Hochkultur in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten im 20. Jahrhundert in kulturgeschichtlicher Perspektive

Hochkultur in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten im 20. Jahrhundert in kulturgeschichtlicher Perspektive

Organisatoren
Igor Narskij, Süd-Ural-Universität Tscheljabinsk / Historisches Kolleg, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.05.2015 - 09.05.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Jörn Retterath, Historisches Kolleg, München

Unter dem Titel „Hochkultur in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten im 20. Jahrhundert in kulturgeschichtlicher Perspektive“ fand am Historischen Kolleg (München) vom 7. bis 9. Mai 2015 ein Kolloquium unter Leitung von Igor Narskij statt. Der Historiker von der Süd-Ural-Universität Tscheljabinsk (Russland) ist derzeit von der Fritz Thyssen Stiftung geförderter Senior Fellow am Historischen Kolleg und arbeitet dort an einer Studie über die choreographische Amateurkunst in der Sowjetunion. An der zweisprachigen Tagung (Deutsch und Russisch) nahmen 14 Osteuropahistoriker und Musikwissenschaftler aus Deutschland, Russland und der Schweiz teil.

Das Kolloquium nahm die Hochkultur in der Sowjetunion und in ihren Nachfolgestaaten unter die Lupe. Da Hochkultur als eine soziale Praktik der bewussten und professionellen Sinnstiftung begriffen wurde, beschäftigte sich die Tagung mit Aspekten wie Kulturpolitik, kulturellen Milieus, Kulturtransfer, Kulturkommunikation und Kulturrezeption. Dabei wurde deutlich, dass Hochkultur nicht allein in spektakulären Ereignissen, sondern auch in alltäglichen, von den historischen Akteuren oft kaum wahrgenommenen Praktiken und Prozessen zum Ausdruck kam.

Am ersten Tag des Kolloquiums ging es um für die sowjetische Kultur prägende historische Ereignisse wie den Ersten Weltkrieg und die Russische Revolution, sowie um die Kulturpolitik und ihre Institutionen in der UdSSR. BORIS KOLONITSKIJ (St. Petersburg) thematisierte in seinem Vortrag die maßgeblichen Einwirkungen von Belletristik und bildender Kunst auf die kollektive Erinnerung an den Ersten Weltkrieg in der Sowjetunion. In seinen Analysen befasste sich DIETRICH BEYRAU (Tübingen) mit den Utopien in Russland während des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts. Diese Utopien, so Beyrau, hätten oftmals an reale Katastrophen wie Kriege und Revolutionen angeknüpft. ALEKSANDR FOKIN (Tscheljabinsk) beschäftigte sich mit dem Austausch zwischen Vertretern der Literatur und Kunst auf der einen und den Parteifunktionären auf den Parteitagen der KPdSU unter Chruschtschow und Breschnew auf der anderen Seite. Abschließend skizzierte IGOR NARSKIJ (Tscheljabinsk / München) die institutionelle Geschichte der sowjetischen Laienkunst als einen Lernprozess.

Am zweiten Kolloquiumstag standen die „akustischen“ und „visuellen“ Künste im Zentrum. Mit einem Schwerpunkt auf den 1920er- und 1930er-Jahren arbeitete DOROTHEA REDEPENNING (Heidelberg) heraus, welche Auswirkungen die leninistische Kulturpolitik auf den sowjetischen Musikkanon und dessen Aneignung der europäischen klassischen Musik hatte. GALINA YANKOVSKAYA (Perm) verglich die Symposien des Verbandes der Künstler in Russland 1911 und in der Sowjetunion 1957 miteinander und wies auf einige verblüffende Übereinstimmungen hin. Im Vortrag von IVAN SABLIN (Heidelberg / Moskau) ging es um den Prozess der Erfindung der orientalistisch-asiatischen Musik in der sowjetischen Oper der Zwischenkriegszeit. KIRSTEN BÖNKER (Bielefeld) zeigte in ihrem Vortrag, wie das Fernsehen seit den 1960er-Jahren zum Inbegriff eines modernen sowjetischen Lebensstils sowie zu einem festen Bestandteil des privaten Lebens und Alltags wurde.

Den dritten Tag eröffnete NIKOLAUS KATZER (Moskau) mit einem Vortrag über den „Roten Reiter“ von Isaak Babel als Objekt einer Enteignung des Autors und als Gegenstand politischer Manipulationen. In den beiden abschließenden Sektionen zu Kulturrezeptionen und alternativen Kulturprojekten kamen insbesondere Musikwissenschaftler und -historiker zu Wort: STEFAN WEISS (Hannover) analysierte das sowjetrussische Musikpublikum, das – obwohl zeitgenössisch von den Politikern als kulturell „unmündig“ betrachtet – über ein spezifisches Gespür für musikalische Ästhetik verfügte. BORIS BELGE (Tübingen) trug über die Rezeption der „neuen Musik“ sowjetischer Komponisten in der UdSSR und in Westeuropa zwischen Stalins Tod und dem Zusammenbruch der Sowjetunion vor und betonte, dass der Kalte Krieg die Karrieren von Komponisten wie Alfred Schnittke, Sofia Gubaidulina, Elena Firsova und Dmitrij Smirnov nicht beschränkt, sondern befördert habe. Mit dem sowjetischen Jazz als einem wichtigen kulturellen und sozialen Projekt der 1960er-Jahre beschäftigte sich der Vortrag von MICHEL ABESSER (Freiburg). Abschließend untersuchte ZINAIDA VASILYEVA (Neuchâtel) musikalische Amateurvereinigungen in der späten Sowjetunion aus der Perspektive ihrer Organisatoren und aktiven Teilnehmer. Sie vertrat die These, das Institutionennetzwerk des Staates habe so gut funktioniert, dass die Einbindung in eine staatliche Kulturbürokratie für die meisten historischen Akteure nicht störend gewesen sei.

Die Vorträge wurden von regen Diskussionen begleitet. Dabei wurden zahlreiche Aspekte, Probleme und Fragestellungen aufgegriffen. So wurde etwa das Zusammenspiel von Politik und Hochkultur in der UdSSR intensiv diskutiert: Statt der Vorstellung einer einseitigen Ausnutzung der Kultur durch die kommunistische Politik, betonten die Teilnehmer, dass die Politik gewollt oder ungewollt zu einem Aufschwung der Kultur beigetragen habe. Gleichzeitig habe es die Hochkultur verstanden, die Politik zur Erlangung eigener Vorteile zu instrumentalisieren. Insbesondere waren die Auswirkungen dieses Zustands auf die Eigendynamiken der Kultur und die Frage, ob – und wenn ja, wie – es der Kultur gelang, ihre Autonomie zu bewahren, Gegenstand der Diskussion. Des Weiteren ging es um die Institutionen als formative Faktoren der sowjetischen und postsowjetischen Hochkultur. Die Tatsache, dass die Kulturbürokratie für die Zeitgenossen normalerweise unsichtbar blieb und in der Rückschau von den historischen Akteuren oft ignoriert wird, ist eine interessante Beobachtung, die durch die weitere Erforschung des Zusammenspiels zwischen Kulturschaffenden und staatlicher Verwaltung noch genauer erklärt werden muss. Die Kanonbildung in der sowjetischen Hochkultur wurde von den Tagungsteilnehmern als ein permanenter Prozess von Inklusion und Exklusion von Künstlern und ihren Werken begriffen.

Ergänzend wurde am zweiten Tag des Kolloquiums das Konzept der Hochkultur diskutiert. Die vorhandenen unterschiedlichen Definitionen machten deutlich, dass der Begriff „Hochkultur“ nur schwer auf die Sowjetunion anwendbar ist, weil seine Grenzen unklar bleiben und er auszuufern droht. Das liegt teilweise daran, dass Kultur in der Sowjetunion als ein monströser Monolith konstruiert war, der professionelle Kunst und Amateurkunst, Kultur der Elite und des „Volkes“, Klassik und Folklore unter dem Schlagwort des „sozialistischen Realismus“ zu vereinigen suchte. Aus dieser Erkenntnis heraus, kamen die Kolloquiumsteilnehmer zu dem Schluss, auf den Begriff der Hochkultur im Text und im Titel des aus der Tagung entstehenden Sammelbandes zu verzichten. Unter welchem Titel er auch erscheinen mag, es bleibt zu hoffen, dass der Sammelband für alle an der sowjetischen Geschichte und Kultur Interessierten so spannend und Erkenntnisgewinn bringend sein wird, wie das Kolloquium für seine Teilnehmer war.

Konferenzübersicht:

Igor Narskij (Tscheljabinsk / München), Begrüßung und Einführung

Formative Herausforderungen

Boris Kolonitskij (St. Petersburg), Die Hochkultur im Zeitalter des Ersten Weltkriegs in Russland und das kulturelle Kriegsgedächtnis in der UdSSR

Dietrich Beyrau (Tübingen), Zum Grab der Rosa Luxemburg – Utopien in Russland seit 1900

Kulturpolitik

Aleksandr Fokin (Tscheljabinsk), Kulturproblematik der Parteitage in den 1960er- und 1970er-Jahren

Igor Narskij (Tscheljabinsk / München), Hat der sowjetische Parteistaat das Volk zu tanzen gelehrt? Kulturpolitik und Amateurchoreographie in der Sowjetunion

Autoritäten in der Hochkultur

Dorothea Redepenning (Heidelberg), „Lernen bei den Klassikern.“ Leninistisches Kulturverständnis und die Konsequenzen für die ernste Musik in der Sowjetunion

Kulturelles Milieu

Galina Yankovskaya (Perm), Repräsentation der egalitären Ideale der Art-Gemeinschaft während der Symposien des Verbands der Künstler 1911 und 1957

Kulturtransfer

Ivan Sablin (Heidelberg / Moskau), Vom Orientalismus zur Transkulturalität: Asien in der klassischen Musik zur Sowjetzeit

Hochkultur und Medien

Kirsten Bönker (Bielefeld), Das sowjetische Fernsehen und die Neujustierung kultureller Grenzen

Nikolaus Katzer (Moskau), Wem gehört Babel? „Rote Reiter“ zwischen Modernismus und Folklore

Kulturrezeption

Stefan Weiss (Hannover), Gedanken zu einer Kulturgeschichte des sowjetrussischen Opern- und Konzertpublikums

Boris Belge (Tübingen), „Neue Musik“ als europäischer Erfahrungsraum. Die Rezeption zeitgenössischer Komposition in der Sowjetunion und Westeuropa, 1953–1991

Alternative Kulturprojekte

Michel Abeßer (Freiburg), Ernsthaft, modern und exklusiv? – Sovetskij Džaz als kulturelles und soziales Projekt der 1960er-Jahre

Zinaida Vasilyeva (Neuchâtel): Unsichtbarer Staat – staatliche Kultur: Infrastruktur der musikalischen Amateurvereinigungen im Spätsozialismus


Redaktion
Veröffentlicht am
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch, Russisch
Sprache des Berichts