Werkstatt Wissenschaftsgeschichte

Werkstatt Wissenschaftsgeschichte

Organisatoren
Bernhard Kleeberg / Jan Marco Sawilla, Fachbereich Geschichte und Soziologie, Universität Konstanz; Kärin Nickelsen / Fabian Krämer / Christoffer Leber, Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte, Ludwig-Maximilians-Universität München
Ort
Konstanz
Land
Deutschland
Vom - Bis
01.05.2015 - 02.05.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Christoffer Leber, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Wissenschaftsgeschichte hat Konjunktur – und diese Konjunktur erstreckt sich jenseits abgesteckter Fächer- und Disziplingrenzen. Diese Gegenwartsdiagnose bestätigte sich auf der am 1. und 2. Mai 2015 erstmals veranstalteten „Werkstatt Wissenschaftsgeschichte“, an der nicht nur Historiker, sondern auch Philosophen, Literaturwissenschaftler und Mediziner teilnahmen. Initiiert und veranstaltet wurde der Workshop von Bernhard Kleeberg und Jan Marco Sawilla vom Fachbereich Geschichte und Soziologie der Universität Konstanz sowie von Kärin Nickelsen, Fabian Krämer und Christoffer Leber vom Lehrstuhl für Wissenschaftsgeschichte der Ludwig-Maximilians-Universität München. Die Werkstatt nahm sich zum Ziel, wissenschaftshistorischen Projekten (Abschlussarbeiten und Dissertationsprojekte) ein kritisches Diskussionsforum zu bieten. In Anlehnung an den „Studientag Literatur und Wissenschaftsgeschichte“ versteht sich dieses Veranstaltungsformat als ein Angebot für wissenschaftshistorisch arbeitende Studierende und Doktoranden, ihr eigenes Projekt einer kritischen Reflexion hinsichtlich Methodik, Terminologie, Konzeption und inhaltlicher Ausrichtung zu unterziehen. Die Diskussion der eingesandten Projektvorstellungen folgt einem dreistufigen Schema: Zunächst stellt ein/e Kommentator/in die eingereichte Projektskizze inhaltlich vor, weist auf Stärken sowie diskussionswürdige Schwächen des Vorhabens hin und gibt Verbesserungsvorschläge. Im Anschluss daran erfolgt eine Replik des Beiträgers, die die Möglichkeit bietet, auf Kritikpunkte einzugehen. Danach findet eine einstündige Diskussion aller Teilnehmenden statt.

Die Masterarbeit „Methoden vor Gericht“ von MARCUS CARRIER (Bielefeld) befasst sich mit der juristischen Gutachtertätigkeit von Chemikern bei Vergiftungsfällen im 19. Jahrhundert. Anhand von zeitgenössischen chemischen Fachgutachten geht Carrier der Frage nach, warum bestimmte Methoden von Chemikern vor Gericht präferiert wurden. Dieser Frage liegt die These zugrunde, dass die Gerichtssituation mit ihren spezifischen Akteuren (Richtern, Geschworenen) und die Forderung nach einem Indizienbeweis Auswirkungen auf die Bevorzugung bestimmter Methoden gegenüber anderen – in der scientific community üblichen – hatten. Die anschließende Diskussion drehte sich vor allem um die Problematisierung des Analysebegriffs „epistemischer Wert“, der mit alternativen Termini wie „epistemische Tugenden“1, „Normen“ oder „Wissensregime“ verglichen wurde. In Anlehnung an Lutz Raphaels „Verwissenschaftlichung des Sozialen“2 wurde diskutiert, inwiefern die Gutachterpraxis nicht nur die Jurisprudenz verwissenschaftlichte, sondern auch, wie sich wissenschaftliche Standards innerhalb der Chemie und mithin die Persona des Chemikers transformierten.

In ihrem Dissertationsprojekt „Die Frau als Gewalttäterin“ untersucht MELANIE GRÜTTER (Basel) die kriminelle Devianz von Frauen im öffentlichen und kriminologischen Geschlechterdiskurs zwischen 1900 und 1933. Im Spiegel der Prozessakten von ausgewählten Gewaltmordfällen von Frauen wird rekonstruiert, inwiefern sich der Strafprozess zur „Bühne der Geschlechternormierung“ transformierte, auf der binäre Geschlechterrollen „mitverhandelt“ wurden. Ausgehend von der These, dass sich im Zuge des 18. Jahrhunderts der „Geschlechtscharakter der Frau“3 herausbildete, der ihre Aufgabe auf den Fortpflanzungszweck reduzierte, wird aufgezeigt, dass in solchen Prozessen fest codierte Geschlechtervorstellungen neu ausjustiert wurden. Die anschließende Diskussion drehte sich um die Frage, welche Rolle im Strafprozess weiteren Aspekten wie Klasse, Status oder ethnische/religiöse Herkunft beizumessen sei. Weitere Fragen betrafen die Archiv- und Wissensfunktion der Quellen, die aus der von Ernst Gennert angelegten „Zentralkartei für Mordsachen“ stammen.

Das Dissertationsprojekt „Im Auftrag der Wahrheit“ von MARIA DÄTWYLER (St. Gallen) strebt eine wissenssoziologische Studie über die Legitimierung und Stabilisierung der Philosophie im 20. Jahrhundert an. Die Referentin fragte: „Wie schaffte es die Philosophie, sich in Zeiten konkurrierender Disziplinen originäre Gegenstandsbereiche zu bewahren und sich beständig zu aktualisieren?“. Dem Projekt liegen zwei Hypothesen zugrunde: Zum einen wird postuliert, dass philosophische Erneuerungsprozesse im Kontext sich neu formierender Wissensfelder (Soziologie und Psychologie) entstanden; zum anderen geht Dätwyler davon aus, dass sich ebendiese Erneuerungsprozesse im dialektischen Spannungsverhältnis aus Krise und Kritik abspielten. Entgegen einer Ideengeschichte der Philosophie wird hier der Fokus auf den „de-essentialisierenden“ wissenssoziologischen Kontext verlegt, der herausstellt, dass einstmalige philosophische Deutungshoheiten über Wahrheit und Bewusstsein durch Konkurrenzdisziplinen strittig gemacht wurden. Wie prekär das Wissen der Philosophie in den 1920er-Jahren tatsächlich war, veranschaulicht Dätwyler am Beispiel eines wenig rezipierten Textes von Alfred Seidel „Bewusstsein als Verhängnis“. Es wurde nachvollzogen, dass sich Seidels philosophische Fragestellungen über die negativen Wirkungen des Bewusstseins zunehmend mit psychologischen und soziologischen verstricken, woran dieser schließlich zugrunde ging.

In seinem Promotionsvorhaben „Wissenschaft als Weltformel“ rekonstruiert CHRISTOFFER LEBER (München) die Wechselwirkung von religiösen und wissenschaftlichen Deutungstraditionen in der Monismusbewegung zwischen 1900 und 1933. Die freidenkerische Monismusbewegung um 1900 nahm sich zum Ziel, den Dualismus zwischen Materiellem und Immateriellem durch ein naturwissenschaftliches Einheitsprinzip zu ersetzen. Es wurde die These vertreten, dass der Monismus bestrebt war, die Welt durch naturwissenschaftliche Erkenntnisse vollends zu rationalisieren und dadurch Kontingenz zu bewältigen; in diesem Bestreben sakralisierte der Monismus jedoch die Wissenschaft, wobei er auf Deutungstraditionen der christlichen Mehrheitskonfessionen rekurrierte. Lebers Projekt verfolgt drei Ziele: Zunächst sollen die urbanen Entstehungskontexte monistischen Denkens in Leipzig und Wien nachvollzogen werden; anschließend werden die Religions- und Ethikdebatten in der Monismusbewegung rekonstruiert; das dritte Ziel besteht in der Rezeptionsanalyse der Bewegung in der allgemeinen und oppositionellen Öffentlichkeit. Die Diskussion widmete sich der Problematisierung der Begriffe Religion/Quasireligion und der Operationalisierung eines urbanen Zugriffs: Was sind die spezifisch urbanen Bedingungsfaktoren der Genese monistischen Denkens in Leipzig respektive Wien? Welche transnationalen Verbindungen lassen sich jenseits der Nationalgrenzen aufspüren?

DORINA STAHL (Lübeck) analysiert in ihrer Dissertation die epistemischen Schreibpraktiken des Entzündungsforschers Theodor Leber (1840-1917), die sich in seinen Laborprotokollen widerspiegeln. Lebers zentrale Entdeckung der Chemotaxis, welche die chemische Anlockung von weißen Blutkörperchen zum Entzündungsherd beschreibt, war nicht auf seine experimentelle Forschung, sondern auf seine spezifische Schreibpraxis zurückzuführen: Seine lose arrangierten Versuchsprotokolle verdichteten sich durch langjährige Transformationsprozesse zu wissenschaftlichen Tatsachen. Erstaunlich ist in diesem Kontext, dass Leber an seiner immunologischen Entzündungsforschung festhielt, obwohl sie dem bakteriologischen Paradigma seiner Zeit widersprach. Die Anerkennung seiner Chemotaxis im deutschsprachigen Raum war dementsprechend eng mit der Genese der Immunologie als eigener Disziplin verknüpft – obwohl Leber 1888 die Chemotaxis entdeckt hatte, wurde er erst 1891 mit seiner großen Monographie „Die Entstehung der Entzündung“ wahrgenommen. Im Kommentar zu Stahls Beitrag wurde betont, dass Leber in seiner Schreibpraxis ständig an einer „Entsakralisierung des Protokolls“ (Kris Decker) arbeitete, in dem dieses seinen genuin dokumentarischen Charakter verlor und zum Medium des jahrelangen Überarbeitens, Wiederaufnehmens, Revidierens – ja des regelrechten „Zerschreibens“ – wurde.

CHRISTOPHER HALM (Regensburg) verfolgt in seinem Promotionsprojekt eine Verflechtungs- und Kommunikationsgeschichte der Frühphase der Agrikulturchemie im 18. Jahrhundert. Gegenstand der Agrikulturchemie ist bis heute die Anwendung der Chemie auf die Landwirtschaft und die damit zusammenhängenden Fragen der Pflanzenzüchtung, Bodendüngung und Schädlingsbekämpfung. Halms Studie fokussiert zum einen die Analyse von frühen Lehrbüchern der Agrikulturchemie (Wallerius‘ Agriculturae Fundamenta Chemica) und die damit verbundene transnationale Kommunikation ihrer Protagonisten; zum anderen den Institutionalisierungsprozess im deutschsprachigen Raum, der sich in der Gründung von landwirtschaftlichen Lehrakademien und der Einrichtung von ökonomischen Sozietäten widerspiegelt. Halm nimmt in seinem Projekt zwei Korrektive vor: Erstens soll die wissenschaftshistorische Zentrierung auf die Person Justus von Liebigs durch eine differenzierte Frühgeschichte der Agrikulturgeschichte revidiert werden; zum anderen wird die bisherige Beschränkung der Agrikulturgeschichtsforschung auf das Nationale durch einen transnationale Zugang aufgelöst. Die Debatte im Anschluss an den Kommentar von Jan Arend (München) drehte sich um die Frage der Quellenauswahl: Es wurde diskutiert, inwiefern das Projekt nicht daraus Gewinn ziehen könnte, nicht nur zeitgenössische Lehr- und Fachbücher, sondern auch Briefkorrespondenzen einzubeziehen. Die Berücksichtigung verschiedener Übersetzungen von Lehrbüchern würden ebenso neue Rezeptionshorizonte eröffnen.

Die Aushandlungs- und Aneignungsprozesse zwischen Bio- und Sozialwissenschaften zwischen 1960 und 1980 sind Gegenstand der Untersuchung von CORA STUHRMANN (München). Anhand des Fallbeispiels der sich in den 1970er-Jahren formierenden Soziobiologie geht das Dissertationsprojekt einer systematischen Untersuchung der Konkurrenz- und Kooperationsstrategien verschiedener anthropologisch arbeitender Disziplinen nach. Ausgangspunkt der Debatte um Soziobiologie war die virulent diskutierte Monographie des Biologen E. O. Wilson „Sociobiology. The New Synthesis“ (1975). In seiner Pionierarbeit definierte Wilson die Soziobiologie als Zukunftsdisziplin, die die evolutionären Grundlagen des tierischen wie menschlichen Sozialverhaltens analysiert. Sozial- und Geisteswissenschaften, so Wilson, seien als die letzten Teilgebiete der Biologie aufzufassen – „waiting to be included in the Modern Synthesis“.4 Harsche Kritik ließ nicht lange auf sich warten: Vor allem Biologen sahen ihre genuinen Gegenstandsbereiche gefährdet. Die Strategien disziplinären Konkurrenzverhaltens werden von Stuhrmann unter drei Gesichtspunkten untersucht: Erstens indem das Phänomen Konkurrenz aus geschichts- und kulturwissenschaftlicher Perspektive analysiert wird, zweitens indem Wissenschaft in ihrem Verhältnis zu Medien und Öffentlichkeit betrachtet wird und drittens indem die politischen Rahmenbedingungen des Kalten Krieges Beachtung finden. In der anschließenden Diskussion wurde die Cold War Science als Analyserahmen problematisiert und dafür votiert, den wissenschaftspolitischen Kontext der USA stärker ins Auge zu fassen. Zu nennen seien die in den 1990er-Jahren sich entflammenden Science Wars – jene leidenschaftliche Debatte, die durch die postmoderne Kritik an der Objektivität wissenschaftlicher Tatsachen angestoßen wurde.

Abschließend lässt sich festhalten, dass die „Werkstatt Wissenschaftsgeschichte“ ein konstruktives Diskussionsforum bot, wissenschaftshistorischen Einzelprojekten neue inhaltliche wie konzeptuelle Impulse zu geben. Zugleich hat der Workshop allen Teilnehmer/innen die große Bandbreite wissenschaftshistorischer Fragestellungen und methodischer Annäherungen vor Augen geführt.

Konferenzübersicht:

Marcus Carrier (Bielefeld), Methoden vor Gericht. Zur diskursiven Produktion von Kriterien zur Methodenwahl vor Gericht in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
Kommentar: Doris Schweizer (Konstanz)

Melanie Grütter (Basel), Die Frau als Gewalttäterin. Über die Wirkungsmacht der Definition von Abweichung in Diskursen des Wissens und ihre Bedeutung für die Konstruktion von Geschlecht
Kommentar: Jörg Eggstein (Konstanz)

Maria Dätwyler (St. Gallen), Im Auftrag der Wahrheit. Erneuerungs- und Legitimationsformen der Philosophie im 20. Jahrhundert
Kommentar: Christoph Paret (Konstanz)

Christoffer Leber (München), Wissenschaft als Weltformel. Quasireligiöser Wissenschaftskult in der deutschen und österreichischen Monismusbewegung (1900-1933)
Kommentar: Bernhard Kleeberg (Konstanz)

Dorina Stahl (Lübeck), Über die Einführung der Chemotaxis der Leukozyten in die Entzündungsforschung Ende des 19. Jahrhunderts – Ein Einblick in die Laborprotokolle des Ophthalmologen Theodor Leber (1840-1917)
Kommentar: Kris Decker (Luzern)

Christopher Halm (Regensburg), Eine europäische Wissenschaftsgeschichte lange vor Liebig. Die Frühgeschichte der Agrikulturchemie ausgehend von Johann Gottschalk Wallerius‘ Werk „Agriculturae Fundamenta Chemica“ (1761)
Kommentar: Jan Arend (München)

Cora Stuhrmann (München), Konkurrenz der Disziplinen: Die Aushandlung von Deutungshoheiten zwischen Bio- und Sozialwissenschaften, ca. 1960-1980
Kommentar: Eva Johach (Konstanz)

Anmerkungen:
1 Lorraine Daston / Peter Galison, Objektivität. Aus dem
Amerikanischen von Christa Krüger, Frankfurt am Main 2007.
2 Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165-193.
3 Karin Hausen, Die Polarisierung der „Geschlechtscharaktere“. Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und Familienleben, in: Werner Conze (Hrsg.), Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen, Stuttgart 1976, S. 363-393.
4 E. O. Wilson, Sociobiology. A New Synthesis, Cambridge 1975, S. 4.