Institutionen der Erinnerung

Institutionen der Erinnerung

Organisatoren
Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen
Ort
Hannover
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.11.2015 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Wolfgang Brandes, Stadtarchiv Bad Fallingbostel

Erinnerungsorte sind nicht nur topographisch fassbare Orte, die materiell im Raum verortet werden können, sondern auch „Goethe“, „Volkswagen“ und „Bundesliga“ fanden Eingang in die drei Bände der „Deutschen Erinnerungsorte“. Von den Herausgebern wurden Erinnerungsorte als Kristallisationspunkte kollektiver Erinnerung und Identität betrachtet. Sichtet man die bisher vorliegenden Publikationen über Niedersachsen, dann erweist sich das Manko, dass die mit diesen Erinnerungsorten verbundenen Aushandlungsprozesse nicht ausreichend reflektiert werden. Wie DETLEF SCHMIECHEN-ACKERMANN (Hannover) und JOCHEN OLTMER (Osnabrück) in ihrer Einführung betonten, will sich der Arbeitskreis für die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts der Historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen deshalb bei seiner Beschäftigung mit kollektiver Erinnerung in Niedersachsen wissenschaftlich-kritisch damit auseinandersetzen, wer Erinnerungsorte macht, welche Akteure an der Schaffung, Entwicklung und Produktion von Erinnerung beteiligt sind und wie die Prozesse des Aushandelns ablaufen.

HARALD SCHMID (Kiel) beschäftigte sich mit „Ort und Vergegenwärtigung. Das Konzept der ‚Erinnerungsorte‘ zwischen Institution und Metapher“. Die Wiederentdeckung der seit den 1920er-Jahren entstandenen wissenssoziologisch und sozialpsychologisch orientierten Studien von Maurice Halbwachs zum Verhältnis zwischen Gedächtnis und Gesellschaft und Pierre Noras zwischen 1984 und 1992 erschienenes siebenbändiges Werk „Les Lieux de memoire“ hätten eine Lawine losgetreten. Nora habe sich mit der Gedenkkultur im Frankreich der III. Republik auseinander gesetzt. Angesichts des radikalen Gegensatzes von Historiografie und Gedächtnis und des Verschwindens der „Gedächtnismilieus“ sei das Gedächtnis der III. Republik nur noch an „emblematischen Orten und Symbolen“1 greifbar. Die Gemeinsamkeit der äußerlich heterogenen Objekte habe Nora darin gesehen, dass ihnen als Symbole eine zentrale Wirkung und Bedeutung in der Herausbildung der politischen Identität Frankreichs zukomme. Dieser Ansatz stehe unter der Prämisse, dass ein Erinnerungsort erst durch die symbolische Aufladung entstehe – ein bloß materiell-handgreiflicher Ort genüge nicht.

Mittlerweile liege eine ganze Reihe von editorischen Projekten vor, die in der Nachfolge Noras entstanden seien. In ihnen sei sein Ansatz aber durchaus auch kritisiert und weiterentwickelt worden. In dieser breiten internationalen Rezeption habe sich ein Verständnis von Erinnerungsorten etabliert, das den Begriff in der Spannung halte zwischen einerseits materiellen sowie andererseits metaphorischen und symbolischen, mithin ideellen Ausformungen. Das Symbolische solle nicht in einen „gesonderten Bereich“ verbannt werden, sondern die Aufmerksamkeit bestimmen. Damit werde eine „andere Geschichte“ möglich, die sich besonders für Auswirkungen und Spuren früheren Handelns interessiere und dafür, wie vergangenes Handeln im Nachhinein konstruiert und verwendet werde. Dies bedeute, sowohl konkrete Orte als auch rhetorisch-symbolische Identitätsaspekte der Geschichte könnten als Erinnerungsorte begriffen werden. Erinnerungsorte würden somit zu Elementen der historischen Erfahrungen, die in der gesellschaftlichen und politischen Tradierung zu historisch verdichteten und normativ aufgeladenen Mythen und Symbolen würden, die in enger Verbindung zur kollektiven Identität stünden. Analysen von Erinnerungsorten richteten sich also nicht auf die Ereignisgeschichte, sondern auf eine „zweite Geschichte“, auf Kristallisationspunkte der nationalen Identitätsstiftung im Medium der Geschichte. Sie stünden somit vor der Frage: Wie wird darin und damit Vergangenes erinnert, in welchen Symbolen wird diese Erinnerung repräsentiert und woher beziehen diese Symbole ihre Wirkungskraft?

Für Schmid gilt es, Erinnerungsorte zwischen erinnerungskulturellem Schlagwort, Identitätsfunktion und kritischem Forschungsansatz zu beachten. Zum einen war Noras Ausgangskonzeption noch ganz im nationalen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts befangen. Erst die Weiterentwicklung des Ansatzes erbrachte die Überschreitung dieser Begrenzung. Es kann nicht darum gehen, Studien über Erinnerungsorte als sinnstiftendes oder staatstragendes Projekt zu betreiben. Im analytisch-kritischen Sinn markieren Erinnerungsorte „Laboratorien historischer Sinnbildung“.2 Hier liegen sowohl der historische Reiz als auch die gegenwartsnahen Erkenntnispotenziale dieses Ansatzes. Für alle Adaptionen, etwa regionaler Art wie in Niedersachsen, sollte die Analyse dieser schillernden Laboratorien im Dreischritt Geschichte – Erinnerungsort – Rezeption im Mittelpunkt stehen.

JENS-CHRISTIAN WAGNER (Celle) stellte „NS-Gedenkstätten als Erinnerungsorte“ vor. Die Gestaltung und Wahrnehmung der historischen Orte der Erinnerung an die Menschheitsverbrechen der Nationalsozialisten, der Täter-Orte oder der Orte nationalsozialistischer Selbstinszenierung sei ein Seismograph erinnerungskultureller Entwicklungen in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Dies wird bei einem Rückblick auf die Erinnerungsarbeit vor Ort seit 1945 deutlich. Obwohl ganz Deutschland und die besetzten Nachbarstaaten von einem dichten Netz von KZ-Haupt- und Außenlagern, aber auch Kriegsgefangenenlagern, Zwangsarbeitslagern, Justizhaftlagern etc. überzogen gewesen sei, habe in der Öffentlichkeit der Eindruck geherrscht, die Lager seien hinter dichten Wäldern oder im diffusen „Osten“ versteckt worden. Der Nachkriegsdiskurs habe mit seiner symbolhaften Deutung des Bildes von den abgeschlossenen Lagern gleichsam eine Tat ohne Täter, zumindest ohne Zuschauer suggeriert.

Die Zwangsbesichtigungen der Lager hätten den Prozess der Umdeutung verstärkt, der aus der Tätergesellschaft eine besiegte und von Strafangst und Schuldabwehr geprägte Gesellschaft mit ausgesprochenem Opferbewusstsein gemacht habe. Angesichts dieses Prozesses der Selbstviktimisierung habe es von deutscher Seite kaum Ansätze gegeben, die Lagerstandorte als Erinnerungsorte zu erhalten. Entsprechend seien fast alle frühen Gedenkzeichen von den Überlebenden selbst errichtet worden, während von offizieller westdeutscher Seite ehemalige Konzentrationslager zu historisch entleerten Friedhofsanlagen umgestaltet oder derart überbaut worden seien, dass kaum noch etwas an die Vergangenheit der Orte erinnert habe. Obwohl von der DDR der Antifaschismus propagiert worden sei, habe es keine differenzierte Darstellung der Lagergeschichte gegeben. Das DDR-Geschichtsbild habe sich auf die Repression der kommunistischen Häftlinge und den antifaschistischen Widerstand konzentriert.

Während sich an diesem Geschichtsbild bis zum Ende der DDR nicht viel geändert habe, seien in der Bundesrepublik seit den 1970er-Jahren politische Geschichts- und Erinnerungsinitiativen oftmals gegen den Widerstand der Mehrheitsgesellschaft und kommunaler oder staatlicher Behörden auf der Basis kritisch-bürgerschaftlichen Engagements entstanden. Nach dem Zusammenbruch der DDR und der Vereinigung der beiden deutschen Staaten habe der Bund seine Zuständigkeit für die Gedenkstätten bundesweiter Bedeutung anerkannt. Eine Neukonzeption der Gedenkstätten sei für notwendig erachtet worden. Die 1998 von einer Enquêtekommission vorgelegten Empfehlungen für eine umfassende Gedenkstättenkonzeption des Bundes seien bis heute mehrfach fortgeschrieben worden. Mit der Modernisierung und Neukonzeption sei ein Professionalisierungsschub einhergegangen. Gedenkstätten verstünden sich heute nicht nur als Orte der Trauer und des Gedenkens, sondern auch als moderne zeithistorische Museen.

Wagner machte mit seinen Ausführungen deutlich, dass es der Gedenk(stätten)arbeit im Kern nicht um historisch entleerte Pietät geht, um das unterschiedslose Beweinen der Toten des letzten Jahrhunderts, sondern um die historische Einbettung des konkreten Geschehens, dessen gedacht wird. Und damit geht es um eine wache Auseinandersetzung mit den Ursachen und Folgen der NS-Verbrechen – und das, ohne die Opfer für aktuelle politische Zielsetzungen zu instrumentalisieren. Nicht Affirmation oder Appellation, sondern Reflexion steht im Mittelpunkt des heutigen Umgangs mit der NS-Geschichte in den Gedenkstätten. Zum Nachdenken, zur selbstbestimmten Reflexion und zum ethisch fundierten Handeln anzuregen, ist die Aufgabe der Gedenkstättenpädagogik, die damit historisches Urteilsvermögen bestärken will.

STEFANIE BURMEISTER (Hannover) ermöglichte es durch die von ihr geleitete Führung durch die Gedenkstätte Ahlem, die vom damaligen Geschäftsführer der „Stiftung niedersächsische Gedenkstätten“, Habbo Knoch, in der Arbeitskreissitzung am 5. Mai 2012 skizzierten konzeptionellen Überlegungen3 mit der konkreten Umsetzung bei der im Juli 2014 ihrer Bestimmung übergebenen neugestalteten Gedenkstätte und der neuen Dauerausstellung im ehemaligen Wohnhaus des Direktors der israelitischen Gartenbauschule in Beziehung zu setzen. Erinnern, informieren, aufklären sind die Leitlinien, denen die Dokumentation und Ausstellung zur Geschichte der ehemaligen israelitischen Gartenbauschule in Ahlem folgt. Am Lern- und Erinnerungsort wird von jüdischer Kultur und Hoffnung, aber auch von Verbrechen und Vernichtung berichtet. In der 1893 gegründeten Gartenbauschule wurden jüdische Jungen und Mädchen in Gartenbau und Handwerksberufen ausgebildet. Ab 1941 wurde der Ort von den Nationalsozialisten als Sammelstelle für Deportationen genutzt. 2.946 Menschen wurden von Ahlem aus in den Tod geschickt. 1943 wurde ein „Polizei-Ersatzgefängnis“ für Sinti und Roma, Zwangsarbeiter und politische Häftlinge eingerichtet. Bis zur Befreiung im Jahr 1945 wurde die Gartenbauschule zu einem Ort von Folter und Mord.

ANETTE BLASCHKE (Hannover) beschäftigte sich mit „Cultural heritage als Perspektive zum Verständnis der Vergangenheit in der Gegenwart“. Als wissenschaftliches Thema sei „cultural heritage“ seit den 1980er-Jahren vor allem in der angelsächsischen Forschungslandschaft aufgegriffen worden. Reagiert worden sei auf den „heritage boom“: Angesichts des Abrisses von Adelssitzen und von Plänen der Labour-Regierung, eine Reichensteuer zu erheben, die zum Verkauf von Landsitzen hätte führen können, sei von konservativen Kräften vor der Gefährdung des kulturellen Erbes Großbritanniens gewarnt worden. „Heritage“ eroberte immer größere Bereiche des öffentlichen Lebens bis hin zu Unternehmern, Tourismusmanagern und Werbefachleuten, so dass sich um bestimmte historische Stätten und Objekte eine kommerzielle „heritage industry“ entwickelt habe und an Universitäten Studiengänge für den Bereich des „heritage management“ etabliert worden seien. Diesen Trend zur Ökonomisierung hätten häufig ideologische Vereinnahmungstendenzen und damit verbundene essentialistische, statische Zuschreibungen begleitet, anhand derer ein Phänomen normativ zu kulturellem Erbe erklärt worden sei, ohne allerdings einen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess darüber in Gang zu setzen, was überhaupt kulturelles Erbe in einer diversifizierten und heterogenen Gesellschaft wie der heutigen bedeute und was nicht.

Diese Tendenz des Umgangs mit dem Vergangenen habe zu einer aus unterschiedlichen Fachrichtungen angestoßenen temperamentvollen Forschungsdebatte geführt. Angeregt werde mittlerweile ein dynamisches Verständnis von „cultural heritage“, das transnationale Perspektiven und die häufig dissonanten und kontroversen Aushandlungsprozesse um kulturelles Erbe wahrnehme und integriere. So verstanden erweise sich das Konzept „Kulturerbe“ oder „cultural heritage“ als geeignet, neben erinnerungskulturellen Aspekten und losgelöst von der häufig damit verbundenen Entrüstung über politisch oder ökonomisch motivierte Strategien der Vergangenheitsaneignung auch Phänomene zu integrieren, die, wie Regina Bendix formuliert habe, „symbolischen und realen Wert aus Kultursegmenten zu schöpfen wissen“, und damit zugleich kulturelles Erbe „als Teil spätmoderner Lebenswelt zu begreifen“.4

Folgt man Anette Blaschke, dann stellt „Cultural heritage“ durchaus eine Forschungsperspektive dar, die einen starken Bezug zu aktuellen gesellschaftlichen Transformationsprozessen wie Migration, wachsender Diversität, Mobilität und sozio- ökonomischer Ungleichheit haben kann. Eine wissenschaftliche Auseinandersetzung mit „cultural heritage“ sollte also kulturelles Erbe nicht als gegebene Größe, die sich in wirtschaftliches oder soziales Kapital ummünzen lässt, voraussetzen, sondern zunächst identifizieren, wie kulturelles Erbe entsteht und eingesetzt wird. Erst anschließend erscheint es sinnvoll, über dessen Sammlung, Konservierung, Verwaltung und Management nachzudenken und dabei auch mögliche Chancen und Grenzen des Konzeptes hinsichtlich gesellschaftlicher Entwicklungen auszuloten, die auf Kohäsion und Integration zielen. In dieser Lesart umfasst „cultural heritage“ dynamische, häufig kontroverse Aushandlungsprozesse um aktuelle kulturelle Deutungshoheit über als bedeutungsvoll erachtete Vergangenheit. Die in diesem Rahmen ablaufenden vielstimmigen Prozesse repräsentieren und reproduzieren Macht und soziale Ungleichheit, verhelfen sozialen Gruppen zu einem eigenen kulturellen Ausdruck und implizieren deshalb immer auch das Hervorheben und Behaupten von Differenzen gegenüber dem Anderen und Fremden.

BARBARA CHRISTOPHE (Braunschweig) referierte über „Schulgeschichtsbücher als Institutionen der Erinnerung“. Mit ihren Ausführungen endete eine ertragreiche Tagung, die zahlreiche Anregungen gegeben hatte, die nun im Rahmen der weiteren Beschäftigung mit „Niedersächsischen Erinnerungsorten“ umgesetzt werden sollen. Wenn dabei der Blick geschärft wird für gesellschaftliche Prozesse, die jenseits der bisher verfolgten Linien ablaufen, kann nicht zuletzt die multidimensionale, kritische Auseinandersetzung auch dazu beitragen, tragfähige Konzepte für einen Umgang mit Vergangenheit zu entwickeln und gerade Aushandlungsprozesse als wichtige Konstituierungsfaktoren von Erinnerungsorten zu betrachten

Konferenzübersicht:

Detlef Schmiechen-Ackermann (Hannover) / Jochen Oltmer (Osnabrück), Einführung

Harald Schmid (Kiel), Ort und Vergegenwärtigung. Das Konzept der „Erinnerungsorte“ zwischen Institutionen und Metapher

Jens-Christian Wagner (Celle), NS-Gedenkstätten als Erinnerungsorte

Stefanie Burmeister (Hannover), Führung durch die Gedenkstätte Ahlem

Anette Blaschke (Hannover), Cultural heritage als Perspektive zum Verständnis der Vergangenheit in der Gegenwart

Barbara Christophe (Braunschweig), Schulgeschichtsbücher als Institutionen der Erinnerung

Anmerkung:
1 Etienne François, Erinnerungsorte zwischen Geschichtsschreibung und Gedächtnis. Eine Forschungsinnovation und ihre Folgen, in: Harald Schmid (Hrsg.), Geschichtspolitik und kollektives Gedächtnis. Erinnerungskulturen in Theorie und Praxis, Göttingen 2009, S. 23-36, hier S. 27f.
2 Claudia Lenz, Gedenkorte als Laboratorien historischer Sinnbildung: Geschichtspolitik, öffentliche Erinnerung und individuelle Erinnerungsskripte, in: Schmid (wie Anm.1), S. 199-228.
3 Vgl. Tagungsbericht: Neue Ansätze zur Präsentation regionaler NS-Geschichte in Museen, Dokumentations- und Gedenkstätten, 05.05.2012 Hannover, in: H-Soz-Kult, 13.10.2012, <http://www.hsozkult.de/conferencereport/id/tagungsberichte-4410> (11.8.2015).
4 Regina Bendix, Kulturelles Erbe zwischen Wirtschaft und Politik: Ein Ausblick, in: Dorothee Hemme / Markus Tauschek / Regina Bendix (Hrsg.), Prädikat „Heritage“. Wertschöpfungen aus kulturellen Ressourcen, Münster 2007, S. 337-356, hier S. 339.


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