Das Phänomen RAF

Organisatoren
Hamburger Institut für Sozialforschung, Evangelische Akademie Arnoldshain
Ort
Arnoldshain
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.09.2004 - 19.09.2004
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Von
Annette Vowinckel, Kulturwissenschaftliches Seminar, Humboldt-Universität zu Berlin

Von Zeitzeugen und Deutungshoheiten

Vom 16. bis 19. September luden das Hamburger Institut für Sozialforschung und die Evangelische Akademie Arnoldshain zu einer Tagung über das ‚Phänomen RAF'. Gleich in seinem Eröffnungsvortrag forderte Jan Philip Reemtsma eine schonungslose Auseinandersetzung mit der Geschichte des deutschen Terrorismus. Für sich betrachtet sei die RAF ein ‚Haufen stammelnder Idioten' gewesen, der die Bundesrepublik seit 1970 mit unmenschlichen Aktionen und schlechten Erklärungen in Atem gehalten habe. Der politische Gehalt der kryptischen, redundanten, selbstreferentiellen und als Arkana sich gerierenden RAF-Texte rechtfertige kaum die große Popularität, die die Gruppe in den 70er Jahren genossen habe; Aufgabe des Historikers sei deshalb nicht nur, die Motive der RAF zu klären, sondern die des sympathisierenden Umfelds, ohne dessen Unterstützung in Wort und Tat die selbst ernannte Guerilla kaum habe funktionieren können.

Doch Reemtsmas Ruf drang nur zu einem Teil der Tagungsteilnehmer durch. Schnell zeichnete sich nämlich ab, dass der Saal gefüllt war mit Zeitzeugen, die sich grob in zwei Gruppen teilen ließen: in die ehemaligen Angehörigen der RAF bzw. der Bewegung 2. Juni und diejenigen (überwiegend Herren), die die 70er Jahre aus der Perspektive des Sympathisanten erlebt oder Angehörige der RAF persönlich gekannt hatten. Die zahlreich vertretenen jüngeren Historiker, Soziologen, Sprach-, Literatur- und Filmwissenschaftler, die mit dem Ziel der wissenschaftlichen Aufarbeitung der Epoche angereist waren, kamen deshalb nur selten zum Zug.

An den Vorträgen, die überwiegend von der Generation der 40- bis 50jährigen gehalten wurden, lag dies kaum. Sie präsentierten mehrheitlich interessante Forschungsergebnisse, warfen z. T. neue Fragen auf und schlugen neue Deutungen vor. Die Pariser Historikerin Dorothea Hauser beispielsweise entwickelte die These, die militante Linke sei gerade in Deutschland, Italien und Japan - den Ländern, die den Zweiten Weltkrieg vom Zaun gebrochen und dann verloren hatten -, besonders radikal vorgegangen: Menschenopfer wurden hier nicht nur billigend in Kauf genommen, sondern ausdrücklich gefordert. Ursache dafür sei, dass die Nachkriegsgenerationen (vor allem die deutsche) sich durch die Unfähigkeit ihrer Eltern, sich aus eigner Kraft von der Gewaltherrschaft zu befreien, gedemütigt fühlten und aus dem Gefühl der ‚geerbten' Niederlage heraus besondere Militanz walten ließen. Gisela Diewald-Kerkmann (Bielefeld) verwies auf den im Vergleich zu anderen Ländern und anderen Bewegungen sehr hohen Frauenanteil in der RAF und in der Bewegung 2. Juni und forderte eine weitere Erforschung des bisher nur im Ansatz ausgewerteten quantitativen Materials ein. Christopher Daase (Brüssel/Canterbury) brachte einiges Licht in das Dunkel der internationalen Beziehung der RAF. Jörg Herrmann, Theologe aus Hamburg, sprach über die protestantischen Prägungen und Verflechtungen der RAF-Aktivisten, die z. T. aus Pfarrhäusern stammten (Gudrun Ensslin) bzw. enge Kontakte zu evangelischen Theologen unterhielten (Ulrike Meinhof). Werner Konitzer (Hamburg/Berlin) vertrat recht überzeugend die Ansicht, die viel zitierte moralische Führungsrolle der Ulrike Meinhof sei weniger ihren Positionen (im Prinzip einer marxistisch-relativistischen Moral) als vielmehr ihrer Intonation geschuldet. Der Fall könnte damit möglicherweise der Charismaforschung in der Tradition Max Webers überantwortet werden.

Doch wie interessant auch die Vorträge waren - die Diskussionen wurden von den grauhaarigen Zeitzeugen dominiert, unter denen die ehemaligen RAF-Angehörigen (nennen wir sie die eigentlichen Zeitzeugen) noch die Angenehmsten waren. Sie machten gelegentlich von ihrem Einspruchsrecht Gebrauch, über das sich die Historiker als natürliche Feinde des Zeitzeugen gegebenenfalls ohnehin hinwegsetzen. Viel undurchschaubarer war der Konflikt der Historiker mit denen, die wir dann die uneigentlichen Zeitzeugen nennen müssten, und die sich von doppelten Schuldgefühlen geplagt sahen: den eigentlichen Zeitzeugen gegenüber, weil man damals nicht mitgekämpft hatte, der Jüngeren Generation gegenüber, weil man nicht so objektiv sein konnte wie man sein zu wollen vorgab.

Besonders deutlich wurde dies im Anschluss an die Vorführung von Gerd Conradts Film ‚Starbuck Holger Meins' in Anwesenheit des Regisseurs, der als Freund und Kommilitone Meins' Lebensweg bis zu dessen Tod 1974 begleitet hatte. Bei dem Film handelt es sich um eine sehr persönliche Annäherung an einen Angehörigen der ersten Generation der RAF, der mit Jan Carl Raspe, Gudrun Ensslin und Andreas Baader in Stuttgart Stammheim inhaftiert war und als erster einem Hungerstreik zum Opfer fiel. Im Rahmen der Diskussion über den Film brachte ein im Publikum sitzender Medienwissenschaftler, der Meins als junger Dozent an der Berliner Filmhochschule unterrichtet hatte, seine persönliche Anteilnahme, vor allem aber sein Unbehagen über einen ‚wissenschaftlichen Kältestrom' zum Ausdruck, der die Tagung bis dahin gezeichnet habe.

Die Rede vom ‚wissenschaftlichen Kältestrom' wurde am folgenden Tag von dem Mitveranstalter Christian Schneider (uneigentlicher Zeitzeuge) prompt wieder aufgenommen. Nicht von ungefähr, hatte er doch mit der Vermittlung zwischen Erinnerung und Analyse ebenfalls sichtliche Probleme. Sein Versuch einer psychoanalytischen Deutung des für die RAF typischen Freund-Feind-Denkens jedenfalls blieb weit hinter dem zurück, was Schneider selbst bereits zum Thema publiziert hat. Der Wille zur Wissenschaft wurde von der Kraft der Erinnerung überflügelt; Folge war nicht - wovor im Zusammenhang mit der RAF-Ausstellung der Berliner Kunstwerke immer wieder gewarnt wurde - die Mythologisierung der RAF, eher eine Art unbeholfene Anbiederung an die Eigentlichen, mit denen man schließlich in einem Raum saß.
Dadurch, dass sie ihre Zwitterstellung zwischen jüngeren Wissenschaftlern und eigentlichen Zeitzeugen nicht konstruktiv zu nutzen vermochte, beschnitt die Generation der 50- 60jährigen die Tagung deutlich ihres aufklärerischen Potenzials. Bezeichnenderweise entwickelte sich eine wirklich lebendige Diskussion erstmals im Anschluss an Margrit Frölichs Vortrag über die ‚RAF im Film', an der zu weit fortgeschrittener Stunde überwiegend die jüngere Hälfte erschienen war.

Eine wirklich kontroverse Diskussion bahnte sich schließlich im Anschluss an Stefan Reineckes Vortrag über die linken Anwälte an. Reinecke vertrat, eher beiläufig, die Ansicht, die Haftbedingungen der Stammheimer Gefangenen seien der Öffentlichkeit gegenüber mit dem Ziel der Rekrutierung von Sympathisanten als weit schärfer dargestellt worden, als sie wirklich waren (eine These, die von so unterschiedlichen Personen wie Gerd Koenen, dem Verfasser eines Buches über Bernward Vesper, Gudrun Ensslin und Andreas Baader, und Horst Bubeck, dem ehemaligen Vollzugsdienstleiter der Haftanstalt Stuttgart-Stammheim, formuliert worden ist). Heftig protestierte dagegen Karl Heinz Dellwo mit Verweis auf seine eigenen Erfahrungen während der Haft, die sich (aus der Perspektive des Historikers) gleichwohl deutlich von den Haftbedingungen der ‚Stammheimer' unterschieden. Hier bahnte sich eine echte Auseinandersetzung zwischen Historikern und Zeitzeugen an, doch just in diesem Moment war die Zeit abgelaufen und die Versorgungseinheiten der Arnoldshainer Akademie zwangen die über hundert Teilnehmer der Tagung in die Kaffeepause. Das Schattenboxen um die Deutungshoheit wurde mit Heißgetränken hinuntergespült und überdauerte, gut gelagert in der Magengegend, das Ende der Tagung.

Dass die Veranstaltung dem Anspruch, die RAF zu historisieren, kaum gerecht wurde, liegt also weniger an den Referenten als daran, dass die Auseinandersetzung zwischen eigentlichen und uneigentlichen Zeitzeugen, zwischen involvierten und nachgeborenen Historikern nicht offen ausgetragen wurde - eine Auseinandersetzung, in der die uneigentlich Involvierten am meisten sprachen und doch niemanden so recht überzeugen konnten. Als der Mitveranstalter Christian Schneider am Samstagnachmittag erklärte, er habe noch nie einer Tagung so sehr entgegen gefiebert und sei nun doch sehr unglücklich über ihren Verlauf, scheint er dies immerhin geahnt zu haben.


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