Die Imagination des Westens

Die Imagination des Westens

Organisatoren
Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia der Universität Bologna in Verbindung mit dem Deutschen Historischen Institut in Rom
Ort
Bologna
Land
Italy
Vom - Bis
01.10.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Ruth Nattermann, Rom

Die im Rahmen des interdisziplinären Forschungsprojektes der Universität Bologna "West - Occidente - Westen in der Moderne" vom Deutschen Historischen Institut in Rom und dem Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia der Universität Bologna gemeinsam veranstaltete Konferenz hatte es sich zum Ziel gesetzt, die Entwicklung des Modells der "westlichen Demokratie" in Italien und der Bundesrepublik Deutschland anhand ausgewählter Themenfelder, vor allem für die fünfziger und sechziger Jahre, zu analysieren. Ausgangspunkt der Überlegungen deutscher und italienischer Wissenschaftler war die Tatsache, dass das politische System beider Staaten nach dem Ende der faschistischen Gewaltherrschaft auf eine neue, demokratische Grundlage gestellt werden musste. Dieser Prozess wurde von zwei zentralen Faktoren maßgeblich beeinflusst: dem sich zunehmend verschärfenden Kalten Krieg und dem ökonomischen Boom zwischen Marshall-Plan und Ölkrise, der die Herausbildung der modernen Wohlstandsgesellschaften erst möglich machte und dazu beitrug, dass die Demokratie sowohl in Westdeutschland als auch in Italien feste Wurzeln schlagen konnte. Die demokratische Erneuerung ging dabei mit der Westintegration beider Staaten einher, die sich unter der politischen, militärischen, ökonomischen und kulturellen Hegemonie der USA vollzog und nicht nur zur Ausbildung bislang unbekannter supranationaler Organisationen wie der NATO oder der EWG führte, sondern auch eine von amerikanischen Leitideen dominierte Wertegemeinschaft entstehen ließ, die man gemeinhin als den "Westen" bezeichnete.

Nach den Begrüßungsworten durch den Leiter des Dipartimento di Politica, Istituzioni, Storia der Universität Bologna, Tiziano Bonazzi, skizzierte Lutz Klinkhammer (Rom) einleitend Möglichkeiten und Grenzen des Vergleichs zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Italien nach dem Zweiten Weltkrieg. Einen Unterschied sah Klinkhammer vor allem in der Auswirkung des Ost-West-Konfliktes, der in der jungen italienischen Republik tendenziell "systemsprengende", in Westdeutschland hingegen "republikstabilisierende" Funktion ausgeübt habe. Anders als in Italien, wo die kommunistische Partei noch bis in die achtziger Jahre hinein von entscheidender politischer Bedeutung war, seien für die Konsolidierung der Bundesrepublik Deutschland das "Herauskatapultieren" des Kommunismus durch Parteiverbot und die scharfe Abgrenzung von der DDR bestimmende Faktoren gewesen. In Italien dagegen waren es der Gegensatz zwischen Partito Socialista Italiano und Democrazia Cristiana sowie die katholische Gesellschaftsmoral, die die politische und gesellschaftliche Kultur jahrzehntelang prägten. Noch in den siebziger Jahren hatte das normative Koordinatensystem des Katholizismus dort seine Wirkungsmächtigkeit nicht verloren, so dass Klinkhammer zu dem Ergebnis gelangte, der Prozess der "Verwestlichung" sei in Italien - anders als in der Bundesrepublik - nicht so tief greifend mit Prozessen der Säkularisierung einhergegangen. Überdies stellte Klinkhammer die Frage, inwieweit die Zäsuren in der Geschichte der Bundesrepublik mit jenen in der Geschichte Italiens kompatibel seien. Als potentielle Bezugspunkte nannte er zum einen den enormen Effekt der 68er-Bewegung und die Herausforderung der männlich dominierten Kultur durch die feministische Bewegung der frühen 70er Jahre, die mit der massiven Kritik an vorherrschenden Konzepten der Bürgerlichkeit einherging. Zum anderen bezog sich Klinkhammer auf die Ölkrise von 1973, in der sich die "Angst um den Erhalt der Wohlstandsgesellschaft im Moment ihrer Affirmation" niedergeschlagen habe und zugleich ihre Durchsetzung als allgemeines Denkmuster offenkundig geworden sei.

Im Mittelpunkt der ersten Sektion stand die Entwicklung der Bundesrepublik. Stefan Creuzberger (Potsdam) trug die Thesen seines verhinderten Kollegen Manfred Görtemaker (Potsdam) zum Thema "Ende des 'Sonderweges'? Die politische Kultur Deutschlands nach 1945 zwischen Tradition und Erneuerung" vor. Görtemaker spannte den Bogen von Kriegsende und alliierter Besatzung Deutschlands bis zur "Krise" der neuen Bundesrepublik. In dem Prozess der "Verwestlichung" und "Amerikanisierung" der Bundesrepublik sah der Referent die Konsequenz des Kalten Krieges und der Etablierung des atlantischen Bündnisses. Der Antikommunismus habe einen entscheidenden Anknüpfungspunkt zwischen den USA und der Bundesrepublik dargestellt. Bedeutende "Katalysatoren" seien zudem kulturelle Kontakte, vor allem Austauschprogramme zwischen deutschen und amerikanischen Universitäten, gewesen. Die Zäsur der 68er Bewegung und den Machtwechsel von 1969 interpretierte Görtemaker als "Umgründung" der Bundesrepublik, die mit einer Neustrukturierung der politischen Kultur und einem allgemeinen gesellschaftlichen Wertewandel einhergegangen sei. Abschließend wurden Erfolge und Misserfolge der Kanzlerschaft Helmut Kohls sowie die Probleme der Wiedervereinigung skizziert, wobei Görtemaker die These vertrat, dass die alte, im Zuge der "Verwestlichung" gewonnene Legitimationsbasis der Bundesrepublik brüchig geworden, der neue deutsche Staat aber aus sich selbst heraus nicht in der Lage sei, tragfähige Maßstäbe für die künftige Entwicklung zu entwickeln. Als Ausweg aus diesem Dilemma bot sich für den Referenten vor allem die Orientierung an Europa an.

Eckart Conze (Marburg) verknüpfte in seinem Beitrag "Option für den Westen. Westintegration und Verwestlichung der Bundesrepublik Deutschland" eine Betrachtung der Politik der Westintegration mit der Geschichte der politischen und gesellschaftlichen Liberalisierung der Bundesrepublik in den zwei Jahrzehnten nach Kriegsende. Den Begriff der "Verwestlichung" bezog Conze auf politische und soziale Wertorientierungen, die Entwicklung politisch-ideeller Denkmuster sowie auf Veränderungen der politischen Kultur, während er die Entwicklungen im Bereich der materiellen Kultur in dem Begriff der "Amerikanisierung" besser erfasst sah. Darüber hinaus machte er den Vorschlag, die seit 1945 gängige Leitvokabel der politischen Rhetorik und Publizistik - "Atlantische Gemeinschaft" - als konzeptionellen Begriff zu verwenden, der über die politische und militärische Dimension hinaus auch den ideellen Prozess der Entwicklung einer westlichen Wertegemeinschaft transportieren kann. Von dieser Prämisse ausgehend, zeigte Conze im ersten Teil seines Vortrags, dass für die Herausbildung der "Atlantischen Gemeinschaft" der Marshall-Plan als "Produkt und Instrument der amerikanischen Hegemonie über den Westen nach 1945" von entscheidender Bedeutung war. Der Marshall-Plan und die durch ihn angestoßenen europäischen Integrationsprozesse hätten Teil der amerikanischen Politik der "doppelten Eindämmung" dargestellt, deren zugrunde liegender Begriff von Sicherheit im militärischen, ökonomischen und soziopolitischen Sinne auf das idealistische Konzept des "democratic peace" zurückgeführt werden könne. In der darauf folgenden Betrachtung der bundesrepublikanischen Außenpolitik in der Ära Adenauers sowie der amerikanischen Politik gegenüber der Bundesrepublik kam Conze zu dem Ergebnis, dass der antikommunistische deutsch-amerikanische Konsens im Zeichen der sowjetischen Bedrohung nicht nur eine entscheidende Bedingung des deutschen Wiederaufstiegs gewesen sei, sondern auch zu den Voraussetzungen für die bereitwillige Annahme der amerikanischen Hegemonie durch die Deutschen gehört habe. Die USA seien als Hegemon und gleichzeitig als Verbündeter aufgefasst worden. Schließlich untersuchte Conze die Bedeutung von transatlantischen und westeuropäischen Organisationen wie NATO und EWG für die Schaffung einer gemeinsamen "westlichen Identität" und der "Verwestlichung" der Bundesrepublik. Die NATO, seit 1949 institutionalisierender Bestandteil des Ost-West-Konflikts, habe der Vorstellung von der "freien Welt" des Westens Gestalt und Struktur verliehen. Gerade für die Bundesrepublik sei die Mitgliedschaft in der Nordatlantischen Allianz nicht nur zum Beleg ihres Wiederaufstiegs, sondern auch ihrer Zugehörigkeit zum Westen geworden. Ein wichtiges Ergebnis der Etablierung und Dauerhaftigkeit der westlichen Institutionen sah Conze in der Entstehung einer europäischen bzw. transatlantischen Elite, deren Analyse bisher von der Forschung vernachlässigt worden sei. In diesem Sinne schlug er vor, die Prozesse internationaler und transnationaler Elitenbildung als Schnittpunkt zwischen Entwicklungen der internationalen Politik einerseits und gesellschaftlichen Veränderungen andererseits stärker aufzugreifen. So könnten Verwestlichungsprozesse als Homogenisierungsprozesse sichtbar gemacht werden. Der Vortrag endete dementsprechend mit der Feststellung, dass nach 1945 die europäische Einigung zusammen mit der amerikanischen Hegemonie über Westeuropa sozialkulturelle Annäherungen und Angleichungen zwischen den europäischen Gesellschaften bewirkt habe. Gerade im deutschen Fall dürfe neben dem Einfluss der USA die Bedeutung der europäischen Integration für Prozesse des sozialen Wandels und der Wertetransformation im Sinne von Liberalisierung, Pluralisierung, Demokratisierung und Parlamentarisierung nicht unterschätzt werden.

Ausgehend von der Überzeugung, dass die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland auch als Geschichte ihrer Länder zu schreiben ist, richtete Thomas Schlemmer (Rom) in seinem Vortrag "Eine Modernisierung unter konservativen Vorzeichen? Das Beispiel Bayern" den Blick auf die Entwicklung des größten und nach Nordrhein-Westfalen bevölkerungsreichsten Landes der Bundesrepublik. Der Referent konnte sich dabei auf Ergebnisse des Projekts "Gesellschaft und Politik in Bayern 1949-1973", durchgeführt vom Münchner Institut für Zeitgeschichte, beziehen. Die übergeordnete Fragestellung des Referats knüpfte an eine These des Zeithistorikers Christoph Kleßmann an, der die Ära Adenauers als Phase der "Modernisierung unter konservativen Auspizien" bezeichnet hat. Schlemmer hingegen vertrat die Ansicht, dass diese Formel die politischen Rahmenbedingungen des damaligen Modernisierungsprozesses nur unvollkommen erfasse, da Kleßmann mit der föderativen Ordnung der Bundesrepublik einen zentralen Faktor vernachlässigt habe. Wenn auch zwischen 1949 und 1969 in Bonn die christlichen Parteien mit wechselnden Koalitionspartnern regierten, waren Länder wie Hessen, Niedersachsen, später auch Nordrhein-Westfalen, Hochburgen der Sozialdemokratie. Aufgrund der bedeutenden Kompetenzen, die das Grundgesetz den Ländern zuwies, hätten die Entscheidungen von Landesregierungen und Landtagen den Weg mancher Bundesländer in die Moderne nachhaltig geprägt. Anhand des Beispiels Bayern wurde der widersprüchliche Zusammenhang von Modernisierung und Konservatismus untersucht. Schlemmer konstatierte, dass trotz der bis weit in die fünfziger Jahre präsenten "agrarromantisch-fortschrittsfeindlichen Grundströmung" in der bayerischen Ministerialbürokratie und bei den christlichen Demokraten Bayerns auch konservative Kreise letztendlich die Notwendigkeit eines Strukturwandels durch verstärkte Industrialisierung akzeptiert hätten. Bayern habe sich dabei aber weniger an Vorbildern aus Übersee, sondern am Modell der gemischten agrar-industriellen Wirtschaftsstruktur des Nachbarlandes Landes Württemberg orientiert, während Zustände wie im schwerindustriell geprägten Ruhrgebiet ein "Schreckbild christlich-konservativer Politiker" gewesen seien. Zudem arbeitete Schlemmer heraus, dass der Strukturwandel Bayerns vom strukturschwachen Agrarland mit einigen industriellen Kernen zum wachstumsstarken Industrieland mit der politischen Homogenisierung des Freistaates durch die Christlich-Soziale Union einhergegangen sei. Diese habe es erreicht, Wähler durch eine geschickt inszenierte Synthese aus Tradition und Fortschritt entweder zu binden oder zu gewinnen. Damit sei die Modernisierung in Bayern aber tatsächlich unter konservativen Vorzeichen verlaufen, so die Bilanz. Zudem fragte Schlemmer nach der Bedeutung der "Verwestlichung" für die Länder und Gemeinden in der Bundesrepublik. Er vertrat die These, dass der "Westen" spätestens seit Ende der fünfziger Jahre vor allem "eine höchst variable Metapher" dargestellt habe, mit der "innen- und außenpolitische Botschaften höchst unterschiedlichen Inhalts transportiert" werden konnten. Dagegen sei die Rezeption des politisch-intellektuellen Diskurses in den Partnerstaaten der westlichen Allianz im Allgemeinen und in den USA im Besonderen oberflächlich oder aber auf kleine Elitenzirkel beschränkt geblieben. Abschließend wies Schlemmer auf das Desiderat regionaler Vergleiche zwischen Italien und der Bundesrepublik hin, wobei man eventuell Bayern, das Veneto oder die Emilia-Romagna gemeinsam in den Blick nehmen könnte.

Die zweite Sektion der Tagung wandte sich der Entwicklung Italiens zu. Gian Enrico Rusconi (Turin) konnte sich in seinen Ausführungen zu "Questione militare e costruzione europea in Italia e Germania: alle origini del processo di occidentalizzazione" auf seine 2003 erschienene Monographie "Germania, Italia, Europa. Dallo stato di potenza alla 'potenza civile'" stützen. Zur Begriffsklärung schlug der Politikwissenschaftler vor, "occidentalismo" als die Anerkennung gemeinsamer, oft als "christlich" qualifizierter, Werte aufzufassen, die als Gegensatz zum Begriff des "Ostens" als Synonym des sowjetischen Kommunismus gesehen werden müssten. "Atlantismo" bedeute den Beitritt zur atlantischen Allianz mit den damit verbundenen strategisch-militärischen Verpflichtungen, vor allem aber im Sinne der Wahl der USA als politischem Partner, wirtschaftlichem Bezugspunkt und Garant militärischer Sicherheit. "Atlantismo" könne insofern als Synonym von americanismo verwendet werden. "Europeismo" sei als institutionelle Komplettierung des "atlantismo" zu verstehen. In der politischen Vision Konrad Adenauers und jener Alcide de Gasperis könne man eine Synthese der drei Elemente erkennen, die von entscheidender Bedeutung für den Prozess der Verwestlichung Italiens und der Bundesrepublik gewesen seien. Anhand ausgewählter Quellenzitate machte Rusconi deutlich, dass schon in den 40er Jahren italienische Politiker in einem militärisch kontrollierten, aber wirtschaftlich rehabilitierten Deutschland eine entscheidende Voraussetzung für die Schaffung eines militärisch und wirtschaftlich vereinten Europas gesehen hatten. Ein vereintes Europa wiederum war in Italien als notwendiger Stabilisierungsfaktor für den Demokratisierungsprozess und die Westbindung des eigenen Landes erkannt worden, wenn auch Jahre verstrichen, bis sich diese Ideen im Schuman-Plan schließlich konkretisierten.

Paolo Pombeni (Bologna) betonte in seinem Vortrag "Il benessere come forma di legittimazione nel processo di integrazione occidentale dell'Italia" die Relevanz des gesellschaftlichen Wohlstands ("affluence") für den Prozess der Westernisierung Italiens. In seinem Gebrauch des Begriffs "affluence" lehnte Pombeni sich an John Kenneth Galbraiths 1958 geprägtes Konzept der "affluent society" an, welches den Wohlstand einer Gesellschaft über den Anteil aller Bürger an der Gesamtheit der vorhandenen Güter definiert. Zunächst wies der Referent auf die Rolle des wirtschaftlichen Aufschwungs und des wachsenden Wohlstands für die Einwurzelung der Demokratie in Italien hin und machte dies am Beispiel der 1947/48 geschaffenen Verfassungsordnung deutlich, die sich nicht zuletzt aufgrund der günstigen wirtschaftlichen Entwicklung und der daraus resultierenden sozialpolitischen Verteilungsspielräume als erfolgreicher und integrationsfähiger erwiesen habe als man zunächst annehmen konnte. Weiterhin betonte Pombeni, dass nur durch den Erwerb von "affluence" demokratische, "westliche" Rechte und eine "westliche" Staatsbürgerschaft hätten dauerhaft garantiert werden können. In der Entscheidung für ein multiples Parteiensystem sah Pombeni den zweiten "starken Faktor" im Demokratisierungsprozess Italiens. Trotz der Kritik der kommunistischen Partei und einiger katholischer Kreise an dem angeblichen Neokapitalismus habe die "de facto"-Entwicklung der Wirtschaft ein gemeinsames Unterfangen von Staat, Kommunalverwaltungen, Gewerkschaften etc. dargestellt, in das Personen mit unterschiedlichem politischen Hintergrund involviert gewesen seien. So habe ein Klima demokratischer Pluralität entstehen können. Der Referent konstatierte, dass sich das italienische Wirtschaftswunder unter der Ägide eines politischen Gleichgewichtes realisierte, das man als Äquilibrium zwischen centro und sinistra definieren könne. Die entscheidende Voraussetzung für die Annäherung von Democrazia Cristiana und Partito Socialista Italiano erkannte Pombeni in den innenpolitischen Ereignissen des Jahres 1960, als der zunehmende politische Einfluss und die öffentliche Präsenz der - anfangs von der DC unterstützten und zur Regierungsbildung benötigten - neofaschistischen Partei MSI die junge italienische Republik in ihren antifaschistischen Grundfesten zu erschüttern drohte. In der akuten Gefahr eines Bürgerkrieges stellte sich der Faschismus als gemeinsames Feindbild von DC und PSI dar. Der Wille zur Verteidigung der Republik vor einer "Rückkehr der Faschisten" wurde so zur entscheidenden Legitimationsbasis für eine Koalition der ideologischen Opponenten, die wiederum den Beginn einer allmählichen "Verbürgerlichung" der sozialistischen Partei gebildet habe. Pombeni machte deutlich, dass erst im Zuge der Ereignisse von 1960 die "antifaschistische Wurzel" der italienischen Republik auch als bewusste Entscheidung für den "Fortschritt" und den damit verbundenen Wohlstand erkannt wurde.

In seinem Vortrag "Democrazia occidentale e campagne elettorali nell'Italia del dopoguerra" bot Stefano Cavazza (Bologna) einen interessanten Einblick in die italienischen Wahlkampagnen der Nachkriegszeit, die er in Bezug auf die Verbreitung des Modells der "westlichen Demokratie" in Italien untersuchte. Der zeitliche Horizont des Vortrags reichte vom Ende des Zweiten Weltkrieges bis zum Ende der 50er Jahre. Als Ausgangspunkt stellte der Referent zunächst ein idealtypisches Modell "westlicher Demokratie" vor, das an Dahls Definition von Demokratie als Organisations-, Wahl- und Presse-Freiheit sowie der Umsetzung der Wahlentscheidungen durch die vom Volk bestimmte Regierung anknüpfte. Im Verlauf des Vortrags verdeutlichte Cavazza die Annäherung der politischen Nachkriegskultur Italiens an dieses Modell. Anhand von ausgewählten Wahlkampagnen konnte er zeigen, wie in einem Klima politischer und sozialer Spannungen mit der Etablierung einer gemeinsamen "Wahl-Kultur" die Grundlage für einen staatlichen Konsens und die zunehmende Stabilisierung der Demokratie geschaffen wurde. Nach Jahrzehnten der Diktatur seien die Wahlen so zum Ausdruck einer "wieder gefundenen Freiheit" geworden, gleichzeitig jedoch hätten sich in ihnen die Konflikte und Ressentiments eines von tiefen sozialen und ideologischen Gräben gekennzeichneten Landes manifestiert. Auf der höchst anschaulich präsentierten Grundlage von Wahlplakaten und den Wahlkampfparolen unterschiedlicher politischer Richtungen wies Cavazza nach, wie sich in der Modernisierung der Sprache und Bilder italienischer Parteien-Propaganda nach Kriegsende der Einfluss neuer amerikanischer Wahlkampagnen und Propaganda-Techniken widerspiegelt hatte. Cavazza schlug vor, den Modernisierungsprozess der politischen Propaganda in der italienischen Nachkriegszeit zukünftig nicht nur allgemein unter dem Aspekt einer Weiterentwicklung der politischen Kommunikation zu betrachten, sondern vor allem auch als Kriterium für die Diffusion des Modells der "westlichen" Demokratie nach amerikanischem Vorbild einzusetzen.

Für die Forschung zur Entwicklung der politischen und gesellschaftlichen Systeme Deutschlands und Italiens nach dem Zweiten Weltkrieg bot die Giornata di Studi wichtige Impulse. Fast alle Referate warfen neue Fragen und Hypothesen auf, die gerade für eine zukünftige vergleichende Betrachtung der italienischen und der bundesrepublikanischen Nachkriegsära relevant sein werden. Denn dies war ein Aspekt, der im Rahmen des Workshops nicht wirklich behandelt wurde: Außer dem bilateral ausgerichteten Beitrag Gian Enrico Rusconis war keines der Referate auf einer explizit komparativen Ebene angesiedelt. In der abschließenden Diskussion wurde daher die mögliche Brisanz sowohl nationaler als auch regionaler Vergleiche der italienischen und deutschen politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung ausdrücklich betont. Was die "Verwestlichung" angeht, so wies Thomas Schlemmer darauf hin, dass man diesen Prozess nicht als Einbahnstraße von den USA nach Europa begreifen dürfe, sondern vielmehr auch auf Wechselbeziehungen achten und über die Auswirkungen von gesellschaftlichen Widersprüchen bzw. Demokratiedefiziten in der westlichen Führungsmacht nachdenken müsse. Man solle in diesem Zusammenhang auch die Frage stellen, ob es neben der "Amerikanisierung" Westeuropas nicht auch so etwas wie die "Europäisierung" der USA gegeben habe.


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