Gedenkstättenarbeit und oral history

Gedenkstättenarbeit und oral history

Organisatoren
Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur in Kooperation mit der Vereinigung „Gegen Vergessen – Für Demokratie"
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.09.2004 - 10.09.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Kathrin Ludwig (Wuppertal)

Der Workshop „Gedenkstättenarbeit und oral history – Zeitzeugen an Gedenkstätten im Kontext politischer Bildungsarbeit, Multimedia-Einsatz und Ausstellungskonzeption“ vom 9. bis zum 10. September in Berlin hat sich in diesem Jahr vor allem mit dem Themenkomplex des Dokumentarfilms über die NS- und SED-Diktatur beschäftigt. Hierbei ging es um den methodischen Austausch über die grundsätzliche Frage, was in Zeitzeugeninterviews geschieht. Zudem wurde diskutiert, wie Vergangenheit filmisch vermittelt wird, und wie die Arbeit mit authentischem Material gestaltet werden kann, wenn es keine Zeitzeugen mehr gibt. Für den zweitägigen Workshop haben die Veranstalter Dr. Anne Kaminsky von der Stiftung Aufarbeitung, Prof. Dr. Friedhelm Boll und Dr. Andreas Eberhardt vom Verein Gegen Vergessen – Für Demokratie“ qualifizierte Referenten aus den Bereichen Dokumentarfilm und Gedenkstättenarbeit gewinnen können.

Der Historiker Yariv Lapid von der „International School for Holocaust-Studies, Yad Vashem“ hat mit seinem Vortrag „Den Holocaust verstehen? Zeitzeugeninterviews in der International School for Holocaust Studies“ einen Einblick in die Arbeit mit Zeitzeugen am Zentrum für das Gedenken an den Holocaust „Yad Vashem“ gegeben.
Zunächst skizzierte er den Umgang mit Zeitzeugen im Kontext der israelischen Gesellschaft. Lapid betont, dass es vor allem zwei Ereignisse sind, die wachsende Sensibilisierung der israelischen Gesellschaft für die Erlebnisse ehemaliger KZ-Häftlinge ganz besonders beeinflusst haben. Zum einen der „Eichmann-Prozess“ von 1961, der im Radio ausgestrahlt wurde und eine sehr wichtige Erfahrung für den jungen Staat Israel darstellt“. Zum anderen ist es das „Jom ha Shoah Gesetz“ von 1959, das besagt, dass an jedem Holocaust-Gedenktag den Überlebenden zugehört werden soll.
Außerdem habe der Generationenwechsel bewirkt, dass Enkel ihre Großeltern im Rahmen ihrer Bar-Mizwa interviewten und Forschungen zum Schicksal ihrer Familien während des Holocausts betrieben. Seit den 80er Jahren biete die Organisation „Ambra“ Überlebenden psychologische und soziale Unterstützung. Sie sei ein weiteres Zeichen für den Sensibilisierungsprozess der israelischen Gesellschaft für das Schicksal der Überlebenden.
Bereits seit 20 Jahren tauschen sich Überlebende an der „International School for Holocaust-Studies“ über ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus. Dem Sprechen kommt hier eine therapeutische Rolle zu, deshalb werden die Gruppengespräche stets von einem Psychotherapeuten geleitet. Lapid hebt hervor, dass es sich bei Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, um traumatisierte Menschen handelt. Während der Vorbereitung auf die Interviews werden die Erinnerungen der Zeitzeugen wach und sie haben häufig mit schlaflosen Nächten zu kämpfen. Kinder von Holocaust-Überlebenden berichten häufig, dass sie nachts von den Schreien ihrer Eltern geweckt werden. Diese sollen nun in der Interview-Situation vor völlig fremden Menschen über Erniedrigungen und andere sehr intime Erfahrungen erzählen. „Das Sprechen über die Erlebnisse ist der erste Moment, wo dem Überlebenden bewusst wird, dass er das Trauma wirklich erlebt hat.“ Die Zeitzeugen werden nach Lapid nicht für die Bestätigung historischer Fakten eingeladen, vielmehr soll die Kommunikation ihnen helfen, mit ihren Erinnerungen zu leben. Dadurch gewinnen sie auch ein Stück Menschlichkeit zurück.
Zum Ablauf der Zeitzeugeninterviews berichtet Lapid, dass diese mit Fragen zur aktuellen Situation des Überlebenden begännen. Erst danach würden nach und nach Fragen zur Vergangenheit gestellt. „Hierdurch soll gezeigt werden, dass der Überlebende nicht als Historiker eingeladen ist. Außerdem wird er nicht mehr auf die Opfer-Rolle reduziert“. Da die Interviews in Gruppen geführt werden, kann vom Konzept der Selbsthilfegruppe gesprochen werden.

Der Filmemacher und mehrfache Grimme-Preisträger Hans Dieter Grabe will mit seinen Filmen „informieren, beeindrucken und zum Nachdenken anregen.“ Er hebt hervor, dass es bei Dokumentarfilmen von immenser Wichtigkeit sei, zu wissen, für wen der Film gemacht werde. Mit „Er nannte sich Hohenstein – Aus dem Tagebuch eines deutschen Amtskommissars im besetzten Polen 1940-1942“, „Drei Frauen aus Poddembice“ und „Bernauerstraße 1-50“ präsentierte Grabe drei Beispiele seines filmischen Schaffens.
Zur Genese des ersten Dokumentarfilms ist festzuhalten, dass Grabe während seiner Recherchen für ein neues Filmprojekt per Zufall auf das Tagebuch Alexander Hohensteins, eines deutschen Amtkommissars (NS-Bürgermeister) in der besetzten polnischen Stadt Poddembice gestoßen ist. „Hohenstein verfasste das Tagebuch aus seinen Notizen von 1940-42 in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre, als er seine Job durch die Entnazifizierung verloren hatte. Er war sich offenbar nicht bewusst, inwieweit er sich durch sein Tagebuch offenbart.“
Der Film wurde 1992 produziert. Die Geschichte Hohensteins erzählt, wie Grenzen verschoben und immer wieder überschritten werden. Die Schwierigkeit der filmischen Umsetzung bestand darin, Bilder und Filmmaterial zu dem Tagebuch zu finden. Charakteristisch für den Film sind deshalb lange Einstellungen und eine sparsame Bebilderung. So kommt dem Zuhören und Nachdenken eine große Rolle zu. Als dramaturgisches Filmmittel werden Szenen, die im heutigen Poddembice aufgenommen worden sind, mit dem historischen Film- und Fotomaterial verknüpft. „Der Wechsel von schwarz-weiß Aufnahmen zu dem Farbfilmmaterial soll zeigen, dass das Leben weiter geht.“ Durch die Kargheit der Mittel entsteht eine außerordentliche Bezogenheit auf den Text. Der Zuschauer ist gezwungen, sich mit Hohenstein, seiner Blut-und-Boden-Ideologie und seiner Behandlung der Polen auseinander zu setzen. Der Film stellt ein einmaliges Dokument derjenigen Deutschen dar, die die Unterwerfung und Vertreibung der polnischen Bevölkerung zwar nicht direkt durchführten, wohl aber durch ihre zivile Tätigkeit und ihren nationalsozialistischen Glauben die NS-Verbrechen mit ansahen, verwalteten und so auch ermöglichten.
Als zweiter Film wurde mit „Drei Frauen aus Poddembice“ der Epilog des vorherigen Films gezeigt, der allerdings auch schon als eigenständiger Film ausgestrahlt worden ist und für sich steht. Es handelt sich um Interview mit drei deutschen Frauen eben dieses Ortes, die die NS-Verbrechen miterlebten und (als Beschäftigte des damaligen Arbeitsamtes) mitverwalteten, sich aber heute nur partiell oder überhaupt nicht erinnern wollten. Der Film stellt ein spannendes Beispiel für Verdrängung dar.
In der anschließenden Diskussion ging es um die Frage, ob immer nur eindeutige Täter gezeigt werden müssten, da Hohenstein eine ambivalente Persönlichkeit mit zwei Lesarten darstelle. Genau in dieser Ambivalenz läge eine große Chance, denn auch in der Gedenkstättenarbeit werde verstärkt nach solchen problematischen, für die Zeit des NS aber typischen Biographien gesucht. Grauzonen seien sehr wichtig, wie das Beispiel Oskar Schindlers zeige: Niemand ist nur gut oder nur schlecht.
Im Film „Bernauer Straße 1-50“ ging es um den Mauerbau in Berlin. Der Film entstand 1981, zum 20. Jahrestag des Mauerbaus. Grabe hat die Mauer an der Bernauerstr. aufgesucht und das Schicksal ihrer Bewohner im Einzelnen aufgerollt. Unmittelbar nach der Ausstrahlung wäre die Redaktion der Zuschauer nicht deutlich gewesen; heute bewege der Film die Zuschauer viel mehr. Die Verwendung des Films in der Gedenkstättenarbeit wäre außerordentlich wünschenswert.

Silke Klewin und Cornelia Liebold von der Gedenkstätte Bautzen haben in ihrem Vortrag „Geschichte in Gesichtern. Das biographische Konzept der Speziallagerausstellung der Gedenkstätte Bautzen“ den Aufbau der Ausstellung, die seit dem 13. Mai diesen Jahres zu besuchen ist, vorgestellt.
Die Problematik der Ausstellung bestehe in der Tatsache, dass zwei Verfolgungsperioden, die der NS- und die der SED-Diktatur, in dem gleichen Gebäude ausgestellt werden, da der ältere Teil (Bautzen I, Gelbes Elend genannt), noch als Strafvollzugsanstalt diene. Zudem werde an einem spezifischen historischen Ort (Bautzen II, „Stasi-Knast“ genannt) an einen anderen spezifischen Ort (Bautzen I) erinnert. Ziel sei es, in diesem Rahmen den verschiedenen Häftlingsgruppen gerecht zu werden.
Eine Zeitzeugenbefragung im Vorfeld der konkreten Erarbeitung des Konzepts ergab, dass die Darstellung von Einzelschicksalen als sinnvoll erachtet werde und dass es den Überlebenden wichtig sei, dass auf diese Weise insbesondere Jugendliche angesprochen werden könnten.
Eingeteilt ist die Ausstellung in 14 thematische Abschnitte mit 42 exemplarischen Einzelschicksalen. Im Zentrum steht ein Modell des Speziallagers. Außerdem gibt es einen Medienraum und den Versuch einer Zellenkonstruktion. Silke Klewin: „Seit dem 13. Mai waren schon 30.000 Besucher da, bis auf einige Stellen sind wir sehr zufrieden mit der Ausstellung. Vor allem die ehemaligen Häftlinge sind sehr zufrieden und mit stolz erfüllt, wenn sie ihre Porträtfotos sehen, viele bringen Angehörige mit, um ihnen die Ausstellung zu zeigen.“
Als Kritikpunkte der Ausstellung werden die schwierige Orientierung im Haus und die mangelnde Einbettung in das gesamte Speziallagersystem angeführt. Vor allem die Zellenkonstruktion werde seitens der ehemaligen Häftlinge kritisiert, da sie mit den frisch gestrichenen weißen Wänden „zu sauber“ wirke und nicht die realen Zustände widerspiegle. So fehlt z.B. der damals obligatorische „Kübel“ mit Exkrementen, dessen Gestank wie auch die Schamlosigkeit der öffentlichen Benutzung nicht nachgestellt werden könne.
In der anschließenden Diskussion wurde angeregt, den Kritikbrief der ehemaligen Häftlinge öffentlich auszustellen. Zudem wurde vorgeschlagen, keine Texte und Fotos in der Zellenrekonstruktion zu zeigen, da die Zelle hierdurch zum Museumsraum würde. Ein anderer Diskussionsbeitrag kritisiert die Zellenkonstruktion in eine andere Richtung: die Zelle wirke wie eine Provokation, denn das Grauen könne nicht dargestellt werden. Die Vertreterinnen der Gedenkstätte Bautzen erklärten, dass die Zelle auf die Bedürfnisse der Besucher „etwas zu sehen“ reagiere. Davon seien viele Besucher sehr angetan. Dennoch sei es „ein Versuch, der in den Augen der Häftlinge völlig gescheitert ist.“ Weiteren Diskussionsstoff lieferte die Tatsache, dass Opfer und Täter in der Ausstellung durch kleine und große Porträtfotos voneinander unterschieden werden.

Die freie Filmemacherin Loretta Walz hat 1980 begonnen, Videointerviews mit Frauen aus Ravensbrück aufzuzeichnen. Bis heute hat sie 200 lebensgeschichtliche Interviews geführt. In ihrem Vortrag „Vom Interview zum Zeitzeugenmaterial für die Bildungsarbeit an Gedenkstätten am Beispiel der Gedenkstätte Ravensbrück“ stellte sie ein innovatives Konzept zur aktiven Medienarbeit an Gedenkstätten vor. Hierbei sollen Schüler drei Tage lang an einem digitalen Schnittplatz Zugriff auf 15 Interviews haben. Zudem gibt es jeweils eine siebenminütige Kurzfassung der Interviews und einen digitalen Ordner mit Schnittbildern vom Siemensgelände. Als Ergebnis können die Schüler selbstständig einen Film produzieren.
Um das Konzept zu verwirklichen, muss die Gedenkstätte einen Mitarbeiter haben, der sich mit dem jeweiligen Schnittprogramm auskennt und die Schüler in ihrer Arbeit anleiten kann. Loretta Walz befürchtet, dass das Projekt an dieser Notwendigkeit scheitern könnte.
Die Diskussion zu dem filmischen Projekt, das noch in den Kinderschuhen steckt und lediglich von Gedenkstättenmitarbeitern während eines eintägigen Workshop ausprobiert worden ist, fiel sehr kontrovers aus. Zunächst wurde die grundsätzliche Frage aufgeworfen, warum Medienarbeit an Gedenkstätten überhaupt nötig sei, denn die Zeitzeugenarbeit sei durch die „Erinnerung in der Konserve“ nicht zu ersetzen. Durch die Arbeit am Computer und am digitalen Schnittplatz sei lediglich ein Gewinn an Medienkompetenz zu verzeichnen, nicht aber unbedingt an Verständnis für die historische Dimension. Loretta Walz betonte, dass es ihr wichtig sei, Verständnis für den Film zu schaffen und die Wahrnehmung der Jugendlichen zu schärfen. Die aktive Medienarbeit solle nur ein Baustein des Angebots der Gedenkstätte darstellen und auf moderne Art und Weise zur Auseinandersetzung mit der Gedenkstätte beitragen.
In einem weiteren Diskussionsbeitrag wurde nach der Dominanz der Technik gefragt. Rücke diese bei dem Projekt nicht viel zu sehr in den Vordergrund, während die inhaltliche Dimension ins Hintertreffen geriete? Loretta Walz erwiderte darauf, dass über die Technik Jugendliche ein vertieftes Verständnis für den Inhalt entwickeln könnten. Diese Herangehensweise wurde von einigen Teilnehmern wiederum als durchdachte, didaktische Herangehensweise bezeichnet. Zentral für das Projekt sei die Tatsache, dass alle Frauen ihre Interviews für jegliche Gedenkstättenarbeit zur Verfügung gestellt hätten.

Der Direktor des Instituts für Geschichte und Biographie der FernUniversität Hagen, Dr. Alexander von Plato, hat in seinem Vortrag "Erfahrung bei der Erarbeitung von Filmsequenzen bzw. Einführungsfilmen für Ausstellungen" darauf aufmerksam gemacht, dass wir uns mit dem Tod der Zeitzeugen in einer Übergangszeit von erlebter Vergangenheit zu historiographisch konstruierter Vergangenheit befänden.
Im Folgenden führte von Plato die Vor- und Nachteile von Audio-, bzw. Videoaufnahmen an. Audioaufnahmen seien demnach durch eine Intimität gekennzeichnet, die durch das Mikrofon und die Abwesenheit der Kamera zustande käme. Audiointerviews seien leichter zu archivieren und spontaner zu realisieren als Videoaufnahmen. Diese hätten den Vorteil des bildhaften Hintergrunds: Mimik und Gestik des Zeitzeugen sind zu sehen und vermitteln wichtige Zusatzinformationen. Die Produktion sei zwar teurer, dafür sei das Produkt aber besser zu verkaufen bzw. besser didaktisch einzusetzen.
Von Plato hebt hervor, dass Experteninterviews zu einem speziellen Einzelthema auf lebensgeschichtliche Interviews ausgeweitet werden sollten. Auch von Plato präsentierte drei Beispiele seines filmischen Schaffens, wobei nur das letzte hier Erwähnung finden soll. Der Dokumentarfilm „Szczurova – Ein Beispiel für den Völkermord an Sinti und Roma“ wurde für das „Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma“ produziert. Er erzählt die Geschichte von 94 Frauen, Männern und Kinder, die am 3.7.1943 von drei deutschen Polizisten umgebracht worden sind. Erst im Abspann des Films erfährt der Zuschauer, dass ein Teil der Bilder von NS-Mordaktionen, nicht aus dem Dorf Szczurova stammen. Dies führte zu Kritik, da nach der Debatte um die erste Wehrmachtsausstellung Bilder nicht mehr ohne Angabe des Kontextes gezeigt werden dürften. Von Plato erklärte daraufhin, der Film sei lange vor der Entlarvung der gefälschten Bilder der Wehrmachtsausstellung produziert worden. Der Film seit 1994 gezeigt worden, ohne je eine solche Kritik hervorgerufen zu haben.

Zwei Fragen sind während des zweitägigen Workshops immer wieder aufgeworfen worden. Zum einen die nach der Bebilderung und der Nachinszenierung von Filmen. Zum anderen die nach dem Umgang mit Täterbiographien. Für die zukünftige Gedenkstättenarbeit erscheint es richtungweisend, Opfer und Täterbiographien gegenüberzustellen. Diese Thematik sowie der Wunsch nach stärkerem Kontakt der Teilnehmer bereits im Vorfeld des nächsten Workshops wurde den Organisatoren als Aufgabe für das nächste Jahr mitgegeben.


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