Frühneuzeitliche Stadtgeschichte und die Herausforderung der turns. Frankfurt am Main im Vergleich

Frühneuzeitliche Stadtgeschichte und die Herausforderung der turns. Frankfurt am Main im Vergleich

Organisatoren
Julia A. Schmidt-Funke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Matthias Schnettger, Historisches Seminar, Johannes Gutenberg-Universität Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.06.2015 - 20.06.2015
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Von
Jan Turinski, Historisches Seminar – Neuere Geschichte, Johannes Gutenberg-Universität Mainz

Verschiedene Zugänge zur frühneuzeitlichen Stadtgeschichte lotete ein Workshop aus, der am 19. und 20. Juni 2015 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz stattfand. Julia A. Schmidt-Funke (Jena) und Matthias Schnettger (Mainz) hatten dazu eingeladen, die Herausforderung der turns anzunehmen und einen vergleichenden Blick auf die Städtelandschaft des Alten Reiches zu werfen. Im Mittelpunkt stand mit Frankfurt am Main eine Reichsstadt, die als Messe-, Wahl- und Krönungsort das Interesse der Forschung genauso beanspruchen kann wie aufgrund ihrer komplexen konfessionellen Gemengelage und ihrer teils spektakulären inneren Konflikte. Matthias Schnettger und Julia A. Schmidt-Funke stellten einleitend heraus, dass gerade eine stadtgeschichtlich gut erschlossene Stadt wie Frankfurt am Main dazu auffordere, die mit den cultural turns der vergangenen Jahre verbundenen Perspektivwechsel fruchtbar zu machen.

Der Workshop gliederte sich in vier Sektionen, deren erste raumbezogenen Fragestellungen ein Forum bot. Um eine Verortung des Frankfurter Patriziats im stadträumlichen Gefüge ging es ANDREAS HANSERT (Frankfurt am Main) in einem ersten Vortrag. Er nahm dafür vier Räume näher in den Blick: das Wohnhaus, die Trinkstube, die Ratsstube und die Kirche. Hansert stellte heraus, dass die Zugänglichkeit zu diesen Räumen an jeweils unterschiedliche Kriterien gebunden sei. Im Vergleich wurde die Ratsstube als am weitesten abgeschlossener Raum erkennbar. Frauen, illegitime Nachkommen, die (vorreformatorische) patrizische Stiftsgeistlichkeit sowie nahe männliche Verwandte seien von ihr systematisch ausgeschlossen worden. Hanserts vergleichender Zugriff machte aber deutlich, dass diese Abschottung durch die Zugänglichkeit zu anderen Räumen aufgebrochen werden konnte.

Mit Grenzziehungen und distinkten Räumen der im nachreformatorischen Frankfurt aufeinandertreffenden Konfessionen bzw. Religionen befasste sich MATTHIAS SCHNETTGER (Mainz). In der Frankfurter Sakraltopographie setzte erst im späten 17. Jahrhundert der repräsentative Neubau der Katharinenkirche einen lutherischen Gegenakzent zum katholischen „Kaiserdom“, während die in der Stadt ansässigen Reformierten lange über kein Gotteshaus verfügten. Schnettger skizzierte den Kampf um die Präsenz in öffentlichen Frankfurter Räumen und zeigte, wie das Sakralmanagement der lutherischen Stadtregierung im Zuge einer intendierten Purifikation dieser Räume eine möglichst weitgehende Marginalisierung der konfessionellen Minderheiten bzw. ihrer Sakralhandlungen anstrebte.

Den dritten Beitrag zu dieser Sektion leistete GEORG STÖGER (Salzburg) mit einem Vortrag zur städtischen Umweltgeschichte. Stöger ordnete Raumtheorien neben den Konzepten des urbanen Metabolismus und der urban governance als einen von drei Zugängen zur Umweltgeschichte ein. Raum habe bereits bei klassischen umweltgeschichtlichen Fragestellungen wie der Ver- und Entsorgung oder der Stadt-Hinterland-Beziehungen eine zentrale Rolle gespielt. Einen vielversprechenden Zugang zur frühneuzeitlichen Stadt als Ökosystem erkannte Stöger vornehmlich in der Beschäftigung mit der Ressource Wasser. Beispielsweise lasse sich anhand städtischer Brunnen eine Sozial- und Kulturgeschichte des Wasserholens und der Wasserversorgung schreiben, die nicht nur tiefe Einblicke in das städtische Miteinander erlaube, sondern den Brunnen auch als Zeugnis und Symbol der urbanitas ausweisen könne.

Den Auftakt zur zweiten, Wahrnehmungen gewidmeten Sektion machte ein Vortrag von PHILIP HAHN (Tübingen) zur Sinnesgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt. Hahn plädierte dafür, Sinne im Anschluss an die sensory history als ein Thema der Stadtgeschichte ernst zu nehmen. Gerade in frühneuzeitlichen Anwesenheitsgesellschaften sei der Stellenwert der sinnlichen Wahrnehmung als hoch einzustufen. Nötig sei allerdings, in Abgrenzung zur älteren Forschung, eine Neuausrichtung der Sinnesgeschichte: Sinneswahrnehmung müsse konsequent historisiert werden, etablierte Entsinnlichungsnarrative müssten hinterfragt und die Beschränkung auf nur einen Sinn (Sehsinn, Gehör) müsse aufgegeben werden.

Mit der literarischen Konstruktion der Stadt in der auf Frankfurt bezogenen laus urbis befasste sich URSULA PAINTNER (Bonn). Ausgehend von der Beobachtung, dass Städte den Raum kartographischer und kosmographischer Darstellungen strukturierten, richtete Painter an die in antik-humanistischer Tradition stehende Textgattung des Städtelobs die Frage, welche Gestalt der städtische Raum hier annehme. Ihr vergleichender Blick auf Texte des 16. und 17. Jahrhunderts machte deutlich, dass die von ihr untersuchten Beschreibungen Frankfurts die Stadt am Main wider Erwarten nicht als architektonisch geprägten Raum erfassten. Stattdessen werde Frankfurt als Ort kommerziellen, historischen oder sozialen Geschehens konstruiert.

In welcher Form die Stadt im 18. Jahrhundert als soziales Gefüge beschrieben werden kann und mit welcher Vorsicht die vorhandenen Quellen zu benutzen sind, stellte anschließend VERA FASSHAUER (Frankfurt am Main) anhand der Tagebücher des Frankfurter Stadtphysikus Johann Christian (von) Senckenberg (1707–1772) dar. Faßhauer führte zunächst aus, dass sich die frühen Tagebücher Senckenbergs in Selbstbeobachtung erschöpften, und erklärte dies überzeugend mit Senckenbergs radikalpietistisch inspiriertem Anliegen, die menschliche Physis und Psyche empirisch zu ergründen. Seit den 1740er-Jahren habe Senckenberg seine Beobachtungen auch auf seine Mitmenschen ausgedehnt, wobei der von ihm angenommene Zusammenhang von körperlichen Gebrechen und sündhaftem Leben dazu geführt habe, beidem einen hohen Stellenwert in seinen Aufzeichnungen einzuräumen und seine Zeitgenossen in einem äußerst negativen Licht erscheinen zu lassen.

In seinem Abendvortrag warf GERD SCHWERHOFF (Dresden) die Frage auf, inwiefern von einer eigenständigen frühneuzeitlichen Stadtgeschichte gesprochen werden könne. Schwerhoff stellte zunächst fest, dass die Erforschung der frühneuzeitlichen Stadt gegenüber der traditionell auf das Mittelalter ausgerichteten älteren Stadtgeschichte erheblich aufgeholt habe. Der Entwicklung eigener Paradigmen, Profile oder Zugänge stehe es jedoch prinzipiell entgegen, dass gerade die Stadt ein Kontinuum zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit im Sinne des Alteuropa-Konzeptes darstelle. Als vielversprechende Arbeitsfelder einer kulturgeschichtlich ausgerichteten, frühneuzeitlichen Stadtgeschichte nannte Schwerhoff die Herausforderung und Herstellung öffentlicher Ordnung in der Stadt, die Kriminalitätsforschung, die Stadt als Zentrum von Aufschreibe-Praktiken und die Stadt als emotional community.

PHILIP HOFFMANN-REHNITZ (Münster) eröffnete am Folgetag die Sektion zur Kulturgeschichte des Ökonomischen. In seinem Forschungsüberblick skizzierte er die Konturen einer kulturgeschichtlich orientierten Wirtschaftsgeschichte der frühneuzeitlichen Stadt mit sieben Themenfeldern: Stadtwahrnehmungen, Märkte und Handelspraktiken, materielle Kultur und Konsum, Kredit, Zünfte und Kooperationen, Innovationen und wirtschaftliches Entscheiden. Hoffmann-Rehnitz betonte dabei, wie sehr sich die städtische Wirtschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit eindeutigen Narrativen von Aufstieg und Niedergang, Abschließung und Öffnung entziehe. Tieferen Einblick gab er hierbei in sein aktuelles Forschungsprojekt zum wirtschaftlichen Entscheiden, das sich in kulturgeschichtlicher Perspektive mit dem wirtschaftswissenschaftlichen Axiom des rational choice befasst.

JULIA A. SCHMIDT-FUNKE (Jena) erörterte am Frankfurter Beispiel, wie sich die frühneuzeitliche Stadt in ihrem Umgang mit den Dingen konstituierte. So lasse sich aus konsumhistorischer Perspektive zunächst nach der Verbindung von Markt und Stadt fragen: Märkte seien ein Grundelement dessen, was Stadt ausmache, und die Sicherstellung und Ordnung des Konsums zähle zu den Kernaufgaben Guter Policey. Zweitens könne nachvollzogen werden, wie das Mit- und Gegeneinander der verschiedenen Gruppen der Stadtbevölkerung auf dem Feld des Konsums und der materiellen Kultur verhandelt wurde. Davon ausgehend lasse sich drittens erforschen, wie Kleidung, Nahrung und Hauseinrichtung innerhalb der städtischen Gesellschaft trennend und verbindend wirkten und in welchem Maß einzelne Dinge mit Bedeutung aufgeladen wurden.

Den Abschluss der Sektion bildete der Beitrag von ROBERT BRANDT (Frankfurt am Main), der das Frankfurter Handwerk im Kontext der neueren Handwerksgeschichte verortete. Um das Nebeneinander von Marktfeindlichkeit und Marktorientierung innerhalb des städtischen Handwerks begrifflich zu fassen, regte Brandt zum einen an, von einer handwerklichen Marktwirtschaft zu sprechen, eingebettet in einen übergeordneten, politischen Kontext: Dem Handwerk sei es so Brandt, nicht um generelle Vermeidung, sondern um Regulierung von Wettbewerb gegangen. Zum anderen plädierte Brandt dafür, die Interaktion des Handwerks mit der Obrigkeit nicht allein mit wirtschaftlichen Motiven zu erklären, sondern sie auch als Kampf um politische Anerkennung innerhalb der Bürgerschaft zu interpretieren.

Mit der Kulturgeschichte des Politischen befasste sich die vierte und letzte Sektion. JOACHIM EIBACH (Bern) griff die am Vortag bereits diskutierten Fragen der Sichtbarkeit und Zugänglichkeit erneut auf, um am Frankfurter Beispiel über die Regulierung von Heterogenität in der frühneuzeitlichen Stadt nachzudenken. Eibach setzte bei der Überlegung an, dass die durch Devianz und Distinktion innerhalb der städtischen Gesellschaft entstehende Heterogenität in einem Spannungsverhältnis zu dem städtischen Grundwert der Homogenität stehe. Beides sei in der frühneuzeitlichen Stadt austariert worden, indem Präsenz und Sichtbarkeit teils eingeschränkt, teils eingeräumt worden seien. Verständlich würden, so Eibach, vor diesem Hintergrund auch ritualisierte Agone wie der oberitalienischen palio oder das anlässlich der kaiserlichen Krönungsfeierlichkeiten stattfindende Gerangel auf dem Frankfurter Römerberg.

Die Einflusszonen auswärtiger Mächte innerhalb der Stadt und ihre Nutzung durch die städtischen Akteure beleuchtete THOMAS LAU (Fribourg) am Beispiel der ersten Regierungsjahre Kaiser Franz’ I. (1745–1765). Vor dem Hintergrund des entstehenden preußisch-österreichischen Dualismus rekonstruierte Lau, wie in der Stadt verschiedene Interessenlagen aufeinandertrafen und zu – teils erstaunlichen – Koalitionen führten. Lau zeigte dies anhand einer Auseinandersetzung um Münzmanipulationen in der Judengasse, anhand der Verhaftung Voltaires in Frankfurt sowie anhand des Konflikts um die Religionsausübung der Frankfurter Reformierten. In letztem Fall war es ausgerechnet der Kaiser, der gegen Preußen Partei für die Sache der Reformierten ergriff.

Abschließend beschäftigte sich ANDRÉ KRISCHER (Münster) mit der symbolischen Kommunikation in der auswärtigen Politik der Stadt Frankfurt. In kritischer Auseinandersetzung mit den Urteilen der älteren stadtgeschichtlichen Forschung über die vermeintliche Belanglosigkeit der städtischen Außenpolitik plädierte Krischer für eine kulturgeschichtliche Erforschung der Diplomatie der Mindermächtigen, die als asymmetrische Beziehung zu erfassen und zu erklären sei. Eine Stadt wie Frankfurt habe ihren eigenen Machtraum innerhalb der frühneuzeitlichen Fürstengesellschaft mit symbolischen Mitteln wie der Gabe von Geschenken oder der Präsentation von Kunstwerken markiert.

Der Workshop machte deutlich, dass die Stadt ein unverzichtbares Forschungsfeld einer kulturgeschichtlich ausgerichteten Frühneuzeitforschung ist und bleibt. Auch bei vermeintlich gut erforschten frühneuzeitlichen Städten ist das diesbezügliche Potential noch lange nicht ausgeschöpft. Zukünftige Forschungen sollten die Anregung Schwerhoffs aufgreifen, kulturgeschichtliche Ansätze zu nutzen, um die Stadt als Ganzes besser verstehen zu lernen. Dann kann, im Sinne Schwerhoffs, nicht nur eine Kulturgeschichte in, sondern eine Kulturgeschichte der Stadt geschrieben werden.

Konferenzübersicht:

Begrüßung

Sektion „Räume“
Moderation: Michael Matthäus, Frankfurt am Main

Andreas Hansert (Frankfurt am Main): Das Frankfurter Patriziat im stadträumlichen Gefüge

Matthias Schnettger (Mainz): Sichtbare und unsichtbare Grenzen. Katholiken, Reformierte und Juden in der lutherischen Reichsstadt Frankfurt

Georg Stöger (Salzburg): Städtische Umwelten: Frankfurt and beyond

Sektion „Wahrnehmungen“
Moderation: Jörg Rogge, Mainz

Philip Hahn (Tübingen): Städtischer Sinneswandel, oder: Warum die Stadtgeschichte eine sensory history braucht

Ursula Paintner (Bonn): Konstruktion und Wahrnehmung städtischer Räume in der laus urbis

Vera Faßhauer (Frankfurt am Main): Stadtwahrnehmung im Selbstzeugnis. Die Senckenberg-Tagebücher

Öffentlicher Abendvortrag
Gerd Schwerhoff (Dresden): Gibt es eine frühneuzeitliche Stadtgeschichte?

Sektion „Kulturgeschichte des Ökonomischen“
Moderation: Gunter Mahlerwein, Mainz

Philip Hoffmann-Rehnitz (Münster): Städtische Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte: Positionen und Perspektiven der Forschung

Julia A. Schmidt-Funke (Jena): Märkte und Materialitäten. Zum Umgang mit den Dingen im frühneuzeitlichen Frankfurt

Robert Brandt (Frankfurt am Main): Das Frankfurter Handwerk. Markt, Nahrung und der Kampf um Anerkennung

Sektion „Kulturgeschichte des Politischen“
Moderation: Thomas Weller, Mainz

Joachim Eibach (Bern): Regulierung der Heterogenität in der frühneuzeitlichen Stadt durch Präsenz und Sichtbarkeit

Thomas Lau (Fribourg): Habsburgs Rückkehr. Franz I. und die Reichsstadt Frankfurt

André Krischer (Münster): Symbolische Kommunikation in der städtischen Politik


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