Revolution(en) in Nordosteuropa

Revolution(en) in Nordosteuropa

Organisatoren
Nordost-Institut Lüneburg
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2004 - 09.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Hans-Jürgen Bömelburg, Lüneburg

Die vom Nordost-Institut im Rahmen des Gesamtprojektes "Nordosteuropa im Wirkungsbereich Deutschlands und Russlands im 18.-20. Jahrhundert: Begriffe, Prozesse, Diskurse" veranstaltete Tagung fragte, inwieweit "Revolution" als historischer Grundbegriff wie als Diskursbegriff geeignet ist, die Geschichte Nordosteuropas zwischen der Französischen Revolution und der ostmitteleuropäischen "Wende" von 1989/91 zu analysieren. Dabei standen die Gesellschaften Finnlands, Estlands, Lettlands, Litauens und Polens im Zentrum des Interesses. Einen äußeren Anlass bildete desweiteren der bevorstehende 100. Jahrestag der Revolution von 1905, die alle genannten Gesellschaften erheblich prägte und an die in äußerst unterschiedlicher Form erinnert wurde.

Historiographisch ist das Thema bisher von einer älteren, weitgehend obsoleten sowjetisch-volksdemokratischen Literatur geprägt, während die seit den 1960er und 1970er Jahren in Westeuropa betriebene Historisierung des Revolutionsbegriffs die als Peripherie aufgefassten baltischen Staaten und auch Polen nicht thematisierte und auch kaum erreichte. Dies wurde auch in dem einführenden Beitrag zu Wegen der Revolutionstheorie von Gerhard Botz (Wien) deutlich, der die Prägung der Theoriegeschichte durch die Trias der "großen" Revolutionen (USA - Frankreich - Russland) in den Vordergrund rückte und sowohl die in den großen Gesellschaften erkennbare Dominanz des sozialen über den nationalen Faktor als auch die Theoriebildung beeinflussend hervorhob.

Ohne das weberianische Diktum des "Revolution soll sein" überstrapazieren zu wollen, gibt es sehr wohl das gemeinsame Phänomen "baltischer Revolutionen", wie Detlef Henning (Lüneburg) unterstrich: Die dortigen Gesellschaften hätten vor 1905 unter dem "doppelten Joch" der russischen Autokratie wie einer deutschen bzw. polnischen Oberschicht gestanden, wobei die Revolutionen Antworten auf die politische Entmündigung, die agrarische Rückständigkeit und soziale Konflikte in den Inseln einer Industrialisierung (Riga, Białystok) darstellten.

Dem Revolutionsbegriff der Nordosteuropa vor 1918 prägenden deutschen und russischen "Großnationen" widmeten sich drei Referate: Barbara Vogel (Hamburg) unterstrich die mangelnde Eignung des deutschen Revolutionsbegriffs als Prototyp: In erster Linie habe Deutschland mit der durch den jakobinischen "terreur" gebrochenen Vorstellung einer "Revolution von oben" (Hardenberg) ein Gegenmodell hervorgebracht, während die deutschen Revolutionen 1848/49 und 1918/19 kaum in das östliche Europa ausgestrahlt hätten. Erheblich größere Bedeutung für die in den russländischen Staatsverband eingebundenen nordosteuropäischen Nationen besaß die revolutionäre Bewegung in Russland: Beate Fieseler (Bochum) unterstrich die revolutionäre Philosophie der Tat, die in Russland in eine jakobinische Revolutionsauffassung und eine Terrorpropaganda eingemündet sei. 1905 und 1917 habe dies - so Jan Kusber (Mainz) - vor der Folie der jeweiligen Kriegssituation ein Protestpotential aktiviert, in dem Gewalt als zentrales Mittel auf beiden Seiten eingesetzt worden sei. In ihrem Nachleben sei die Revolution in den modernen russischen Diskursen und Interpretationen allerdings ein Erinnerungsort unter vielen anderen geworden; sinnfällig werde dies etwa in der russischen Denkmalspolitik.

Bemerkenswert ist der Wechsel in der Begrifflichkeit im polnischen 19. Jahrhundert: Leszek Kuk (Toruń) führte aus, dass die Ereignisse von 1830/31 innerpolnisch - wie auch international - wechselweise als "Revolution" wie als "Aufstand" bezeichnet worden seien, während 1863/64 ausschließlich der Aufstandsbegriff vorkomme. Die Scheidelinie in der Begrifflichkeit liege im Jahre 1846/48, als die von revolutionärer Rhetorik begleiteten galizischen Bauernaufstände in der polnischen bürgerlichen Öffentlichkeit den Revolutionsbegriff dauerhaft diskreditiert hätten.

In der Diskussion wurde herausgestellt, dass im 19. Jahrhundert keine Synchronität zwischen den revolutionären Bewegungen im östlichen Europa zu verzeichnen sei: 1848 fand im Baltikum wie im gesamten Russischen Reich nicht statt und auch die Aufstände in Polen griffen trotz ihrer tendenziell gesamteuropäischen revolutionären Symbolik (etwa ausgedrückt in dem Aufruf "Für unsere und eure Freiheit") nicht auf die gesamte Region über, ähnlich wie die zentralrussischen Sozialrevolutionäre keine Unterstützung fanden.

Bemerkenswerterweise änderte sich dies 1905, als der Aufruf zur Revolution unter allen Nationalitäten Nordosteuropas Widerhall fand. Bereits zeitgenössisch erregte die "lettische Revolution" (Astaf von Transehe-Roseneck) besonderes Aufsehen, da sie die multinationale Großstadt Riga wie die lettischen Bauern und Landlosen unter den Parolen des Klassenkampfes und der Beseitigung feudaler Residuen auf dem Lande vereinte: Wie Ulrike von Hirschhausen (Hamburg) und Detlef Henning plastisch aufzeigten, wurden etwa 20% der Gutshäuser eingeäschert und der Kampf in die protestantischen Kirchengebäude und Dorfgemeinden getragen. Die "lettische Revolution" erhielt ihre Schwungkraft durch das Zusammenwirken der sozialen und nationalen Revolution gegen die "700-jährige Herrschaft der Deutschen", die in der lettischen Sozialdemokratie sinnfällig wurde.

Eine ähnliche Verbindung zwischen sozialen und nationalen Motiven wurde für 1905 von Tomas Balkelis (Manchester) auch für Litauen konstatiert, wo allerdings die multinationale und jüdisch-polnisch dominierte Bewegung in Wilna neben dem ländlichen Aufruhr in den ethnisch litauischen Regionen stand. Eine vergleichbare Gemengelage von Konflikten notierte Jerzy Holzer (Warszawa) auch für die revolutionären Ereignisse in Polen. Gefordert wurde in Lettland, Litauen und Polen jeweils politische Autonomie und soziale Reformen; Ziele, die im zeitgenössischen Revolutionsbegriff unauflösbar miteinander verschmolzen.

Es liegt nahe, diesen durch den Krieg im Fernen Osten ausgelösten Revolutionsschub als Konsequenz einer Industrialisierung und Globalisierung zu erklären, die auch an der nordosteuropäischen Peripherie die baltische wie die polnische und litauische Gesellschaft miteinander verband. Von nun an ist für die gesamte Großregion eine strikte Parallelität der Ereignisse zu erkennen, für die die Zäsuren 1917/20, 1939/41, 1944/45 und 1989/91 stehen können.

Risto Alapuro (Helsinki) beschrieb die finnische Revolution von 1918, die, ähnlich wie in allen nordosteuropäischen Gesellschaften, in einen Bürgerkrieg mündete. Dabei seien diese "abhängigen Revolutionen" eng mit dem Weltkrieg und der Dekolonisierung des Russischen Reiches verbunden, so dass die Ereignisgeschichte nur in enger Verbindung mit der russischen Revolutionsgeschichte geschrieben werden könne.

So strukturell vergleichbar die Ereignisgeschichte 1905 und 1917/20 in Nordosteuropa ablief, so abweichend formte sich doch eine Gedächtnisgeschichte aus. Während im polnischen oder estnischen Diskurs der Zwischenkriegszeit nur Minderheiten einen positiven Revolutionsdiskurs pflegten, blieb die Erinnerung an 1905 als nationaler Gründungsmythos im lettischen Bewusstsein und der staatlichen Geschichtsschreibung (Gründung der "Gesellschaft zur Erforschung der Revolution von 1905") präsent. Ähnliches geschah auch in der Erinnerung der jüdischen Linken in Ostmitteleuropa, wo - wie Gertrud Pickhan (Berlin) anhand von Bild- und Musikzeugnissen deutlich machte - die Erinnerung an die übernationalen Arbeiterstreiks und Aktionsbündnisse mythisch überhöht weiterlebte.

Dem Revolutionsverständnis in den lettischen Umbrüchen von 1934 (Staatsstreich Ulmanis) und der Sowjetisierung 1940/41 war der Beitrag von Ilgvars Butulis (Riga) gewidmet: Während 1934 trotz der Rhetorik eines "neuen Morgens" und eines "Morgens der Freiheit" der Revolutionsbegriff infolge der politisch-ideologischen Abgrenzung vom sowjetischen Nachbarn nicht verwandt wurde, spielte er 1940/41 rhetorisch eine zentrale Rolle. Dagegen fanden sich im benachbarten Estland kaum Versuche, auch nur ein revolutionäres Pathos zu inszenieren. David Feest (Berlin) analysierte die Symbolik und staatliche Erinnerungspolitik in Estland 1940/41 und nach 1945: In widersprüchlichen Inszenierungen unter einer importierten Symbolik fanden sich wechselnde Lesarten einer mehr oder weniger "richtigen Revolution". Erkennbar wird bereits in den 1950er und 1960er Jahren der Versuch, die erborgte Legitimität einer inszenierten Revolution in einem sich auf die nationalen Traditionen und den Modernisierungsbegriff stützenden Diskurs einzuholen und zu verfestigen.

Vor diesem Hintergrund blieb - wie Rudolf Mark (Lüneburg) ausführte - der Revolutionsbegriff in der Perestrojka Michail Gorbačevs eine reine Leerformel. Zwar forderte man wiederholt, die "Ideale der Revolution" wiederherzustellen, doch seien diese Worthülsen kaum noch affektiv besetzt, sondern in erster Linie taktisch verwandt worden. Zwar sei der Zusammenbruch der Sowjetunion 1985-1991 durchaus ereignisgeschichtlich als eine revolutionsgeschichtliche Variante zu interpretieren, doch fand dies auf der Ebene der Begrifflichkeit keine Entsprechung.

Ganz anders lautete dagegen der Befund für die "singende Revolution" 1991 in Lettland, den Daina Stukuls Eglītis (Washington) vortrug und der durch die Präsentation des Films Krustcelš (Lettland 2001, Kreuzweg) abgerundet wurde: Die lettischen Akteure 1990/91 seien an einer zivilgesellschaftlichen Vorstellung von Normalität orientiert gewesen, die durch die geschichtlichen Symbole der Zwischenkriegszeit an Durchschlagskraft gewonnen habe. Die Ereignisse in Lettland und den baltischen Staaten seien deshalb als "Revolutionen" zu fassen, ein Begriffsgebrauch, der sich im Lettischen auch durchsetze.

In der von Rex Rexheuser (Lüneburg) moderierten Schlussdiskussion wurde insbesondere die Differenz in der Geschichte der Großregion Nordosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert hervorgehoben: Während vor 1900 zwischen den Schauplätzen und Ereignissen kein Handlungskonnex festzustellen sei, könne seit 1905 (und bis 1991) von einer Homogenisierung der Geschichte in der Region unter dem Signum paralleler Umbrüche gesprochen werden. Die Kategorie von "Revolution(en)" sei insofern angemessen, dass auch den "konservativen Revolutionen" der 1930er Jahre eine verdeckte revolutionäre Rhetorik innewohnte wie auch die baltischen Akteure von 1991 moderne Vorstellungen eines zivilen Ungehorsams und einer staatsbürgerlichen Revolution übernommen hätten. Die Beiträge der Tagung werden in einem Sammelband veröffentlicht.

Kontakt

D.Henning@ikgn.de