Medizin und Religion, Heilkunde und Seelsorge. Jahrestagung 2015 des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin – Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit

Medizin und Religion, Heilkunde und Seelsorge. Jahrestagung 2015 des Vereins für Sozialgeschichte der Medizin – Geschichte(n) von Gesundheit und Krankheit

Organisatoren
Maria Heidegger, Marina Hilber, Oliver Seifert und Alexander Zanesco für den Verein für Sozialgeschichte der Medizin
Ort
Hall in Tirol
Land
Austria
Vom - Bis
11.06.2015 - 13.06.2015
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Von
Elisabeth Lobenwein / Alfred Stefan Weiß, Universität Salzburg

In den letzten Jahren lässt sich ein wachsendes Interesse seitens der kultur- und sozialhistorisch orientierten Medizinhistoriographie an Religion, an medikalen und pastoralen Handlungsfeldern und religiösen Krankheitsdeutungen feststellen und zwar jenseits von positivistischen Ex-Post-Grenzziehungen zwischen (Natur-)Wissenschaft und Religion. Diesem dynamischen Forschungsfeld widmete sich der Verein für Sozialgeschichte der Medizin bei seiner Jahrestagung, die vom 11. bis 13. Juni 2015 unter dem Titel „Medizin und Religion, Heilkunde und Seelsorge“ in Hall in Tirol stattfand. Die Vortragenden beleuchteten historische Verhältnisse zwischen Medizin und Religion bzw. der pastoralen Sorge aus unterschiedlichen disziplinären Zugängen. Ein zeitlicher Schwerpunkt der Tagung war jedoch die frühe Moderne bzw. die sogenannte Sattelzeit 1750 bis 1850, wobei einige Vorträge den Blick über die „Epochenränder“ hinaus in das Mittelalter, die Vormoderne und in die jüngste Vergangenheit eröffneten bzw. materielle Aspekte des Beziehungsfelds thematisierten.

MICHAELA NEULINGER (Innsbruck) eröffnete den Vortragsreigen und fragte in ihren Ausführungen nach dem „heilenden Herrscher“ im Kontext und Spannungsfeld von Philosophie, Medizin und Theologie in der Zeit von 850 bis 950. Al-Fārābi, eine der wesentlichen Personen der politischen Philosophie im arabisch-islamischen Raum, stellte in seinen Werken – sein politisch-ethischer Text „Fuşūl Muntaza’a“ stand im Mittelpunkt des Vortrages – wiederholt diese konkrete Frage nach dem perfekten Herrscher und Arzt. Anhand der Quelle wurde analysiert, welche Analogien zwischen Medizin und Politik bzw. Arzt und Herrscher al-Fārābi zu ziehen vermochte. Der Autor skizzierte dabei das Profil eines idealen Herrschers analog zu jenem eines idealen Arztes. Kümmerte sich der Medicus um die Harmonie der Säfte im Hinblick auf den gesamten Körper und Organismus, so war es Aufgabe des idealen Herrschers, für eine Balance der einzelnen Seelen mit Voraussicht auf die gesamte Gesellschaft zu sorgen.

ALOIS UNTERKIRCHER (Zürich) zeigte einige Beispiele aus der medizinhistorischen Sammlung der Universität Zürich, die keinen erkennbaren Bezug zur ärztlichen Diagnostik und Therapeutik aufweisen. Diese Votivbilder und -gaben, Amulette, Talismane etc. materialisierten medikale Praktiken, die u.a. dem religiös-magischen Bereich zugeschrieben werden. Der Aufbau des Zürcher Bestandes „Religiöse Volksmedizin“ sei ohne die Arbeit des Arztes und Medizinhistorikers Gustav Adolf Wehrli (1888–1949) nicht denkbar, der seit dem Jahr 1915 eine Privatsammlung anlegte, aus der sich in späteren Jahren das Medizinhistorische Museum und Institut der Universität Zürich entwickelte. Im Vortrag wurden aus mikrohistorischer Perspektive drei Handlungsräume genauer untersucht: 1) Eine Fragebogenaktion zur Volksmedizin mit geringer Rücklaufquote (ab circa 1904, durchgeführt von der Schweizer Gesellschaft für Volkskunde), 2) eigene Feldforschungen Wehrlis in mehreren Kantonen der Deutschschweiz und 3) seine Funktion als Privatdozent für Medizingeschichte an der Universität Zürich, die es ihm ermöglichte, das umfangreiche Material wissenschaftlich aufzubereiten.

Der Archäologe und Historiker ALEXANDER ZANESCO (Hall in Tirol) untersuchte in seinen Forschungen den Ort, an dem Medizin und Religion, Heilkunde und Seelsorge im archäologischen Befund sehr intensiv ihren Niederschlag finden, nämlich die Grablege der Menschen. Archäologische Grabungen, so der Referent, geben einen Blick frei auf Bestattungsrituale und bei entsprechendem Vorwissen ebenso auf deren Hintergründe (Körperlage und -haltung, Leichenbehältnisse, Verletzungen etc.). Die erkennbaren Spuren menschlichen Handelns befriedigten allerdings nicht die drängende Frage nach den sogenannten „gesicherten“ Ergebnissen. Vertreter/innen der Ethnoarchäologie wollten z.B. wissen, welche Elemente eines Friedhofsbefundes als Spuren eines religiösen Rituals, magischer Handlungen oder zeichenhafte Dokumente sozialer Zugehörigkeit zu lesen seien. Zeichenhafte Dokumente, z.B. Körperhaltungen, Schmuck etc., drückten bereits soziale Zugehörigkeiten aus. Dies führe jedoch zu Problemen: Wie ist beispielsweise eine Schmuckperle zu interpretieren? Diese Interpretation falle im christlichen Bereich leichter (Analogieform) als im Vergleich zu früheren Kulturen, da man in diesen Fällen ausschließlich auf Grabbeigaben angewiesen sei. Der Fragenkomplex ließ sich auch nach dem Vortrag und der anschließenden Diskussion nicht eindeutig beantworten, regte jedoch zum weiteren Nachdenken an.

KATARZYNA PEKACKA-FALKOWSKA (Posen) analysierte in ihrem Vortrag polnische Publikationen (Katechismen), die zwischen 1730 und 1850 von katholischen Geistlichen publiziert worden waren und an Laien aus allen sozialen Schichten gerichtet waren. Die Werke sollten den Rezipientinnen und Rezipienten dazu dienen, die Gesundheit sowohl des Körpers als auch des Geistes sicherzustellen und ihre Leiden durch spezifische Behandlungsmethoden zu lindern. Wenngleich die Bücher vorrangig dazu gedacht waren, medizinisches Wissen an Laien zu vermitteln, so enthielten sie dennoch eine nicht unbeträchtliche Anzahl an religiösen und moralischen Belehrungen. Die Vortragende ging der Frage nach, in welcher Form sich in diesen Publikationen religiöse mit medizinischen Ideen vermischten und wie sich die Ansichten über Gesundheit und Hygiene im 120 Jahre umfassenden Untersuchungszeitraum veränderten. Eine Vergleichsstudie mit beispielsweise Katechismen aus dem deutschsprachigen Raum wäre sicherlich ein lohnendes Unterfangen, um etwaige kulturelle Unterschiede festmachen zu können.

Die Religionswissenschaftlerin STEPHANIE GRIPENTROG (Greifswald) bettete ihre Ausführungen in die Entstehungsgeschichte der Psychologie und Psychiatrie ein und beleuchtete dabei den Verwissenschaftlichungsprozess und die Etablierung der Psychologie als eigenständige Disziplin aus religionswissenschaftlicher Perspektive. Diese „Disziplinierung“ der Psychologie und die religiöse Dimension dieses Prozesses veranschaulichte sie anhand des Beispiels von Anormalitätsdiskursen. Sehr facettenreich waren nämlich die Rollen jener Menschen, die zu Objekten psychologisch-psychiatrischer Beobachtungs- und Heilungsmaßnahmen gemacht wurden. Stephanie Gripentrog kam zu dem Schluss, dass im Untersuchungszeitraum zahlreiche Überlagerungen zwischen religiösen und psychologischen Diskursen zu beobachten seien, wie etwa bei der Zuschreibung bestimmter Kompetenzen, der Bestimmung von Sagbarkeiten oder spezifischer Handlungsspielräume der Kranken.

Das Krankheits- und Therapiekonzept des pietistischen Arztes Johann Samuel Carl (1677–1757) stand bei IRMTRAUT SAHMLANDs (Marburg) Vortrag im Mittelpunkt ihrer Betrachtungen. Der Mensch, so das Konzept des Arztes, lebe auf der Erde in einem Jammertal und müsse seinen eigenen Beitrag zur Wiedergeburt leisten. Dies geschehe durch die Überwindung des auf das Weltliche gerichteten Eigenwillens und der völligen Überantwortung in den göttlichen Willen, der den Menschen mit väterlicher Strenge zu seinem Besten (an-)leite. Diese „pietistische Medizin“ verorte sich naturgemäß in einem höher zu verstehenden Heilsgeschehen („Krankheit ist eine Schickung Gottes“), wobei Religion und Medizin bzw. vice versa nicht getrennt gedacht würden. Der pietistische Arzt übernehme damit gleichsam die Funktion eines Priesters, der sich ebenso um die seelischen Belange der Patientinnen und Patienten zu kümmern habe. Die Medikation werde hingegen deutlich zurückgenommen. Die „pietistische Medizin“ fand damit in einer Zeit, die sehr wesentlich durch die Auseinandersetzung mit den Gedanken René Descartes geprägt war, eine einprägsame Antwort und Lösung auf das Leib-Seele-Problem, die aus ihrem Glaubensverständnis resultierte und mit diesem auch inhaltlich vereinbar war. Das Konzept Carls biete eine umfassende Wissenschaftskritik seiner Zeit, die ebenso anderen pietistischen Medizinern ein Anliegen gewesen sei.

SASKIA GEHRMANN (Halle) informierte über die praxis pietatis im medizinischen Alltag der Franckeschen Stiftungen in Halle (1750–1850) und untersuchte die Frage, inwieweit pietistische Glaubensvorstellungen von Gesundheit, Krankheit und Heilung Auswirkungen auf die Behandlungsmethoden haben konnten. Fakt sei, dass in den von Hermann August Francke (1663–1727) im Jahr 1698 in Halle gegründeten „Glauchaer Anstalten“ nicht nur Ärzte, sondern ebenso Theologiestudenten wirkten. Ärzte, pietistische Seelsorger und Patienten begegneten einander am Krankenbett im Sinn der von Francke so bezeichneten „Seelen Cur“. „Gott der Herr der die Kranckheit zuschickt und sie wieder wegnimmt“ (Francke), so lautete die Devise, welche die Krankheit als göttliche Strafe ansah. Parallel dazu sollte die Seele geheilt werden, d.h. die Heilung des Körpers geschah durch die Heilung der Seele. Als Fazit lasse sich festhalten: Im 18. Jahrhundert waren auch in Halle humoralpathologische Vorstellungen vorherrschend und nicht unbedingt spezifisch pietistische Auffassungen.

IVETA LEITANE (Riga) präsentierte in ihrem Vortrag das opus magnum des jüdischen Universalgelehrten Reuben Joseph Wunderbar (1812–1868). Wunderbar war im Baltikum als Lehrer und Koranrabbiner tätig und publizierte zwischen 1850 und 1853 das vierbändige Werk „Biblisch-talmudische Medizin oder pragmatische Darstellung der Arzneikunde der alten Israeliten, sowohl in theoretischer, als in praktischer Hinsicht“. Wunderbar versuchte das traditionelle Wissen und die therapeutische Funktion der „religiösen Weltansicht“ des Torah-Judentums mit aufklärerischen Einstellungen zu verschränken. In seinem methodologischen Ansatz integrierte er einerseits Publikationen deutschsprachiger, aufgeklärter Mediziner der Sattelzeit (namentlich zu nennen wären beispielsweise Albrecht von Haller, Christoph Wilhelm Hufeland und Gotthilf Heinrich von Schubert), andererseits Werke der Aufklärungsphilosophen Immanuel Kant und Johann Gottfried Herder. Iveta Leitane fokussierte ihre Analysen besonders darauf, wie jene Krankheiten, welche in aufklärerischen Diskursen um 1850 intensiver diskutiert wurden, von Wunderbar im biblisch-talmudischen Schrifttum identifiziert und mit dem religiösen Wissen synchronisiert wurden.

EBERHARD WOLFF (Basel) zeigte in seinen Ausführungen, wie intensiv jüdische Ärzte in der Zeit der jüdischen Aufklärung und Reformbewegung an einem differenzierten Verhältnis zwischen der Medizin und ihrer Religion arbeiteten. Die Ärzte unterschieden gezielt zwischen ihrer ärztlichen und ihrer jüdischen Identität und etablierten sich in Reformdebatten als weltliche Experten des Jüdischen. Das von ihnen entwickelte kulturelle Verständnis des Jüdischseins mit neuen Leitwerten war einerseits kompatibel mit den Anforderungen der Moderne, andererseits aber nicht in allzu starkem Gegensatz zur jüdischen Tradition. Ihr neues jüdisches Selbstverständnis war der Versuch einer Stabilisierung jüdischer Identität im historischen Wandel. Lauf Wolffs Schlussfolgerungen können diese Entwicklungen als eigenständige kulturelle Leistungen angesehen werden, die primär auf einem originären Modernisierungswillen fußten, wenngleich damit auch die Anerkennung in der christlichen Mehrheitsgesellschaft verbunden war.

PHILIP-EMANUEL KARSCHUCK (Fribourg) stellte im Rahmen seines Vortrages einen Teil seines Dissertationsprojektes vor. Sein Studienobjekt ist die alternativreligiöse Bewegung – genannt Anthroposophie –, welche von Rudolf Steiner (1861–1925) begründet wurde und besonders durch eine mystisch-esoterische Weltanschauung geprägt ist. Karschuck versuchte die Frage zu beantworten, wie sich therapeutische Konzepte im Bereich der anthroposophischen Palliative Care seit 1920 entwickelt und hinsichtlich ihrer gegenwärtigen Anwendung transformiert haben. Die ersten Forschungsergebnisse zeigten deutlich, dass der anthroposophische Zugang auch bei der Sterbebegleitung alternativ- mit schulmedizinischen Praktiken kombiniere. Die Anthroposophie greife bei der Theoriebildung auf naturwissenschaftliche Erkenntnisse zurück, die sie „erkenntnistheoretisch“ und „empirisch“ durch einen „ontologischen Idealismus“ ergänze. In Bezug auf das Verhältnis zur Schulmedizin führe dies allerdings zu einem alternativen Verständnis von Wissenschaft, Gesundheit und Krankheit. Die anthroposophische Medizin sei ein fester Bestandteil der Komplementärmedizin und im Schweizer Verfassungsrecht verankert, wenngleich es keine empirisch belastbare Evidenz ihrer Wirksamkeit gebe und sie trotz ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz häufig Kritik ausgesetzt sei.

IRIS RITZMANN (Zürich) stellte die Frage, ob die Aufklärung zu einem Bruch, einer „Entzauberung der Welt“ geführt habe. Anhand von Aktenbeständen aus dem Württembergischen Waisenhaus in Ludwigsburg (Skandal im Jahr 1793 und die dazugehörigen Aussagen der Kinder und Jugendlichen über ihre Sexualität) untersuchte die Referentin am Beispiel der Einflussnahme auf die Sexualität von Kindern und Jugendlichen im späten 18. Jahrhundert die berechtigte Frage, ob sich die religiöse Deutung des Alltagsverhaltens durch die gewichtiger zum Tragen kommende Rationalität veränderte. Waisenhäuser dienten als Horte zur Erziehung zu einem sittlichen, arbeitsamen und gottgefälligen Leben. Die Sexualität im Waisenhaus war tabuisiert, harte Bestrafung und die Trennung der Geschlechter Folgen des erwähnten Skandals. Die normierten Anweisungen zielten u.a. auf das Intimleben der Waisenhausinsassen, gemäß des religiösen Profils, welches von einem gottgefälligen Menschen vorausgesetzt wurde. Die Säkularisierung verlagerte die Sichtweise, wichtig wurde nunmehr diejenige der akademischen Medizin. Iris Ritzmann nahm jedoch an, dass lediglich alter Wein in neue Schläuche umgegossen wurde: Religion als alte und Medizin als neue Deutungsmacht formierten ein enges Netz religiöser und medizinischer Interpretationen, um damit auch den Fortbestand der religiösen Inhalte mit medizinischer Auslegung zu sichern.

MARINA HILBER (Innsbruck), durch ihre intensive Forschungstätigkeit zur Geschichte des Hebammenwesens bestens ausgewiesen für die Thematik, spürte der Frage nach geistlicher Fürsorge für Mutter und Kind vornehmlich im 18. Jahrhundert nach. Der Innsbrucker Theologe Anton von Sterzinger zu Salzrein hob in seiner 1777 erschienenen „Abhandlung von der Heiligen Taufe“ die Bedeutung der Hebammen und ihrer geistlichen Pflichten, die sie gegenüber den Frauen und den Neugeborenen hatten, besonders hervor. Der entsprechende Unterricht erfolgte zunächst durch die Seelsorger, bevor die Hebammen die Aufgabe übernahmen. Da man sich hinsichtlich der Kompetenzen der Hebammen betreffend die korrekte Durchführung der Nottaufe nicht einig war, entstand eine vielfältige Literaturproduktion, welche die lokalen Seelsorger zu einer peniblen Unterweisung der taufspendenden Laien verpflichtete. Um die Seele des Kindes zu retten, musste bei Fehlen eines Chirurgen die Hebamme sogar bei einer sterbenden Mutter den Kaiserschnitt vornehmen. Taufe galt daher ebenso als Dienst an der Mutter.

GERHARD AMMERER und ANNA FORSTER (Salzburg) schlossen die Tagung mit ihrem Vortrag zum Thema „Die Menstruation in Medizin und Religion im 18. und 19. Jahrhundert“ ab. Die Einstellung gegenüber der Menstruation sei bereits seit der Antike negativ gewesen, und diese negative Einstellung finde sich in verschiedensten Varianten in antiken Texten, der Bibel und spiegele sich auch in der „Vier-Säfte-Lehre“ wider. Eine Kombination zwischen diesen Anschauungen und deren Weiterentwicklungen habe sich bis ins späte 19. Jahrhundert gehalten. Die Vortragenden untersuchten Texte von Medizinern aus dem 18. und 19. Jahrhundert hinsichtlich ihrer Aussagen und Haltung gegenüber der Menstrualblutung. Ammerer und Forster kommen zu dem Ergebnis, dass von keinem einheitlichen Standpunkt der Mediziner gesprochen werden könne. Aussagen über religiöse Unreinheiten träten vermehrt in den Hintergrund, wohingegen Anfang des 19. Jahrhunderts mit der beginnenden Etablierung der Psychologie als eigenständige Disziplin die Menstruation vermehrt mit Hysterie oder partieller Unzurechnungsfähigkeit in Verbindung gebracht wurde.

Die im Rahmen der Tagung gehaltenen Vorträge zeigten deutlich, in welch unterschiedlichen Akzentuierungen es zu Berührungspunkten, Verschränkungen und Konflikten zwischen Medizin und Religion, insbesondere während der Sattelzeit kam. Um in diese vielfältige und weitreichende Thematik „Medizin und Religion, Heilkunde und Seelsorge“ einen fundierten Einblick zu erhalten, war es von vorneherein unumgänglich, einen multiperspektivischen und interdisziplinären Zugang (historisch, theologisch-philosophisch, religionswissenschaftlich, kulturwissenschaftlich, ethnoarchäologisch) zu wählen. Unterschiedliche Religionen (Christentum, Judentum, Islam), Konfessionen (Römisch-Katholische Kirche, Pietisten) und spirituelle Weltanschauungen (Anthroposophie) wurden in den zweieinhalb Tagen in den Blick genommen. Die 13 Vorträge machten deutlich, wie facettenreich sich die Beziehungsgeschichte zwischen Medizin und Religion an der Schwelle zur Moderne gestaltete und in welchem hochkomplexen sozialen, administrativen, ökonomischen und religiös-kulturellen Gefüge die Akteurinnen und Akteure, seien es nun Ärztinnen und Ärzte, Seelsorgerinnen und Seelsorger oder Patientinnen und Patienten, handelten und ihre Handlungsspielräume ausloteten.

Konferenzübersicht:

Grußworte und Einführung

Panel 1
Moderation: Christian Haring

MICHAELA NEULINGER (Innsbruck)
Der heilende Herrscher. Al-Fārābis „Fuṣūl Muntaza'a“ im Spannungsfeld von Philosophie, Medizin und Theologie
ALOIS UNTERKIRCHER (Zürich)
Die materielle Seite religiöser Heilverfahren: Zur Sammlungsgeschichte des Bestandes „Religiöse Volksmedizin“ in der Medizinhistorischen Objektsammlung der Universität Zürich
ALEXANDER ZANESCO (Hall in Tirol)
Religiöses Ritual, apotropäische Handlung oder doch nur Schmuck? Vom archäologischen Befund zur ethnohistorischen Aussage

Panel 2
Moderation: Gunda Barth-Scalmani

KATARZYNA PEKACKA-FALKOWSKA (Posen)
Pastoral Medicine and Polish Catechisms for Health, 1730–1850. Forgotten Traditions of Care of the Soul and Self-Help Medicine
STEPHANIE GRIPENTROG (Basel)
Objekte und Subjekte der Heilung: zur Geschichte der Rolle psychisch Kranker an der Grenze zwischen Psychologie und Religion im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Medizinhistorische Stadtführung

Öffentliche Abendveranstaltung
„Bei Leuten, die zu artig sind, ist in der Regel nicht viel dahinter. Alles Großartige hat seine Portion Unart.“ Ein Abend gewidmet Sebastian Ruf, Irrenhauskaplan in Hall (1802–1876)

Begrüßung durch WOLFGANG MARKL (Kaufmännischer Direktor, LKH Hall in Tirol) und Führung von OLIVER SEIFERT durch das Gelände des psychiatrischen Krankenhauses mit historischem Archiv und Kapelle

Panel 3
Moderation: Alfred Stefan Weiß

IRMTRAUT SAHMLAND (Marburg)
„die Kranckheit zum Leibes= und Seelen=Besten überstehen“. Das Krankheits- und Therapiekonzept des pietistischen Arztes Johann Samuel Carl (1677–1757)
SASKIA GEHRMANN (Halle)
Die praxis pietatis im medizinischen Alltag der Franckeschen Stiftungen in Halle, 1750–1850

Panel 4
Moderation: Elisabeth Lobenwein

IVETA LEITANE (Riga)
R. J. Wunderbar und die biblisch-talmudische Medizin oder die Behauptung des traditionellen Wissens im Feld der Aufklärung
EBERHARD WOLFF (Basel)
Jüdische Ärzte der „Sattelzeit“ in Deutschland zwischen Medizin und Religion
PHILIPP KARSCHUK (Fribourg)
Die Transformationsgeschichte anthroposophischer Praxisfelder nach dem Tod Rudolf Steiners (1861–1925) am Beispiel der Genese von alternativmedizinischer Palliative Care

Panel 5
Moderation: Elisabeth Dietrich-Daum

IRIS RITZMANN (Zürich)
Medizinische Kreuzzüge? Ein Beispiel zur Umformung religiöser Dogmen in medizinische Konzepte
MARINA HILBER (Innsbruck)
Geistliche Fürsorge für Mutter und Kind. Das Hebammenwesen im Spannungsfeld zwischen Medizin und Religion (1750–1850)
GERHARD AMMERER/ANNA FORSTER (Salzburg)
Die Menstruation in Medizin und Religion im 18. und 19. Jahrhundert

ELISABETH LOBENWEIN / ALFRED STEFAN WEISS (Salzburg): Medizin in der Religion / Religion in der Medizin. Eine kritische Bilanz


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