Neuere Tendenzen in der Historiographiegeschichte

Neuere Tendenzen in der Historiographiegeschichte

Organisatoren
Stefan Berger, Bochum; Philipp Müller, Göttingen
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
17.07.2015 - 18.07.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Schwitanski, Archiv für soziale Bewegungen im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets, Bochum

Die von Stefan Berger (Bochum) und Philipp Müller (Göttingen) organisierte Tagung „Neuere Tendenzen in der Historiographiegeschichte“ eröffnete die Möglichkeit zu einer reflexiven Beschäftigung mit der Geschichte der eigenen Disziplin, die sehr rasch zu einer Reflexion über die Bedingungen und Möglichkeiten der historischen Erkenntnis wurde.

Den Anfang der Tagung bestritt LUTZ RAPHAEL (Trier), der in seiner Untersuchung handbuchartiger Literatur zur Historiographiegeschichte ein international zunehmendes Interesse an dieser innerhalb der vergangenen zwei Jahrzehnte feststellte. Moderne Darstellungen wollten im Gegensatz zur älteren Literatur kein positivistisches Listenwissen der Autoren und ihrer Werke bieten, sondern analysierten die Tendenzen moderner Geschichtsschreibung weltweit unter einem durchaus dezentrierten Blick auf verschiedene Traditionen. Zeitlich lägen die Schwerpunkte dabei auf der Geschichtsschreibung des 19. und 20. Jahrhunderts, welche als Teil der Nationalstaatsbildung begriffen werde.

Raphael umriss aber auch ein größeres Feld von vorhandenen Desideraten und machte einige interessante Beobachtungen zum aktuellen Stand der Geschichtswissenschaft. So sah er nach 1990, bedingt durch die Globalisierung und dem Ende der Blockkonfrontation, zwar ein Ende der großen Nationalgeschichten und den Gewinn neuer Themen und Ressourcen durch die Historiographie, jedoch sei diese deswegen nicht unabhängiger geworden, sondern werde weiter politisch instrumentalisiert. Im Zusammenhang damit sah er zunehmend getrennte Entwicklungen in den historischen Teildisziplinen. Seien Altertumswissenschaftler, Mediävisten und Historiker der Frühen Neuzeit mit der Authentifizierung von Vergangenheit beschäftigt, so müssten Zeithistoriker immer mehr die Erinnerungskulturen ihrer Gesellschaften authentifizieren. Eine weitere Diskrepanz tue sich zunehmend zwischen denjenigen Historikerinnen und Historikern auf, die internationale und anglophone Geschichte schrieben und denjenigen, die Nationalgeschichte in ihren Muttersprachen betrieben.

JÖRN RÜSEN (Essen) überraschte mit der These, dass das historische Denken, der Prozess historischen Erkenntnisgewinns, wie er sich in der Neuzeit ausgebildet habe, ein Auslaufmodell sei. Bislang wesentliche Strukturen modernen historischen Denkens, wie sein wesentlich schriftlicher Ausdruck, die Bindung an Forschungsparadigmen, seine Rationalität aufgrund von Methoden und der Annahme eines realen Gegenstands, ausgedrückt im Kollektivsingular Geschichte, gingen zunehmend in neuen Formen auf. Gründe dafür seien unter anderen neuen Medien aber besonders der Cultural Turn innerhalb der Geschichtswissenschaft, der nicht ein neues Paradigma hervorgebracht, sondern in die Paradigmenlosigkeit geführt habe. Für Rüsen ging damit auch der Verlust einer sinnhaften Dimension von Geschichte einher, drohe doch mit dem Ende der Geschichte als verzeitlichter Menschheitsvorstellung auch der Verlust von Humanitätsvorstellungen.

FRANK REXROTH (Göttingen) beschäftigten die Unschärfen, die bei seinen Untersuchungen von Gelehrten an mittelalterlichen Universitäten entstünden. Zwar werde die Forschung primär durch disziplinimmanente Fragen an die Vergangenheit vorangetrieben, doch ließe sich nicht verhindern, dass Gegenwartsfragen die Interpretation beeinflussten. Diese Beeinflussung durch den Betrachter drücke sich in drei Grundstrukturen der Darstellung des historischen Stoffes aus, die Rexroth als Kontinuität, Alterität und gezielten Anachronismus bezeichnete. Werde bezüglich der Universitäten als Institutionen die Kontinuität dieser betont, so herrsche bezüglich der gelehrten Kommunikation des Mittelalters, den Praktiken der Gelehrten, das Erweisen von Alterität vor, die Erkenntnis der Zeitgebundenheit allen Wissens und die Darstellung von Brüchen. Den dritten Typus, den gezielten Anachronismus, sah Rexroth durch Jacques Le Goffs Buch „Die Intellektuellen im Mittelalter“ verkörpert.1 Le Goffs Auseinandersetzung mit der sozialen und politischen Funktion von Intellektuellen beruhe eigentlich auf französischen Debatten des 19. und 20. Jahrhunderts. Diesen unkontrollierten Anachronismus müsse insbesondere die seit Otto Brunner hörbare Kritik treffen, dass nur die strenge Berücksichtigung der Quellensprache dem Irrtum begegnen könne, historisch kontingente Phänomene zu universalisieren und mit einem überzeitlichen Charakter zu versehen. Andererseits, so Rexroth, sei die strenge Berücksichtigung der Quellensprache steril und führe letztlich zur Repräsentation der Quelle durch sich selbst. In Anlehnung an die französische Althistorikerin Nicole Loraux schlug Rexroth daher ein Verfahren des kontrollierten Anachronismus vor. Ein solches wende gezielt moderne Begriffe auf antike Phänomene an, reflektiere aber die Differenzen zwischen den modernen Begriffen und der Quellensprache und betreibe einen gezielten Wechsel zwischen den zeitlichen Ebenen des Beobachters und des Beobachteten.

Das Problem der Vermittlung von historischer Zeit – oder besser: historischen Zeiten – und der Gegenwart war auch Thema von LUCIAN HÖLSCHERs (Bochum) Vortrag. Hölscher illustrierte zunächst anhand mehrerer Beispiele das Vorkommen von sich überlagernden Zeitschichten in der historischen Literatur, die gegen die Vorstellung einer totalen, linear verlaufenden Zeit sprächen. Existiere aber jene lineare Zeit nicht, so könne es auch kein lineares Fortschrittsmodell geben, womit auch die Gültigkeit von Gegenwartsbegriffen zur Analyse der Vergangenheit infrage gestellt sei. Der Wandel dieser situativ gültigen Begriffe könne historisch untersucht werden, allerdings wiederum anhand von Begriffen, die als analytische überzeitliche Geltung beanspruchten. Durch diese Gegenüberstellung der situativen mit den überzeitlichen Begriffen ergäben sich zwei unterschiedliche Zeitwelten, durch deren Vermittlung der Raum für historische Deutung entstünde. Letztlich müsse sich der Historiker selbst historisieren, indem er anerkenne, dass auch die von ihm benutzten Begriffe Geltung nur in der Situation hätten, in der sie ihm, dem Historiker, als evident erscheinen. Indem also die Beschreibungsbegriffe der Historiographie als Strukturbegriffe der gegebenen Zeit begriffen würden, würde sich die Zeitlichkeit der Geschichte aufschließen lassen, wie Hölscher anhand von Überlegungen in einem Briefwechsel zwischen Reinhart Koselleck und Carl Schmitt darstellte.

Verschiedene Tendenzen zum Umgang mit Geschichte nach oder in gewaltsamen Konflikten zum Zwecke der Versöhnung beleuchtete BERBER BEVERNAGE (Gent). Bevernage zeigte anhand der Arbeit verschiedener Initiativen, von staatlichen Wahrheitskommissionen wie in Südafrika, über zwischenstaatliche Bestrebungen der Schulbuchrevision bis hin zu zivilgesellschaftlichen Initiativen wie im Israel-Palästina-Konflikt, dass das Verständnis von Geschichte abhängig ist von der Funktion, die von der jeweiligen Initiative innerhalb des Konflikts erwartet wird. Wahrheitskommissionen würden oft während gesellschaftlicher Transitionsprozesse installiert und seien Teil eines gesellschaftlichen Tauschprozesses zwischen zwei Parteien. In Südafrika habe der ANC darauf verzichtet, seine politische Machtposition zu einer gewaltsamen Revolution zu nutzen, stattdessen erringe er vor den Wahrheitskommissionen durch die quasi amtliche Feststellung einer bestimmten historischen Wahrheit einen moralischen Sieg. Innerhalb des ungelösten Konflikts zwischen Israel und Palästina, der jedoch auch kein klarer zwischenstaatlicher Konflikt sei, herrsche dagegen die Tendenz vor, die unterschiedlichen historischen Narrative der Konfliktparteien zu parallelisieren, ohne dabei nach einer dahinterstehenden Wahrheit zu fragen. Dabei gehe es nicht einmal darum, das Narrativ des jeweils anderen zu akzeptieren, sondern es zu respektieren. Jedoch gebe es auch innerhalb dieses Ansatzes unterschiedliche Ausprägungen. Dieser multiperspektivische Ansatz finde auch innerhalb der Vereinten Nationen zunehmend Interesse und Eingang in den Menschenrechtsdiskurs. Anstelle einer historischen Wahrheit sei hier die Authentizität der durch das Narrativ vermittelten historischen Erfahrung die regulative Idee, wobei allerdings das Recht der Opfer von Gewalt auf Anerkennung des erlittenen Unrechts zu kurz komme. Auch gehe mit dem multiperspektivischen Ansatz ein neues Verständnis von Konflikten einher, das diese wesentlich auf widerstreitende Identitäten zurückführe, die miteinander versöhnt werden müssten. Innerhalb dieses Verständnisses finde eine realistische Konflikttheorie kein Gehör mehr, die anerkenne, dass Konflikte auch durch materielle Interessen entstünden und es legitime Gewalt geben könne.

CHRIS LORENZ (Bochum) richtete die Aufmerksamkeit in seinem Vortrag auf das Problem normativer Elemente innerhalb historiographischer Periodisierungen. In Anlehnung an Jürgen Osterhammel zeigte Lorenz, dass gängige Periodisierungen der Zeit stets durch räumliche Konzepte beeinflusst seien, oftmals durch nationalstaatliche Räume, selbst wenn diese für den fraglichen Zeitabschnitt kontrafaktisch seien. Selbst kulturgeschichtliche Periodisierungen wie Renaissance, Barock etc. enthielten implizite Nationalisierungen oder seien zumindest europabezogen, ebenso wie die gängige Einteilung der historischen Großepochen nach Antike, Mittelalter und Moderne/Neuzeit. Gerade in den Großepochen werde die eurozentrische Grundlage sehr deutlich und offenbare auch ihren normativen Charakter, beruhe sie doch auf der Vorstellung einer Geschichte, die sich teleologisch zur europäischen Moderne hin entwickle. Die von Osterhammel vorgeschlagenen, multiplen Periodisierungen, angelehnt an globale Entwicklungen etwa innerhalb der Ökonomie oder an Zäsuren in der Umweltgeschichte, die miteinander zu verbinden wären, schafften Zeitschichten, was an Kosellecks gleichnamiges Konzept erinnere, dass von Achim Landwehr als Neuformulierung von Kosellecks Konzept der „Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen“ verstanden worden sei. Dieses Konzept tauge, so Lorenz, jedoch nicht als Vorlage für ein nichtnormatives Verständnis von Periodisierung und eine nichtlineare Vorstellung von Zeit, verlange die Feststellung des Gleichzeitigen doch einen normativ gesetzten Standpunkt, von dem aus Abweichendes als ungleichzeitig erkannt werden könne.

Dass die Begriffe der Wahrheit und Objektivität innerhalb der Geschichtswissenschaft hochgradig problematisch und umstritten seien, machte KLAUS RIES (Jena) zum Ausgang seiner Überlegungen. Angelehnt an Nietzsches Typologisierungen vom Umgang mit der Geschichte in den „Unzeitgemäßen Betrachtungen“ machte Ries drei Traditionslinien im Umgang mit dem Objektivitätsproblem aus, deren erste von Wilhelm von Humboldt und Leopold von Ranke bis Thomas Nipperdey und einigen jüngeren Historikern reichen sollte. Mit Nietzsche warf er dieser Traditionslinie vor, durch die Vorgabe einer vermeintlich objektiven Erkenntnis der Geschichte in eine Haltung interessenloser Anschauung zu verfallen, die eben darum keine Erkenntnis sein könne, weil sie keinen Bezug zum Gegenwärtigen habe. Von dieser Tradition grenzte Ries eine zweite ab, die er von der Göttinger Aufklärungshistoriographie des 18. Jahrhunderts zur Bielefelder Sozialgeschichte der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zog. In den Augen ihrer Gegner seien die Vertreter dieser Tradition „Perspektivisten“, die erkenntnistheoretische mit Wertfragen verbunden hätten und durch den von ihnen als notwendig erachteten Gegenwartsbezug des historischen Erkenntnisprozesses teleologisch enggeführte Geschichtsschreibung betrieben hätten.

Zwischen diesen beiden, sich gegenseitig ausschließenden Traditionen existiere eine dritte, die von Kant über Schiller und Droysen zu Max Weber reiche und die zu Ries' Bedauern innerhalb der deutschen Historiographie zu wenig rezipiert worden sei. Diese Tradition erkenne zwar die Perspektivgebundenheit der Historiographie und ihren Gegenwartsbezug an, beide seien jedoch nicht willkürlich oder subjektivistisch, sondern ergäben sich aus dem historischen Material und dem Fortschreiten der historischen Forschung. Diesem liege zwar eine Ordnung zugrunde, es sei jedoch nicht die gedankliche Ordnung der Dinge, sondern die gedankliche Ordnung der Forschungsprobleme.

Obschon die Organisatoren der Tagung auf die Formulierung von Leitfragen verzichtet hatten, ergab sich ein kohärentes wie anregendes Gespräch. Dieses führte immer wieder zu den zentralen Fragen von Zeit, Fragen über die konstitutiven Bedingungen historischer Erkenntnis und die Sinndimensionen von Geschichte. Abschließende Antworten auf diese Fragen bot die Tagung freilich nicht, vielmehr machte sie deutlich, dass gerade neuere Entwicklungen wie die zunehmende Bedeutung digitaler Medien, das dichter werdende internationale Gespräch zwischen Historikerinnen und Historikern, veränderte historische Erzählformen und ähnliches mehr, diesen alten Problemen neue Relevanz verleihen.

Konferenzübersicht:

Stefan Berger (Bochum) / Philipp Müller (Göttingen), Begrüßung

Lutz Raphael (Trier), Im Schatten von Handbuchwissen und neuen Problemlagen. Aktuelle Tendenzen in der Historiographie der modernen Geschichtsschreibung

Jörn Rüsen (Essen), Geschichtsschreibung im Übergang: Beobachtungen zum Strukturwandel des historischen Denkens

Frank Rexroth (Göttingen), Techniken der Sinnkonstruktion in der Vormoderne-Historiographie: Kontinuität, Alterität und kontrollierter Anachronismus

Lucian Hölscher (Bochum), Die Historisierung historischer Zeiten. Erinnerungsgeschichte und Erwartungsgeschichte

Berber Bevernage (Gent), Historians and historical reconciliation: An overview of and critical analysis of some recent initiatives

Chris Lorenz (Bochum), „The Times, They Are- a Changing.” On Time Space and Periodisation in History

Klaus Ries (Jena), Wahrheit und Objektivität in der historischen Erkenntnis

Anmerkung:
1 Jacques Le Goff, Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 1986.


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