Terezín 2004. Zustand und Perspektiven der Historiographie des Ghettos Theresienstadt

Terezín 2004. Zustand und Perspektiven der Historiographie des Ghettos Theresienstadt

Organisatoren
Institut der Theresienstädter Initiative, Prag
Ort
Terezín
Land
Czech Republic
Vom - Bis
20.11.2004 - 23.11.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Anna Hájková, Humboldt-Universität zu Berlin

Konferenzen, die eine Bilanz jahrelanger Forschung ziehen wollen, stellt sich die nicht ganz leichte Aufgabe, wissenschaftliche Arbeitsergebnisse möglichst vollständig zu präsentieren wie auch deren Ertrag inhaltlich zu diskutieren. Dabei begegnen einander unterschiedliche methodische Ansätze, Perspektiven und Forschungstraditionen. Das alles kennzeichnete auch die gemeinsame Tagung des Prager Instituts Theresienstädter Initiative (ITI) und der Gedenkstätte Terezín, die vom 20. bis 23. November 2004 in der Gedenkstätte Terezín stattfand. Die Wahl des Tagungsortes erwies sich als eine glückliche, ließ er doch die Atmosphäre im ehemaligen Ghetto noch ahnen – und das heute menschenleer wirkende Städtchen bot keinerlei Ablenkung für die ca. 70 Teilnehmer.
Die Veranstalter hatten ein überreiches Programm von bis zu vierzehn Vorträgen und zwölf Stunden am Tag organisiert, das die Ergebnisse zwölfjähriger Forschungsleistung der tschechischen, deutschen, österreichischen, polnischen, slowakischen, israelischen und amerikanischen Historiographie zu Theresienstadt vereinte. Hier deutet sich bereits an, was von etlichen Teilnehmern kritisiert wurde: Der Wunsch der Veranstalter, die Forschungsergebnisse vollständig zu präsentieren, kollidierte bisweilen mit dem Bedürfnis nach intensiverer Diskussion und stärkerer Gewichtung innovativer Ansätze.

Die Leiter vierer tschechischer und eines israelischen Forschungszentrums eröffneten die Konferenz. In ihren fünf Referaten zur bisherigen Forschung über die Geschichte des Theresienstädter Ghettos zogen sie nicht nur Bilanz, sondern benannten z.T. aus ihrer Perspektive die Desiderate. In diesem Block wurden auch die Differenzen der teilweise konkurrierenden Institutionen deutlich. Jaroslava Milotová, die Direktorin des mitorganisierenden ITI, konstatierte, dass die Theresienstädter Forschung bis in die neunziger Jahre hinein überwiegend von ehemaligen Häftlingen getragen wurde, unter ihnen vor allem von H.G.Adler 1 und Miroslav Kárný.2 Beider Namen zogen sich später durch alle Themenblöcke der Tagung. Während Adler von zumeist tschechischen Forschern oft kritisch zitiert wurde, da er „auf Seiten seiner Theresienstädter Monographie seine letzten Theresienstädter Kämpfe auskämpfte,“ würdigten Milotová – wie auch folgende Referenten, die sich oft als Kárnýs Zöglinge auswiesen – dessen Verdienste um eine angemessene, sich selbst immer wieder korrigierende Forschung. Wie Milotová ausführte, zeigen die Forschungen der letzten fünfzehn Jahre seit der Wende überaus deutlich, wie stark die nationalsozialistische Deportationspolitik in Europa und die Geschichte des Theresienstädter Ghettos miteinander verbunden waren. Milotová mahnte für eine künftige Forschung vor allem Multiperspektivität, größere Tiefe und komparative Ansätze an. So wird eine Beschreibung des Schemas der Theresienstädter Selbstverwaltung dem inneren Leben des Ghettos nicht gerecht. Für Untersuchungen böten sich Themenfelder wie die inneren Regeln der Theresienstädter „Zwangsgemeinschaft“, das organisatorische Schema der jüdischen Selbstverwaltung und auch deren Vorläufer an, die Jüdische Gemeinde in Prag, der spätere Ältestenrat der Juden in Böhmen und Mähren.

Der folgende Themenblock befasste sich mit den Juden aus dem „Altreich“, Österreich, den Niederlanden sowie den slowakischen und ungarischen Juden, die nach Theresienstadt deportiert wurden. Beate Meyer stellte in ihrem anregenden Vortrag dar, wie sich die Bedeutung des Ghettos für die Funktionäre der Reichsvereinigung der Juden in Deutschland wandelte. Meyer gliederte dieses komplexe Thema analytisch in vier Phasen: Theresienstadt als Deportationszielort für Alte und Gebrechliche, als Bestimmungsort sowie Tätigkeitsfeld für die Funktionäre selbst und schließlich – für die wenigen Überlebenden – als Qualifikationsmerkmal im beruflichen Lebenslauf. Gerhard Ungar berichtete (in Vertretung für Wolfgang Neugebauer) über den Weg österreichischer Juden nach Theresienstadt.3 Eleonore Lappin skizzierte die Verschleppung der Budapester Juden zwischen Herbst und Winter 1944/45 dorthin, während Katarína Hradská das Schicksal der letzten slowakischen Juden untersuchte, die unter ähnlichen Bedingungen nach Theresienstadt kamen. Mein eigener Beitrag befasste sich mit der Deportation der Juden aus den Niederlanden nach Theresienstadt. Im Mittelpunkt standen dabei die Entwicklung der Ausnahmekategorien für die Deportierten sowie das Gruppenverhalten der Niederländer im Ghetto, die sich in der Regel weder in die Arbeit zur Erhaltung des Ghettos einspannen ließen noch den Kontakt zu anderen Gruppen suchten und somit einen unterschiedlichen Sozialisationsmodus hatten. Miroslav Kryl berichtete von der komplizierten tschechischen Edition von Adlers Theresienstadt-Buch.4 Alfred Gottwaldt untersuchte die Rolle der Reichsbahn bei den Deportationen nach Theresienstadt. Er verwies auf die Zusammenarbeit von Reichsbahn und der unter deutscher Aufsicht stehenden Böhmisch-Mährischen Eisenbahnverwaltung und legte die logistischen Manöver der Verantwortlichen dar, bei denen die Truppentransporte den unbedingten Vorrang besaßen. In der lebhaften Diskussion wies er kenntnisreich auf weitere Aspekte hin, so auf die Praxis der Transportbegleitungen und -abfertigungen. Leider fehlen Quellen, die es ermöglichen würden, weitergehende Aussagen über das Selbstverständnis der Reichsbahner zu treffen.

Severin Hochberg zeichnete die Entscheidungen und Wege der überlebenden Juden aus und über die Tschechoslowakei und die Rolle der amerikanischen Regierung bei ihrer Emigration. Robert Kuwałek, Direktor des neu errichteten Staatlichen Museum Bełźec, befasste sich mit den Transitghettos im Distrikt Lublin, in die die Deportierten für einige Wochen oder Monate eingewiesen, bevor sie in die Vernichtungslager Sobibór, Treblinka und Bełźec weiter transportiert wurden. Kuwalek schilderte das Leben in diesen Ghettos und bezifferte die Zahl der ermordeten tschechischen Juden nach neuesten Erkenntnissen auf 13 000, von denen etwa 3000 in den Ghettos erschossen wurden. Hier anknüpfend untersuchte Peter Witte die Rolle Adolf Eichmanns bezogen auf das Vernichtungslager Bełźec, wobei er dessen Aussagen – insbesondere gegenüber dem Interviewer Van Sassen - quellenkritisch analysierte. Peter Klein verglich die zwei Produktionsghettos Łódź und Riga mit Theresienstadt und präsentierte ein neues Dokument, das auf (kurzzeitige) Pläne für eine Textilproduktion auch in Theresienstadt hinweist. Theresienstadt, so Klein, sei von Heydrich auf der Grundlage seiner Erfahrung mit den Ghettos von Łódź und Riga errichtet worden; Klein plädiert deshalb dafür, den Begriff „KZ“ für Theresienstadt nicht mehr zu verwenden.

Michael Wögerbauer, der eine kritische Edition der Memoiren Benjamin Murmelsteins leitet, konzentrierte seine Ausführungen auf die zwischen 1945 und 46 geführten Ermittlungen gegen den letzten Judenältesten von Theresienstadt. Er umriss das widersprüchliche Verhalten Murmelsteins, der nach Kriegsende in Theresienstadt verharrte, obwohl er Untersuchungen gegen sich antizipierte. Michal Frankl stellte die Theresienstädter Datenbank des ITI vor, die vor zwölf Jahren zunächst nur für Herausgabe der Theresienstädter Gedenkbücher gedacht war, inzwischen jedoch weiterentwickelt wird und Grundlage für neue Projekte sein könnte. Anna Lorencová berichtete aus ihrem mit Anna Hyndráková geführten Interviewprojekt, mit dem sie versucht, die lebensgeschichtlichen Erinnerungen aller tschechischen Holocaust-Überlebender festzuhalten. Schließlich untersuchte Wolf Gruner die Rolle der „anderen“ Akteure bei antijüdischen Maßnahmen im Protektorat – u.a. die der Protektoratsregierung und der Kommunalverwaltungen. Gruners Vortrag stellte viele tradierte Vorstellungen in Frage, insbesondere die Rolle der Prager Zentralstelle für jüdische Auswanderung. Dieser Vortrag, am Beginn der Tagung gehalten, hätte zu interessanten Diskussionen einladen können.

Insgesamt bot die Konferenz eine gute Plattform, auf der sich Forscher verschiedener Generationen und aus unterschiedlichen Ländern austauschen konnten. Es herrschte eine angenehme und arbeitsintensive Atmosphäre, die immer dann deutlich wurde, wenn auch in den kurzen Pausen des übervollen Programms noch weiterdebattiert wurde. Vor allem die tschechischen TeilnehmerInnen repräsentierten die drei Generationen, die seit Kriegsende in der Forschung tätig sind, wobei jede ihre eigene Perspektive und Dynamik zeigte. Die Unterschiede zwischen jüngeren und älteren Teilnehmern, aber auch von Ost und West, zeigten sich des Öfteren im methodischen Zugang zum Forschungsgegenstand. Jede mehrsprachige Tagung ist auf qualifizierte Übersetzungen angewiesen. Auf dieser mussten die Teilnehmer ein übervolles Programm bei einer sehr bemühten Simultanübersetzung absolvieren, eine Leistung, die ihre kognitiven Möglichkeiten zeitweise überforderte. Nicht nur deswegen planen die Organisatoren, die nächsten Zusammenkünfte eher in Form von Workshops anzubieten, um einzelne Themenkomplexe zu vertiefen. Doch mit dieser Konferenz zum Auftakt ist es den Organisatoren erfolgreich gelungen, eine Zwischenbilanz zur Theresienstädter Historiographie zu ziehen und dabei - ganz nebenbei - die daran Beteiligten ein Stück weit zu vernetzen.
Eine Auswahl der Konferenzbeiträge wird in der Ausgabe des ITI Jahrbuchs „Theresienstädter Studien und Dokumente 2005“ erscheinen.

Anmerkungen:
1 H.G.Adler: Theresienstadt 1941-1945. Das Antlitz einer Zwangsgemeinschaft, 2. verb. u. erg. Auflage, Tübingen 1960.
2 Miroslav Kárný, Ergebnisse und Aufgaben der Theresienstädter Historiographie, in: Miroslav Kárný, Margita Kárná, Vojtěch Blodig (Hgg.): Theresienstadt in der „Endlösung der Judenfrage“, Praha 1992, S. 26.
3 Der von Wolfgang Neugebauer verfasste Beitrag erscheint demnächst im Theresienstädter Österreichischen Gedenkbuch.
4 H.G. Adler, Terezín 1941-1945. Tvář nuceného společenství, 3 Bde., Bd. 1, (1. Dějiny, 2. Sociologie, 3. Psychologie), hg. von Miroslav Kryl, übersetzt von Lenka Šedová, Praha 2003.


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Deutsch
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