Protestantismus – Antijudaismus – Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten

Protestantismus – Antijudaismus – Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten

Organisatoren
Lehrstuhl für mittlere und neuere Kirchengeschichte / Reformationsgeschichte, Humboldt-Universität Berlin; Lehrstuhl für Kirchengeschichte und Systematische Theologie, Fakultät für Geistes- und Kulturwissenschaften, Bergische Universität Wuppertal
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
05.10.2015 - 07.10.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Andreas Stegmann, Institut für Kirchengeschichte, Humboldt-Universität zu Berlin

Vom 5. bis zum 7. Oktober 2015 fand unter der Leitung von Martin Ohst (Wuppertal) und Dorothea Wendebourg (Berlin) unter der Überschrift „Protestantismus – Antijudaismus – Antisemitismus. Konvergenzen und Konfrontationen in ihren Kontexten“ eine internationale Tagung zum Verhältnis von Protestantismus und Judentum im 16. sowie im 19. und frühen 20. Jahrhundert statt.

In der ersten Einheit („Luthers Zeitgenossen und die Juden“) stand nicht Martin Luther, sondern seine Zeitgenossen aus verschiedenen konfessionellen Lagern im Mittelpunkt. HANS-MARTIN KIRN (Kampen) gab einen Überblick über das Verhältnis der spätmittelalterlichen Kirche zum Judentum, in dem er das fragile Nebeneinander von Verfolgung und Koexistenz beschrieb: Die Juden seien als Zeugen für die christliche Wahrheit geschützt gewesen, zugleich aber zu Häretikern gestempelt und verfolgt worden. MANFRED SCHULZE (Wuppertal) zeigte am Beispiel des papstkirchlichen Theologen Johann Eck, dass die spätmittelalterliche Judenfeindschaft im 16. Jahrhundert ungebrochen fortgewirkt habe und in das Medium sich wissenschaftlich-rational gebender Darstellungen überführt worden sei. THOMAS KAUFMANN (Göttingen) widmete sich dem Reuchlin-Streit und der Haltung des Erasmus von Rotterdam gegenüber dem Judentum. Er zeigte die ambivalente Haltung Reuchlins gegenüber der jüdischen Gelehrsamkeit und dem zeitgenössischen Judentum auf. Mit Blick auf Erasmus wurde herausgestellt, dass dieser sich dezidiert judenfeindlich geäußert, dies aber kaum in seinen publizierten Werken, sondern vornehmlich in seiner Korrespondenz getan habe. CHRISTOPH STROHM (Heidelberg) behandelte mit Martin Butzer den wichtigsten Vertreter der oberdeutschen Reformation und wies nach, dass – anders als in der neueren Forschung behauptet – Butzers im Vergleich zu Luther andersartige theologische Einordnung des alttestamentlichen Judentums nicht mit weniger negativen politischen Ratschlägen einhergegangen sei und dass auch Butzer massive Diskriminierungsforderungen erhoben habe. DANIELE GARRONE (Rom) widmete sich der Rezeption jüdischer Gelehrsamkeit in Johannes Calvins Exegese des Alten Testaments und wies auf dessen positives Bild des alttestamentlichen Israel hin, das allerdings ebenfalls nicht mit einer positiven Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Judentum verbunden gewesen sei. JOHN ASHLEY NULL (Berlin) richtete den Blick auf England, von wo die Juden bereits im 13. Jahrhundert vertrieben worden waren. Am Beispiel von Robert Wakefield wurde die Bedeutung der durch Reuchlin und John Fisher vermittelten hebräischen Gelehrsamkeit für die Religionskultur und Machtpolitik der Tudor-Zeit aufgezeigt. Die reformatorische Umgestaltung der englischen Kirche sei – wie das 'Book of Homilies' zeige – mit einer negativen Einfärbung des Judenbilds einher gegangen, die allerdings in der Auseinandersetzung Richard Hookers mit dem Puritanismus wieder partiell rückgängig gemacht worden sei. Die erste Einheit machte deutlich, dass die Judenfeindschaft im 16. Jahrhundert, vom Mittelalter herkommend und mit unterschiedlichen Akzenten, ein konfessions- und länderübergreifendes Phänomen war.

Die zweite Einheit („Protestantismus und Judentum vom späten 18. bis zum frühen 20. Jahrhundert“) wurde eingeleitete mit einem Vortrag von DOROTHEA WENDEBOURG (Berlin) zur Wirkungsgeschichte von Luthers 'Judenschriften' im 19. und frühen 20. Jahrhundert. Wendebourg konnte zeigen, dass Luthers 'Judenschriften', die judenfreundliche von 1523 und die judenfeindlichen von 1543, sowie Informationen über Luthers Haltung zum Judentum zwar greifbar, aber in weiten Kreisen – gerade auch in der evangelischen Kirche – kaum bekannt gewesen, geschweige denn für bedeutsam gehalten worden seien. Erst in den 1930er-Jahren habe die nationalsozialistische Propagierung Luthers als Judenfeind dafür gesorgt, dass Luthers judenfeindliche Schriften bekannter geworden seien. MARTIN OHST (Wuppertal) stellte in einem einstündigen öffentlichen Abendvortrag im Berliner Dom mit dem Volksagitator Adolf Stoecker und dem Gelehrtenpolitiker Reinhold Seeberg zwei der wichtigsten Propagatoren antisemitischer Denkmuster im Protestantismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts vor. Er machte deutlich, dass Seeberg an Stoecker zwar angeknüpft, aber seinen Antisemitismus inhaltlich anders akzentuiert und in anderer Weise in die Öffentlichkeit getragen habe. Die folgenden Vorträge behandelten die Zeit zwischen Aufklärung und Wilhelminischem Kaiserreich. ALBRECHT BEUTEL (Münster) schilderte das enge Verhältnis von deutscher Aufklärung und Judentum: Zwar habe es in der deutschen Aufklärung durchaus Vorurteile gegenüber dem Judentum und Gleichgültigkeit gegenüber der jüdischen Haskalah gegeben, aber man dürfe nicht die engen Beziehungen mancher Aufklärer zum Judentum (z.B. zwischen Gotthold Ephraim Lessing und Moses Mendelssohn) und vor allem die aufklärerischen Bemühungen um die Judenemanzipation (z.B. Christian Wilhelm v. Dohm) vergessen. SIMON GERBER (Berlin) wies auf den deutschen Nationalismus als neuen Faktor in der Bestimmung des Verhältnisses zum Judentum nach 1800 hin und stellte den sich daraus ergebenden Streit um die Emanzipation und Assimilation der Juden in Deutschland in der Zeit um 1815 dar. MATTHIAS WOLFES (Berlin) beschrieb am Beispiel der christlichen Judenmission und des von ihm als 'protestantischen Philosemiten' charakterisierten Theologen Martin Leberecht de Wette das Bemühen und die diesem Bemühen immanenten Grenzen, in der Restaurationszeit ein positives Verhältnis zum zeitgenössischen Judentum zu finden. In die 1870er- und 1880er-Jahre führte dann der Vortrag von MARTIN FRIEDRICH (Wien), der sich mit der Kritik des Leipziger Theologen Franz Delitzsch an August Rohlings 'Talmudjuden' beschäftigte. ANDREAS STEGMANN (Berlin) untersuchte den Berliner Antisemitismusstreit 1879/80 und dessen Rezeption in der kirchlichen Presse auf Muster protestantischer Judenfeindschaft. Die Haltung der völkischen Ideologie des 19. und frühen 20. Judentum stellte NOTGER SLENCZKA (Berlin) am Beispiel der 'deutschen Religion' Paul de Lagardes dar, der die von ihm propagierte völkische Religion vom Judentum abgegrenzt und dabei traditionellen religiösen Antijudaismus und moderne Rasseideologie verbunden habe. CHRISTIAN NOTTMEIER (Pretoria) stellte am Beispiel Adolf von Harnacks die Haltung des theologischen Liberalismus um 1900 zum Judentum dar und betonte dabei Harnacks Abgrenzung vom Antisemitismus und die gerade nicht als antijudaistisch zu qualifizierende Auseinandersetzung mit dem Judentum in seinem wissenschaftlichen Werk. Auf die evangelische Theologen der Zwischenkriegszeit blickte ARNULF VON SCHELIHA (Münster) und machte am Beispiel von Emanuel Hirsch und Paul Althaus die Spannweite lutherischer Theologie deutlich, die religiös und rasseideologisch motivierte Judenfeindschaft zwar aufgenommen, diese aber auch theologisch relativiert habe. Zum Abschluss der zweiten Einheit wies JOHANNES WALLMANN (Berlin) auf die Kritik des Luthertums der Weimarer Zeit am Zionismus als einem Parallelphänomen der völkischen Bewegung hin. Wichtig waren auch Wallmanns Bemerkungen zur Forschungsgeschichte, wobei er besonders auf die nicht angemessen gewürdigten Forschungsbeiträge Uriel Tals verwies. Insgesamt zeigte die zweite Einheit, dass es in Deutschland zwischen dem späten 18. und dem frühen 20. Jahrhundert ein breites Spektrum von protestantischen Positionen gegenüber dem Judentum gab.

Die dritte Einheit („Die internationale Szene“) bot zu dem in der zweiten Einheit skizzierten Verhältnis des deutschen Protestantismus zum Judentum die Folie eines doppelten Kontrastes. Zum einen wurde hier die Judenfeindschaft in Ländern mit nichtprotestantischer Mehrheitsgesellschaft (Frankreich, Österreich, Russland), zum anderen das Verhältnis des Protestantismus zum Judentum in nichtdeutschen lutherischen Ländern (Dänemark, Norwegen, Schweden, Finnland) behandelt. Den Auftakt macht PIERRE BIRNBAUM (Paris) mit dem Beispiel Frankreich, wo wie in Deutschland mittelalterliche judenfeindliche Einstellungen weitergewirkt hätten, die durch die Aufklärung eine spezifische Verschärfung erfahren hätten und im 19. Jahrhundert in einen 'politischen Antisemitismus' umgeformt worden seien, bis schließlich im 20. Jahrhundert neben den anderen Minderheiten auch das Judentum als Bestandteil der Nation anerkannt worden sei. Er wies darauf hin, dass sich zwischen dem Judentum und dem französischen Protestantismus als der anderen, bis ins späte 18. Jahrhundert verbotenen religiösen Minderheit des Königreiches über weite Strecken eine Beziehung der Nähe und Solidarität ergeben habe. ASTRID SCHWEIGHOFER (Wien) schilderte die Entwicklung in Österreich. Sie gab einen Überblick über die Geschichte bis zum 19. Jahrhundert, die unter anderem von dem – bis ins 20. Jahrhundert virulenten – Ritualmordvorwurf bestimmt gewesen sei, und stellte dann die Situation im 19. Jahrhundert dar, in dem der deutsch-nationale und der christlich-soziale Antisemitismus das Verhältnis zum Judentum bestimmt hätten. Auf Russland richtete TOBIAS GRILL (München) den Blick. Er zeigte, dass es dort zwar einen durch die Orthodoxe Kirche vermittelten christlichen Antijudaismus gegeben habe, dass aber erst mit den Polnischen Teilungen Juden in größerer Zahl in Russland vorhanden gewesen seien und die in Polen verbreiteten judenfeindlichen Einstellungen auch in Russland Fuß gefasst hätten. Die zaristische Regierung habe im 19. Jahrhundert eine Diskriminierungspolitik verfolgt, und schließlich sei in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine antijüdische Publizistik entstanden, die traditionelle und moderne antijüdische Vorurteile zu einem antijüdischen Weltbild verschmolzen habe, wie es in den 'Protokollen der Weisen von Zion' weit verbreitet worden sei. Abschliessend stellten MARTIN SCHWARZ LAUSTEN (Kopenhagen), VIDAR LEIF HAANES (Oslo) und RISTO SAARINEN (Helsinki) in drei Vorträgen das Verhältnis des dänischen, des norwegischen und des schwedisch-finnischen Luthertums zum Judentum dar. Obwohl sich die Geschichte der Ansiedlung und Gleichberechtigung der Juden in den nordischen Ländern voneinander unterscheidet, gibt es doch grundlegende Gemeinsamkeiten: Überall wirkte die religiös motivierte Judenfeindschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit zwar nach und konnte sich partiell auch mit modernen Konzeptionen der Judenfeindschaft verbinden, nirgendwo aber konnte diese Judenfeindschaft eine auch nur ansatzweise mit Deutschland, Österreich, Polen oder Russland vergleichbare Breite und Tiefe gewinnen. Vielmehr erwies sich das nordische Luthertum als weitgehend resistent gegenüber Antijudaismus und Antisemitismus und trug im Zweiten Weltkrieg zur Rettung verfolgter Juden bei. Das Beispiel dieser Länder zeigt, dass es keine Disposition moderner Judenfeindschaft durch das lutherische Bekenntnis als solches gegeben hat. Der Vergleich der Entwicklung der Judenfeindschaft in Deutschland mit römisch-katholischen, orthodoxen und lutherischen Ländern zeigte insgesamt, dass Judenfeindschaft kein konfessionsspezifisches Phänomen war und dass ihr Ausmaß und ihre Ausgestaltung entscheidend von den politisch-gesellschaftlichen Faktoren vor Ort abhängig war.

Ein wichtiges Ergebnis der Tagung war, dass der Protestantismus in den untersuchten Zeiträumen und Regionen das Judentum sehr unterschiedlich sehen konnte. Die pauschalisierende Rede von protestantischer Judenfeindschaft wird dieser Vielgestaltigkeit nicht gerecht. Wichtig ist auch, dass sich kein unmittelbarer Zusammenhang des immer wieder belegbaren protestantischen Antijudaismus mit dem rasseideologisch motivierten Antisemitismus des 19. Jahrhunderts herstellen lässt. Aufmerksamkeit verdient die Beobachtung, dass die Wirkmächtigkeit von Luthers judenfeindlichen Schriften in der gegenwärtigen Forschung vielfach überschätzt wird: Es lässt sich keine unmittelbare wirkungsgeschichtliche Linie von Luther zu Hitler ziehen. Einflussreiche Quellen der modernen Judenfeindschaft in Deutschland waren vielmehr jüngere Schriften wie Johann Andreas Eisenmengers 1700 erstmals erschienenes und während des 18. und 19. Jahrhundert immer wieder nachgedrucktes 'Entdecktes Judenthum'. Allerdings – das wurde in der Schlussdiskussion angesprochen – bedarf es einer verstärkten Beschäftigung mit der Geschichte der Judenfeindschaft im 17. und 18. Jahrhundert, um die traditionsgeschichtlichen Linien und Brüche noch klarer erkennen zu können. Auch die Frage nach der Brauchbarkeit der Unterscheidung von primär religiös motiviertem 'Antijudaismus' und primär rasseideologisch motiviertem 'Antisemitismus' wurde gestellt und die Anwendbarkeit des Antisemitismusbegriffs auf mittelalterliche und frühneuzeitliche Quellen und Phänomene diskutiert. Vorgeschlagen wurde, als dritten Begriff neben 'Antijudaismus' und 'Antisemitismus' den Begriff 'Judenfeindschaft' zu verwenden, um all die Phänomene kulturell, sozial oder ökonomisch motivierter Abwertung des Judentums zu erfassen, die sich dem Zweierschema von Antijudaismus und Antisemitismus entziehen.

Konferenzübersicht:

Hans-Martin Kirn (Kampen): Die spätmittelalterliche Kirche und die Juden

Manfred Schulze (Wuppertal): Johann Eck und die Juden

Thomas Kaufmann (Göttingen): Beobachtungen zum Judenbild einiger deutscher Humanisten in den ersten beiden Jahrhunderten des 16. Jahrhunderts

Christoph Strohm (Heidelberg): Martin Butzer und die Juden

Daniele Garrone (Rom): Calvin und die Juden

John Ashley Null (Berlin): The English Reformers and the Jews

Dorothea Wendebourg (Berlin): Die Bekanntheit von Luthers sogenannten Judenschriften im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Martin Ohst (Wuppertal): Die Antisemiten Adolf Stoecker und Reinhold Seeberg

Albrecht Beutel (Münster): Deutsche Aufklärung und Judentum

Simon Gerber (Berlin): Antijudaismus nach 1800

Matthias Wolfes (Berlin): Der protestantische Philosemitismus der Restaurationszeit

Martin Friedrich (Wien): Franz Delitzsch gegen August Rohling

Andreas Stegmann (Berlin): Der Berliner Antisemitismusstreit

Notger Slenczka (Berlin): Die völkischen Antisemiten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts

Christian Nottmeier (Pretoria): Der späte theologische Liberalismus – Naumann, Harnack, Rade – und die Juden

Arnulf von Scheliha (Münster): Das junge nationale Luthertum nach dem Ersten Weltkrieg und die Juden

Johannes Wallmann (Berlin): Luthertum und Zionismus in der Zeit der Weimarer Republik

Pierre Birnbaum (Paris): Antisemitism in France between the Enlightenment and the First World War

Astrid Schweighofer (Wien): Der österreichische Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und seine Quellen

Tobias Grill (München): Der russische Antisemitismus des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und seine Quellen

Martin Schwarz Lausten (Kopenhagen): Das dänische Luthertum und die Juden

Vidar Leif Haanes (Oslo): Norwegian Lutheranism and the Jews

Risto Saarinen (Helsinki): Das schwedisch-finnische Luthertum und die Juden


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts