Politische Planung in Deutschland seit den 1960er-Jahren

Politische Planung in Deutschland seit den 1960er-Jahren

Organisatoren
Institut für Zeitgeschichte München - Berlin; Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
12.11.2015 - 13.11.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Frieder Günther, Institut für Zeitgeschichte München - Berlin, Abteilung Berlin

Die neuere Forschung hat verschiedentlich gezeigt, dass die 1960er-Jahre in West und Ost im Zeichen einer besonderen Zukunfts- und Planungsorientierung standen. Dies gilt für die bundesdeutsche Politik der 1960er-Jahre, als Konzeptionen politischer Planung einen besonderen Glanz verströmten. Und dies trifft in ähnlicher Weise auf die Zukunfts- und Planungsaffinität der DDR während der 1960er-Jahre zu, die über das herkömmliche Denken im Sinne der Planwirtschaft weit hinausging. Was sind die Parallelen und Unterschiede zwischen der Bundesrepublik und der DDR – wobei der Blick vor allem auf Planungskonzepte und Planungspraxis und ihre Kritik, auf die Rolle wissenschaftlicher Experten sowie auf die Funktion von Planung als gedachter Ordnung und als Legitimationsmittel und Machtfaktor im politischen Prozess zu richten ist? Welche Bedeutung hatte die Systemkonkurrenz im Kalten Krieg, und gab es über die Grenzen des Kalten Krieges hinweg zwischen beiden deutschen Teilstaaten einen direkten Ideenaustausch? Wie verhielt es sich mit dem Planungsdenken, nachdem die Zukunftsbegeisterung und Planungseuphorie im Laufe der 1970er-Jahre verflogen war? Und wie lässt sich das Planungsdenken in den weiteren Rahmen der Epoche der Hochmoderne einordnen, die generell von einem steuernden und planenden Zugriff auf die Zukunft geprägt war?

Diese Fragen standen im Mittelpunkt einer Tagung, die am 12. und 13. November 2015 in der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte stattfand und von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur unterstützt wurde. Das Institutscluster „Transformationen in der neuesten Zeitgeschichte“ hatte namhafte Historiker nach Berlin eingeladen, um mit ihnen über die eigene Arbeit im Kontext aktueller zeitgeschichtlicher Trends zu diskutieren. Höhepunkt der Konferenz war eine öffentliche Podiumsdiskussion in der Bundesstiftung Aufarbeitung über die politischen Steuerungsmöglichkeiten in Europa seit 1989/90.

Die Tagung machte erstens die Vielfalt des Planungsbegriffs in den zeitgenössischen Debatten deutlich. In der Bundesrepublik hatte das Planungsdenken in Expertenzirkeln eine deutliche Konjunktur seit den späten 1950er-Jahren und beeinflusste von dort aus Wissenschaft, Wirtschaft, Gesellschaft und Politik. Alle diese Bereiche verband der Anspruch, unter Rückgriff auf Expertenwissen und modernste Technik die Zukunft verfahrensgestützt über einen längeren Zeitraum zu gestalten. Demgegenüber besaß der Plan in der DDR von Anfang an den Charakter eines wirkmächtigen politischen Fortschrittssymbols, er beschrieb damit aber eher ein permanentes Krisenmanagement und beschränkte zugleich die Freiheit der Experten. Dennoch zeigten sich auch hier Anzeichen einer Planungseuphorie während der 1960er-Jahre mit dem Ziel, eine Verwissenschaftlichung und Professionalisierung der Politik zu erreichen, um so beispielsweise den allgemeinen Lebensstandard der Bevölkerung unter sozialistischen Vorzeichen zu erhöhen. Doch trotz solcher Übereinstimmungen machte die Konferenz deutlich, dass sich hinter dem Planungsbegriff ganz unterschiedliche Phänomene verbargen. Dies zeigt sich beispielsweise darin, dass sich der Deutsche Gewerkschaftsbund vom Konzept sozialistischer Gesamtplanung bereits zu Beginn der 1960er-Jahre verabschiedete oder das Auswärtige Amt 1963 einen Planungsstab ins Leben rief für ein Gebiet, das viel stärker als andere Bereiche von der Notwendigkeit kurzfristiger Entscheidungen geprägt ist. Es überrascht somit nicht, dass die permanente Planungsfixierung des Ministeriums für Auswärtige Angelegenheiten der DDR eher ein Hindernis als ein adäquates Hilfsmittel bei der Außenpolitik darstellte.

Mit Blick auf längerfristige Transformationen hoben die Referate zweitens hervor, dass mit den 1970er-Jahren zwar die Planungseuphorie einer allgemeinen Ernüchterung wich (so verschwanden in der DDR die meisten Großforschungszentren, in der bundesdeutschen Stahlindustrie wurden Expertengremien beiseite geschoben, um den anvisierten Strukturwandel einzuleiten, und die Neuen Sozialen Bewegungen äußerten eine vielfältige Planungskritik), von einem Ende der Planung im Sinne eines Organisations- und Bürokratisierungskonzeptes aber keinesfalls die Rede sein kann. Demensprechend blieb der Planungsgedanke der Entwicklungspolitik des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung auch weiterhin inhärent, und auch die Stadtplanung der DDR folgte bis zuletzt der Vorstellung einer zentralstaatlich geordneten Großplanung. Für die DDR insgesamt ist es charakteristisch, dass die Staatsdoktrin einen Funktionswandel des Staates kaum zuließ und dieser damit weniger als die Bundesrepublik auf den strukturellen Wandel der 1970er-Jahre reagieren konnte. Umstritten blieb unter den Tagungsteilnehmern, wie sich die 1960er-Jahre mit ihrem Machbarkeitsdenken und ihren hohen Erwartungen an Planung in die Geschichte der Hoch- und Spätmoderne seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert eingliedern. Waren sie Höhe- und Endpunkt bei dem Versuch, die Zukunft von Wirtschaft und Gesellschaft möglichst weitgehend zu beherrschen, oder eher ein Fremdkörper in einem Jahrhundert, das sonst von Fortschrittsskepsis und Zukunftsangst bestimmt war?

Die Teilnehmer der Podiumsdiskussion in der Bundesstiftung Aufarbeitung – EDGAR GRANDE (München), OSKAR KOWALEWSKI (Warschau), ANDRÉ STEINER (Potsdam) und ANDREAS WIRSCHING (München) – waren sich nicht einig, ob sich die Entwicklung seit den 1970er-Jahren mit dem „neoliberalen Paradigma“ (Andreas Wirsching) und der damit verbundenen radikalen Durchsetzung von Markprinzipien adäquat beschreiben lässt. Nicht umstritten war hingegen, dass Steuerungsmechanismen auch weiterhin Anwendung finden, dass sie aber allmählich von den Nationalstaaten auf die Europäische Union und die Finanzmärkte selbst verlagert wurden. Wie ambivalent die Entwicklung in den 1980er- und 1990er-Jahren verlief, macht die Treuhandanstalt deutlich, die – obwohl als staatliche Großinstitution konzipiert – nach der Wiedervereinigung wiederum überwiegend auf die marktliberalen Kräfte setzte.

Die Vorträge der Tagung arbeiteten drittens heraus, dass im Kontext von Planung kaum von einem direkten deutsch-deutschen Ideentransfer gesprochen werden kann. Zwar spielte die Systemkonkurrenz in verschiedenen Politikfeldern eine zentrale Rolle, und beobachteten beide deutsche Staaten die Planungsanstrengungen der jeweils anderen Seite. Doch als Orientierungsmaßstab diente der Bundesrepublik und punktuell auch der DDR das Wissenschaftssystem der USA, von dem aus Methoden und Ordnungskonzepte – teilweise mit institutioneller Unterstützung der Ford Foundation – auf deutsche Expertennetzwerke ausstrahlten. Insgesamt machte die Tagung deutlich, wie lohnend es ist, ein solches Thema nicht auf die engere Phase der Planungseuphorie während der 1960er-Jahre zu begrenzen, sondern in die längeren Traditionen deutscher und europäischer Geschichte einzuordnen.

Konferenzübersicht:

Elke Seefried (München): Einführung

Politische Zukunftsaneignungen und Planungsverständnisse in beiden deutschen Staaten bis Ende der 1960er-Jahre

Elke Seefried (München): Vom Wiederaufbau zur Planungsbegeisterung? Zukünfte und politische Planung in der Bundesrepublik der 1950er- und 1960er-Jahre

Peter C. Caldwell (Houston/Texas): Vorbote der Zukunft, Quelle wirtschaftlichen Wandels oder Werkzeug des Krisenmanagements? Der Plan in der DDR

Wirtschaft

Tim Schanetzky (Jena): Vom politischen Allheilmittel zur Alltagspraxis: Planung und Expertise in der Wirtschaftspolitik der 1970er- und 1980er-Jahre

Dierk Hoffmann (Berlin): Planung des Lebensstandards. Verwissenschaftlichung und Professionalisierung in der DDR der 1960er- und 1970er-Jahre

Sebastian Voigt (München): Neue Situation – alte Konzepte? Die Zukunftsvorstellungen und Planungskonzepte des Deutschen Gewerkschaftsbundes in den 1970er- und frühen 1980er-Jahren

Marcus Böick (Bochum): Markt und Plan im DDR-Transformationsprozess 1989/90

Öffentliche Podiumsdiskussion in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur: „Neoliberales Europa“? Politische Steuerungsmöglichkeiten in Europa seit 1989/90

Edgar Grande (München), Oskar Kowalewski (Warschau), André Steiner (Potsdam), Andreas Wirsching (München), Moderation: Thomas Raithel (München)

Wissenschaft und Forschung

Andreas Malycha (Berlin): Zukunftswissen und Fortschrittsdenken. Forschungsplanung und wissenschaftliche Expertise in der DDR in den 1960er- und 1970er-Jahren

Helmuth Trischler (München): Forschungsplanung und der Wandel des bundesdeutschen Wissenschafts- und Innovationssystems in den 1960er- und 1970er-Jahren

Modernisierungsverständnisse und Planungshorizonte in der Außen- und Entwicklungspolitik

Hermann Wentker (Berlin): Planung in der DDR-Außenpolitik

Matthias Peter (Berlin): Der Planungsstab des Auswärtigen Amtes

Agnes Bresselau von Bressensdorf (München): Wachstum, Ökologie, Frieden. Leitbilder und Planungskonzepte bundesdeutscher Entwicklungspolitik seit den 1960er-Jahren

Stadtplanung und Zivilgesellschaft

Silke Mende (Tübingen): Ausstieg aus der Megamaschine? Planungskritik und Fortschrittsverständnisse in den Neuen Sozialen Bewegungen

Harald Engler (Erkner): Urbane Planung in West- und Ost-Berlin zwischen Planungseuphorie, Zukunftsverheißung sozialer Ordnungssysteme und kulturellem Wandel. Gestaltung und subkulturelle Aneignung in der Doppelstadt


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Epoche(n)
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts