Das Bild der Reformation in der Aufklärung

Das Bild der Reformation in der Aufklärung

Organisatoren
Verein für Reformationsgeschichte; Christoph Strohm, Theologische Fakultät, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg; Wolf-Friedrich Schäufele, Fachbereich Evangelische Theologie, Philipps-Universität Marburg
Ort
Heidelberg
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2015 - 10.10.2015
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Von
Wolf-Friedrich Schaufele, Fachbereich Evangelische Theologie, Philipps-Universität Marburg

Im Vorfeld des Reformationsjubiläums von 2017 und angesichts der damit einhergehenden verschiedenartigen Versuche einer Inanspruchnahme der Reformation und ihres Erbes für gegenwärtige kirchliche, kulturelle und gesellschaftliche Fragen widmete sich das interdisziplinäre, von der Fritz Thyssen Stiftung geförderte Symposium des Vereins für Reformationsgeschichte den spezifischen Bezugnahmen auf die Reformation in aufklärerischen Diskursen Deutschlands und Westeuropas im späteren 17. und 18. Jahrhundert. Mit diesen Bezugnahmen ist eine entscheidende Transformationsschwelle der Reformationsmemoria markiert. Obwohl sich aufklärerisches Denken insgesamt nicht mehr historisch legitimierte, stellten doch Anhänger wie Gegner der neuen Geistesrichtung regelmäßig historische Bezüge zur Reformation und ihren Protagonisten her, verstanden und bewerteten diese aber deutlich anders als in den Traditionen des Konfessionellen Zeitalters. Das Symposium verfolgte das Ziel, exemplarisch herauszuarbeiten, welche Zwecke der Rückgriff auf die Reformation im 17. und 18. Jahrhundert erfüllte, wie sich in diesem Zusammenhang die Beschreibung des Inhalts der Reformation veränderte und inwieweit man diesem Rückgriff eine impulsgebende Wirkung zuschreiben kann.

THOMAS KAUFMANN (Göttingen) analysierte das Bild Luthers und der Reformation in der wirkungsmächtigen „Historia Lutheranismi“ Veit Ludwigs von Seckendorff sowie bei Johann Georg Walch und Ernst Salomo Cyprian und zeigte, wie bei den beiden Letzteren die frühaufklärerische Historisierung der Reformation durch eine Retheologisierung konterkariert wurde. WOLF-FRIEDRICH SCHÄUFELE (Marburg) zeigte anhand ausgewählter Enzyklopädien aus Frankreich, England und Deutschland, dass in diesem bevorzugten Medium der Selbstaufklärung angesichts des meist geringen biographisch-historischen Interesses und des Bemühens um Unparteilichkeit nur Einzelzüge, aber noch kein Gesamtbild der Neubewertung der Reformation entwickelt wurden.

Die beiden folgenden Vorträge widmeten sich der Bezugnahme auf Luther in deutschen Debatten des 18. Jahrhunderts. MARTIN KESSLER (Göttingen/ Bonn) zeigte anhand von Lessings Argumentation im Fragmentenstreit, dass dieser eigentlich kein Verhältnis zu Luther besaß, aber schon früh in seinem Eintreten für Toleranz, Geistes-, Gewissens- und Meinungsfreiheit als „struktureller Schüler Luthers“ angesehen wurde. Die Ambivalenzen und die letztendliche Eskamotierung der Bezugnahme auf Luther als angeblichen Vertreter der Lehre vom Seelenschlaf in der für das 18. Jahrhundert zentralen aufklärerischen Debatte um die Unsterblichkeit der Seele arbeitete FRIEDEMANN STENGEL (Halle) heraus.

In einem öffentlichen Abendvortrag demonstrierte ALBRECHT BEUTEL (Münster) anhand von Beispielen aus Politik, Literatur und Theologie, wie die Reformation unter Absehung von religiös-theologischen Inhalten als Legitimationsinstanz für die emanzipatorischen Anliegen der Aufklärung in Anspruch genommen wurde. Diese Inanspruchnahme war auch möglich, weil die Reformation mit ihren Tendenzen zur Liberalisierung, Individualisierung und Verwissenschaftlichung auch historisch zwar nicht als alleinige Ursache, aber doch als Inaugurationsinstanz der deutschen Aufklärung angesehen werden kann.

Der Sicht auf Zwingli in der schweizerischen Frühaufklärung, insbesondere den verschiedenen Zürcher „Collegien“ und in der rhätischen Reformationsgeschichte von P. D. Rosius a Portas, widmete sich EMIDIO CAMPI (Zürich). Danach wurde Zwingli als Vorläufer einer moralischen Vernunftreligion in Anspruch genommen und auch material gegen die reformierte Orthodoxie in Stellung gebracht, seine Differenzen zu Luther wurden abgeblendet. Für die „Hallische Aufklärung“ zeigte CHRISTOPHER VOIGT-GOY (Mainz/ Heidelberg), wie Sigmund Jakob Baumgarten Luthers Katechismus für seine eigene Theologie vereinnahmte, während sein Schüler Johann Salomo Semler sich sowohl von Baumgarten wie von Luther emanzipierte, auch wenn er zeitlebens an der Rechtfertigungslehre festhielt und für sich eine strukturelle Schülerschaft zu Luther reklamierte.

Zwei weitere Vorträge behandelten aufklärerische Diskurse auf den britischen Inseln. UTE LOTZ-HEUMANN (Tucson) machte deutlich, wie noch auf den Auseinandersetzungen um eine Aufhebung der antikatholischen Penal Laws im Irland der 1770er-Jahre „der lange Schatten der Reformation“ lag. ROBERT VON FRIEDEBURG (Rotterdam) arbeitete an ausgewählten Beispielen heraus, welche Rolle der Rückbezug auf die Reformation und den englischen Bürgerkrieg in der Abgrenzung gemäßigter britischer Aufklärer vom Katholizismus wie von der radikalen Aufklärung spielte.

KLAUS UNTERBURGER (Regensburg) führte vor, wie sich in der katholischen Aufklärung das Eingeständnis der Reformbedürftigkeit der mittelalterlichen Kirche und das Interesse an ökumenischer Verständigung mit der traditionellen Kritik an Luthers Charakter verbinden konnte, wie aber die Reformation bei radikalen Aufklärern auch als notwendige Revolution und Grundlage gegenwärtiger Reformanliegen bejaht werden konnte. Exemplarisch für die pietistische Sicht auf die Reformation behandelte WOLFGANG BREUL (Mainz) deren umfangreiche Darstellung in Gottfried Arnolds „Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie“, wo die überwiegend positiv beurteilten ersten sieben Jahre der nachfolgenden Verfallsgeschichte gegenübergestellt werden, während die radikale Reformation insgesamt günstiger bewertet wird.

Dass der Rekurs auf Luther auch außerhalb religiös-theologischer Diskurse eine zentrale Rolle spielen konnte, zeigte CHRISTOPH STROHM (Heidelberg) am Beispiel des Hallenser Juristen Christian Thomasius, der Luther häufig als Befreier von der Klerikerherrschaft und Vorkämpfer der Gewissensfreiheit sowie als Begründer einer biblischen, nicht philosophisch verfremdeten Theologie in Anspruch nahm. Dem Umgang mit der künstlerischen Tradition des Reformationszeitalters im 18. Jahrhundert widmete sich BRIDGET HEAL (St. Andrews); während man bei der Modernisierung von Kirchenräumen, etwa in Berlin und Leipzig, die reformatorischen Bildwerke aussonderte, zeigte sich in der Bibelillustration eine deutliche Fortdauer reformatorischer Bildmotive. MATTHIAS POHLIG (Münster) ging dem Bild des Humanismus im Aufklärungszeitalter nach, insbesondere der Aufwertung des Erasmus und, im geringeren Maße, Melanchthons, und diskutierte in diesem Zusammenhang zugleich kritisch den Erkenntniswert ideengeschichtlicher Rekonstruktionen für heutige Aufklärungsdeutungen. ALEXANDER BITZEL (Heidelberg) stellte den bekannten Göttinger Aufklärungstheologen Johann Lorenz von Mosheim als Homiletiker vor, der sich für sein Ideal der erbaulichen Predigt mit der Verbindung von Affekt- und Vernunftadresse dezidiert auf reformatorische Vorbilder berief, faktisch jedoch der lutherischen Barockpredigt verhaftet war.

Die letzten beiden Vorträge behandelten den Blick der aufklärerischen deutschen Historiographie auf die Reformation. VOLKMAR ORTMANN (Kassel/ Schwäbisch Gmünd) zeigte, wie in den Versuchen, die traditionelle Jahrhundertgliederung in den Kirchengeschichtsdarstellung durch differenziertere Periodisierungsmodelle zu ersetzen, die Reformation zunehmend als eigener, abgeschlossener Zeitraum und als Zäsur zwischen „alter“ und „neuer“ Kirchengeschichte konzipiert wurde. DIRK FLEISCHER (Reken) führte in einem materialreichen Überblick über die Geschichtsdarstellungen der Zeit unter besonderer Berücksichtigung von Karl Renatus Hausen die verschiedenen Varianten einer Bezugnahme auf die durchweg als kulturelle Größe verstandene Reformation vor.1

Insgesamt zeigte sich, dass Anhänger wie Gegner der Aufklärung die eigenen Anliegen regelmäßig in eine Kontinuität mit den Anliegen der Reformation zu stellen suchten. Im Vordergrund standen dabei bestimmte Lehren wie die reformatorische Kritik an römischem Aberglauben oder die Berufung auf Luthers Grundsatz des Priestertums aller Getauften, den man auch gegen das eigene (lutherische) Klerikertum wandte. Häufig erscheint die Bezugnahme personalisiert, wobei Luther, aber auch häufig Zwingli und Melanchthon, nicht dagegen Calvin in Anspruch genommen werden, freilich auch hier wieder vor allem im Blick auf ihre Persönlichkeit und nicht mit ihren eigenen religiösen Anliegen.

Über die Sammlung und Sichtung der Einzelbeobachtungen hinaus entwickelte sich während des Symposiums eine leidenschaftlich geführte Debatte über die Bedeutung der so gewonnenen Befunde für das Verständnis der Aufklärung in der Vielfalt ihrer verschiedenen Spielarten. Auf der einen Seite wurde die Notwendigkeit betont, protestantische Prägungen neben anderen zur Deutung der Genese der Aufklärung – nicht nur in Deutschland, sondern auch im englischen Deismus – heranzuziehen. Auf der anderen Seite wurde schon das Thema der Tagung als für die Aufklärungsforschung eher abseitig problematisiert und die Relevanz spezifischer konfessioneller Prägungen für die Aufklärung in Frage gestellt. So kam es zu kontrovers geführten, grundsätzlichen Debatten über die unterschiedlichen Erkenntnisinteressen und methodischen Zugänge zwischen allgemeiner Geschichtswissenschaft und theologischer Kirchengeschichtsschreibung. Die Ergebnisse dieser Diskussion sollen gemeinsam mit den Vorträgen der Tagung in einem Tagungsband in den „Schriften des Vereins für Reformationsgeschichte“ dokumentiert werden.

Konferenzübersicht:

Thomas Kaufmann (Göttingen): „Aspekte des Bildes Luthers und der Reformation im frühen 18. Jahr-hundert“

Wolf-Friedrich Schäufele (Marburg): „Das Bild der Aufklärung in den Enzyklopädien der europäischen Aufklärung“

Martin Keßler (Göttingen/Bonn): „Die Berufung auf Luther und die Reformation im Fragmentenstreit“

Friedemann Stengel (Halle): „Luther, Aufklärung, Unsterblichkeit. Anmerkungen zu einer zentralen Debatte des 18. Jahrhunderts“

Albrecht Beutel (Münster): „Die reformatorischen Wurzeln der Aufklärung“

Emidio Campi (Zürich): „Der Rückgriff auf Zwinglis Reformation in der schweizerischen Frühaufklärung“

Christopher Voigt-Goy (Mainz/Heidelberg): „Luther in der ‚Hallischen Aufklärung‘: Sigmund Jacob Baumgarten und Johann Salomo Semler“

Ute Lotz-Heumann (Tucson): „Im Westen nichts Neues? Der lange Schatten der Reformation im Irland des 18. Jahrhunderts“

Robert von Friedeburg (Rotterdam): „Rezeption und Bewertung der Reformation auf den britischen Inseln“

Klaus Unterburger (Regensburg): „Der Rekurs auf die Reformation in der katholischen Aufklärung“

Wolfgang Breul (Mainz): „Das Bild der Reformation im Pietismus mit besonderer Berücksichtigung Gottfried Arnolds“

Christoph Strohm (Heidelberg): „Luther-Rezeption bei dem Juristen Christian Thomasius“

Bridget Heal (St. Andrews): „Reformationsbilder in der Kunst der Aufklärung“

Matthias Pohlig (Münster): „Erasmus und Melanchthon im 18. Jahrhundert“

Alexander Bitzel (Heidelberg): „Johann Lorenz von Mosheims Erneuerung der Predigt vor dem Hinter-grund der reformatorischen Homiletik“

Volkmar Ortmann (Kassel/Schwäbisch Gmünd): „Die Reformation als Ereignis, Epoche oder Periode? Die Veränderungen in der protestantischen Perspektive um die Mitte des 18. Jahrhunderts“

Dirk Fleischer (Reken): „Identität durch Erinnerung. Der Reformationsbegriff in Geschichtsdarstellungen der Aufklärungszeit“

Anmerkung:
1 Vorgesehene Vorträge über das Calvin-Bild in der französischen Aufklärung und über die Wahrnehmung Luthers in der jüdischen Haskala mussten leider entfallen, werden aber im Tagungsband erscheinen.


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