ der 1920er-Jahre zwar das Ideal der katholischen Familie mit Nachdruck in den nationalpolitisch gefärbten Bildungsdiskurs einführte, die konkrete erzieherische Praxis und das Kind als Subjekt aber erst seit den 1960er-Jahren zum Gegenstand der wissenschaftlichen Reflexion wurden. Müllers äußerst fundierte und kenntnisreich vorgetragene Ausführungen boten nicht nur Anlass zu einer intensiven Diskussion im Anschluss, sondern führten gewissermaßen bereits auf das Thema der Generaldebatte am Sonntagvormittag hin.

Den Samstag eröffnete SEBASTIAN ECK (Duisburg-Essen) mit einem Vortrag zur Bedeutung von Gebetsbüchern als zentralem Medium der Heilsgewinnung für das jenseitsorientierte katholische Milieu. Das Ziel des Beitrags war es, die heilsrelevanten Aneignungsstrategien in den katholischen Messandachten zwischen 1850 und 1914 herauszuarbeiten. Dazu vollzog Eck im Rückgriff auf theoretische Anregungen aus der Spätmittelalterforschung nach, wie der Beter während der Messliturgie anhand der Verinnerlichungsstrategien von memoria und imaginatio sowie von compassio und imitatio göttliche Gnaden für das himmlische Heil erwerben konnte. In einem Ausblick diskutierte er schließlich die Bedeutung der Messandachten für die Teilhabe der Laien an der Messliturgie im Spannungsfeld von Liturgischer Bewegung und Milieukatholizismus.

Im Anschluss folgte ein Beitrag von BARBARA VOSBERG (Bochum) zum Wandel von nations- und konfessionsspezifischen Sendungsideen, wie sie von den beiden bedeutendsten deutschen katholischen Akteuren in Palästina, dem Deutschen Verein vom Heiligen Lande (DVHL) und den Rittern vom Heiligen Grab zu Jerusalem, in den Jahren zwischen 1855 und 1970 vertreten wurden. Sie konnte mithilfe einer seriellen Quellenanalyse von Publikationen beider Akteure zeigen, wie sich die Vorstellung eines ‚friedlichen Kreuzzuges‘ erst mit dem Paradigmenwechsel des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962–1965) aufzulösen begannen. Im Ergebnis präsentierten sich DVHL und Grabesritter immer weniger als eine Deutungs- und Aktionsgemeinschaft. Inwiefern zu dieser Entwicklung auch übergreifende Entwicklungen wie politische Spannungen und gesellschaftliche Wandlungsprozesse beitrugen, wurde in der anschließenden Diskussion erörtert.

Es folgte ein Vortrag von MAXIMILIAN RÖLL (Frankfurt am Main), der sein laufendes Dissertationsprojekt „,vom übrigen deutschen Leben ganz abgelöste Winkelkultur‘? Wie modern war die katholische Bevölkerung im Bistum Limburg während des Kaiserreichs?“ vorstellte. Gegenstand der Untersuchung ist die katholische Öffentlichkeit in der Region Limburg während der Zeit des Kaiserreichs. Röll legte in seinem Vortrag die Theorien und Methoden dar, mit denen er verschiedene Argumentationsmuster im Nassauer Boten, der führenden Tageszeitung der Region, analysieren möchte und präsentierte erste Ergebnisse. Der Vortrag gab Anlass, erneut die Verortung der Katholizismusforschung in den aktuellen Debatten um Modernisierung und Milieu zu thematisieren.

Am Nachmittag griff der Vortrag von STEPHAN KNOPS (Bochum) mit der Rede vom „Gemeinsamen Priestertum der Gläubigen“, die mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wieder verstärkt in den Blick der katholischen Theologie gerückt war, eine bis heute kirchenpolitisch brisante Fragestellung auf. Knops legte in der Präsentation seines Dissertationsvorhabens dar, wie er anhand von Nachlässen ausgewählter deutscher Konzilsbischöfe sowie der Debatten der sogenannten ‚Würzburger Synode‘ (1971–1975) rekonstruieren möchte, auf welchem Wege dieses Konzept in Deutschland im Rahmen einer Theologie der Laien aufkam. Das Ziel ist es, die unterschiedlichen Argumentationsstränge von Bischöfen wie Julius Döpfner, Franz Hengsbach und Lorenz Jaeger innerhalb der Diskussionen zu identifizieren und im Ergebnis kirchengeschichtliche und systematisch-theologische Aspekte miteinander zu verschränken.

Im Anschluss stellte ANDREAS HENKELMANN (Bochum), langjähriger Sprecher des SAK, einige zentrale Thesen aus seinen Forschungen zur Geschichte der Laien in der Seelsorge in Deutschland und den USA vor. Im Mittelpunkt seines Vortrags stand die Frage nach der Entwicklung des Katholizismus und seiner spezifischen Seelsorgestrukturen in Deutschland nach dem ‚Abschied vom Milieu‘. Henkelmann zeigte auf, dass es für sein Untersuchungsfeld einerseits zu deutlichen Transformationen während der 1970er-Jahre kam, sich aber gleichzeitig deutliche Kontinuitäten zu den 1950er-Jahren beobachten lassen.

Zum Abschluss der Vorstellungsrunde aktueller Forschungsprojekte präsentierte GABRIEL LENZ (Mainz) schließlich eine Skizze seines Dissertationsvorhabens mit dem Arbeitstitel „Der Sonntag als christliches Kulturgut im Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen Interessen und seiner Eigenschaft als allgemeiner Ruhe- und Besinnungstag der Gesellschaft“. Lenz unternimmt darin aus sozialethischer Perspektive den Versuch, mit normativen Argumenten zu begründen, warum der arbeitsfreie Sonntag generell schützenswert sei. Er legte dazu unterschiedliche Begründungen aus den Bereichen Freiheit, Wertigkeit und Gemeinwohl vor, die von den Tagungsteilnehmerinnen und -teilnehmern kontrovers diskutiert wurden.

Am Samstagabend stellten sich die Ursulinin und langjährige Schulleiterin Schwester CAROLA KAHLER (Bielefeld) und der emeritierte Religionspädagoge HUBERTUS HALBFAS (Drolshagen) einem Zeitzeugengespräch, in dessen Verlauf die mannigfaltigen Umbrüche in der religiösen Erziehung im 20. Jahrhundert augenfällig wurden. Wie in anderen gesellschaftlich-kulturellen Feldern auch konnten dabei vor allem die ‚langen 1960er-Jahre‘ als Zeitraum der Ab- und Aufbrüche identifiziert werden. Katholischerseits erfolgte mit und nach der Würzburger Synode die Abkehr von einer Katechese hin zu einer hermeneutisch angelegten Didaktik des Religionsunterrichts, die die Sprache, Erfahrung und Lebenswirklichkeit der Kinder ernstnehmen wollte.

Mit dem Zeitzeugengespräch wurde zugleich die Brücke zur Generaldebatte am Sonntag geschlagen. Sie stellte die Frage in den Mittelpunkt, wie Familien im 19. und 20. Jahrhundert religiöses Wissen und religiöse Praxis vermittelt haben und wie sich die Umbrüche in Familienbild und -realität zu einer veränderten Tradierung von Religion beigetragen haben. CHRISTIAN HANDSCHUH (Köln) beschäftigte sich vor dem Hintergrund dieser Fragestellung mit den Ehe- und Familienidealen in der Katholischen Aufklärung. Er konstatierte eine im Vergleich zur Konfessionalisierung deutlich gesteigerte Bedeutung familiärer Religiosität in der einschlägigen Frömmigkeitsliteratur und rekonstruierte das Ehe- und Familienideal aus den normativen Texten. In württembergischen Dekanatsvisitationsberichten beobachtete er zugleich deren weitgehende Rezeption bei Geistlichen und Laien. Im Anschluss widmete sich HEIDRUN DIERK (Heidelberg) dem Mythos des protestantischen Pfarrhauses und seinen Konsequenzen für die (religiöse) Erziehung. Sie machte deutlich, dass es im 19. Jahrhundert einerseits eine sichtbare Realisation der intimen bürgerlichen Kernfamilie darstellte. Gleichzeitig wurde es als ‚Glashaus‘ für die Öffentlichkeit inszeniert, um als Vorbild für eine christliche Hausgemeinschaft zu wirken. In dieser Hinsicht behielt das Pfarrhaus lange Zeit noch die Züge des sogenannten ‚ganzen Hauses‘. Zugleich machte Dierk den enormen Erwartungsdruck deutlich, dem die religiöse und allgemeine Erziehung von Kindern in diesem Spannungsfeld ausgesetzt war. Die Erziehungspflichten der Eltern galten als Ausdruck des Willens Gottes, von den Kindern wurde vor allem Gehorsam gegen Eltern beziehungsweise Gott verlangt. CHRISTEL GÄRTNER (Münster) untersuchte in ihrem Beitrag schließlich die Transformation der religiösen Sozialisation im 20. Jahrhundert anhand von exemplarischen Fallanalysen aus der ‚68er-Generation‘ und deren Kindergeneration. Dabei argumentierte sie, dass der Rückgang der kirchlich-dogmatischen Bindung nicht allein auf den Wandel der religiösen Sozialisation zurückzuführen sei, sondern sich im Zusammenspiel der Veränderung von Gesellschaft, Milieu und Familien wie der adoleszenten Peergroup vollziehe. An die Stelle von religiöser Erziehung und autoritärem Erziehungsstil trete, so Gärtner, eine generative Qualität, die bemüht sei, Kindern gute Bedingungen für die Entfaltung der eigenen Persönlichkeit zu bereiten. Daraus lasse sich schlussfolgern, dass der Abbruch einer gewissen kirchlich-religiösen Sozialisation weder die Erziehung noch die Gesellschaft per se unchristlich mache.

In der anschließenden Debatte setzten sich die Teilnehmer angeregt mit den Ausführungen und Thesen aller drei Vorträge auseinander. Diskutiert wurde dabei besonders die Frage, inwiefern unsere heutige Vorstellung von Familie als ‚liebevoller‘ Erziehungsort in der Gesellschaft die Fragstellung nach dem Stellenwert von Familie als Transmissionsriemen religiösen Wissens vorgeprägt habe. Insbesondere anhand der Vorträge von Handschuh und Dierk wurde deutlich, dass Familie als Ort der bewussten Vermittlung von Religion in den Erziehungskonzepten des 19. Jahrhunderts nur am Rande eine Rolle spielte. Gleichwohl stellte die Familie in der Praxis gerade in dieser Zeit einen wichtigen Ort dar, an dem eine erste ‚religiöse Sprachfähigkeit‘, besonders unter der Anleitung der Mütter, erlernt wurde. Dass dies heutzutage kaum noch der Fall sei, und damit zum Umbruch religiöser Praktiken und Traditionen beitrage, liege, so die Diskussion, möglicherweise auch an der reflexiven Wende religiöser Erziehung in den 1960er- und 1970er-Jahren.

Der Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung wird im nächsten Jahr seine 30. Jahrestagung begehen. Diese wird vom 18. bis 20. November 2016 in der Katholischen Akademie Schwerte stattfinden.

Konferenzübersicht:

Markus Müller (Mainz): Familie als Faktor religiöser Erziehung aus der Sicht katholischer (Religions-)Pädagogen 1920–1970

Sebastian Eck (Duisburg-Essen): Die Messandacht – Ein Heilsmedium? Zur Bedeutung der Gebetbücher für das jenseitsorientierte Leben im katholischen Milieu (1850–1914)

Barbara Vosberg (Bochum): „Vom friedlichen Kreuzzug zum transkulturellen Dialog“ – Transformation und Konsolidierung einer Sendungsidee im Spiegel der Publikationen des Deutschen Vereins vom Heiligen Lande und der Ritter vom Heiligen Grab zu Jerusalem 1855–1970

Maximilian Röll (Frankfurt am Main): „vom übrigen deutschen Leben ganz abgelöste Winkelkultur“? Wie modern war die katholische Bevölkerung im Bistum Limburg während des Kaiserreichs? Eine Studie anhand von Medien

Stephan Knops (Bochum): Gemeinsames Priestertum und Laienpredigt im Spiegel der deutschen Theologie vom II. Vatikanischen Konzil (1962–1965) bis zur Würzburger Synode (1971–1975)

Andreas Henkelmann (Bochum): Auf der Suche nach dem Katholizismus nach dem Milieu – Die Tätigkeit von Laien in der Seelsorge in Deutschland und den USA

Gabriel Lenz (Mainz): Der Sonntag als christliches Kulturgut im Spannungsverhältnis zwischen wirtschaftlichen Interessen und seiner Eigenschaft als allgemeiner Ruhe- und Besinnungstag der Gesellschaft

Christian Handschuh (Köln): „Christus sey Dein Vorbild in allem.“ Erziehungskonzepte und ihre Reichweite in der Katholischen Aufklärung

Heidrun Dierk (Heidelberg): Das protestantische Pfarrhaus – vorbildliches Hausregiment oder Heilige Familie? Einblicke in die Konstruktion(smechanismen) eines Mythos

Christel Gärtner (Münster): Von der kirchlich-dogmatischen Bindung zur religiösen Indifferenz: Der Wandel in der katholischen Erziehung im 20. Jahrhundert


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