Probleme, Methoden und Perspektiven der Historiographiegeschichte der Frühen Neuzeit jenseits der Modernisierungstheorie

Probleme, Methoden und Perspektiven der Historiographiegeschichte der Frühen Neuzeit jenseits der Modernisierungstheorie

Organisatoren
Arbeitskreis Historiographiegeschichte der Frühen Neuzeit (Organisatoren: Susanne Rau und Ernst Riegg)
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
16.07.2004 - 17.07.2004
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Von
Frank Glashoff, Hamburg

Zur ersten und konstituierenden Sitzung des "Arbeitskreises Historiographiegeschichte der Frühen Neuzeit", organisiert von Susanne Rau (Dresden) und Ernst Riegg (Potsdam) sowie gefördert durch die Fritz Thyssen Stiftung und den Sonderforschungsbereich "Institutionalität und Geschichtlichkeit" an der TU Dresden, kamen 19 Teilnehmer in den Räumen des Forschungszentrums Europäische Aufklärung e.V. in Potsdam zusammen. Ziel war es, anhand von Beiträgen zu verschiedenen Themenschwerpunkten und unter kritischer Würdigung bisher vorherrschender Deutungsmodelle Stand und Perspektiven der frühneuzeitlichen Historiographieforschung zu erörtern.

Die erste, von Gerrit Walther (Wuppertal) moderierte Sektion ("Historiographie zwischen Spätmittelalter und Früher Neuzeit: Bruch oder Kontinuität?") verfolgte die Frage, inwieweit die Grenzziehung zwischen Mittelalter und Früher Neuzeit im Rahmen der Historiographiegeschichte eine sinnvolle und inhaltlich schlüssige Epochengrenze darstellt. Grundlegend dabei sollte die Benennung und Analyse inhaltlicher Parameter zur anschließenden Konterkarierung mit dem Modernisierungsparadigma sein.

Heiko Droste (Hamburg) beleuchtete die humanistische Geschichtsschreibung zwischen mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Kultur anhand der Lüneburger Historiographie aus dem 15. und 16. Jahrhundert. Er wandte sich darin gegen eine Überbewertung der Epochengrenze; im Gegenteil fänden sich Charakteristika, die für gewöhnlich der mittelalterlichen bzw. der Renaissancehistoriographie zugerechnet würden, auf beiden Seiten derselben. So zeigten die Motive der Autoren, ihre politisch-sozialen Interessen, die Gattungen, die sie wählten, der mehr oder minder kritische Umgang mit den Quellen sowie gewählte religiöse Begründungszusammenhänge innerhalb des Betrachtungszeitraums keine entscheidenden Abweichungen oder Entwicklungen. Ebenfalls sei hinsichtlich der überlieferten Menge und ihrer literarischen Qualität (Latinisierungsgrad etc.) kein Umbruch zu konstatieren. Zwar könne ein Anwachsen der städtischen Chronistik parallel zum Niedergang der Reichschronistik beobachtet werden, dies verweise jedoch lediglich auf eine Krise des Reichs und sei somit kein Phänomen geistiger Verengung. Die Rezeption der idealtypischen Historiographie der italienischen humanistischen Bewegung im nordalpinen Bereich sei in der Vielfalt ihrer Abstufungen und ihrem faktischen innovativen Impuls kritisch zu analysieren und zu werten, denn in Deutschland seien altfränkische Wurzeln weiterhin wirksam gewesen.

Joachim Schneider (Würzburg) stellte ein Projekt zur Erforschung von Eberhard Windecks "Buch von Kaiser Sigmund" aus dem frühen 15. Jahrhundert vor, das die Analyse, die kultur- und kommunikationsgeschichtliche Kontextualisierung und die Neuedition des Werkes zum Ziel hat. In seiner Vita des damaligen Kaisers Siegmund habe der Autor, weltläufiger Kaufmann und wichtige Figur für die königliche Politik, das Ziel einer affirmativen Herrschererinnerung verfolgt, wofür er Abschriften von originalen Dokumenten mit der Erzählung eigener Erlebnisse und mündlich überlieferter Anekdoten verband. Nach seinem Tod erfuhr das Werk mehrere Überarbeitungen, doch hätten historiographie- und mediengeschichtliche Veränderungen diesen Ansatz einer nicht gelehrten Reichsgeschichtsschreibung einige Jahrzehnte darauf als veraltet erscheinen lassen. Vielmehr sei später unter den Habsburgern eine gezielte Institutionalisierung einer besser fundierten Reichs- und Herrschergeschichte vorgenommen worden. Schneider hob hervor, dass durch Windeck in zukunftsweisender Manier die (pränationale) historisch-politische Identifikation eines hofnahen Autors mit Kaiser und Reich in eine breite zeitgenössische Geschichtsschreibung eingemündet sei. Damit könne Windeck auch als Beispiel für ein im stadtbürgerlichen Milieu erwachendes Interesse, erkennbar an einem über die ältere Stadtchronistik hinaus gerichtetem Blick auf Reichszusammenhänge gelten.

Der Wandel des vom 15. bis 18. Jahrhundert in Lübeck gepflegten Gedenkens der Schlacht bei Bornhöved (1227) stand im Mittelpunkt des Vortrags von Sascha Möbius (Magdeburg). Seine Analyse führte ein differenziertes Bild zutage; die herangezogenen Schriften und Dokumente, die oft verwickelte und unklare Überlieferungslinien aufwiesen, hätten in ihren Darstellungen der Gründungsgeschichte der Stadt insgesamt mehr Kontinuitäten als Brüche gezeigt. Wesentliche umdeutende Eingriffe hätten vor allem Reformation und Heiligenkritik nach sich gezogen. Dabei seien auch säkularisierende Tendenzen eingeflossen, die zur Zeit der Frühaufklärung wieder an Gewicht gewannen. Vor den wechselnden Hintergründen der Jahrhunderte hätten sich weiterhin unterschiedliche Wertungen der damaligen Schlachtgegner, der Dänen, sowie einzelner (sagenhafter) Personen ergeben; konstant als positives Moment mit Schwerpunkten im 15. Jahrhundert sowie zur Zeit der Frühaufklärung bliebe allerdings die Wehrhaftigkeit der Stadt und ihrer Bürger. Insgesamt seien verschiedene Herangehensweisen der Autoren zu beobachten gewesen, die von der Übernahme traditioneller Muster über das Hinzuziehen autoritativer Quellen bis zur kritischen Neubewertungen von Quellen und Überlieferungen reichten.

Die zweite, von Klaus Graf (Aachen) moderierte Sektion ("Stadtchronistik und städtische Erinnerungskultur") fokussierte auf die frühneuzeitliche Stadt als speziellen rechtlichen, sozialen und kulturellen Raum, der einen Großteil zur historiographischen Überlieferung der Frühen Neuzeit beigetragen hat. Bürgerliches Selbstbewusstsein, leichterer Zugang zu Bildung und Information und ggf. die Trägerschaft der Reformation heben die Stadt vom Lande ab; gleichzeitig bilden Städte jedoch auch durch ihre Vielfalt, nach Verfassung, Konfession und sonstigen Gesichtspunkten, eine inhomogene Masse und somit einen reichhaltigen Fundus für Vergleiche.

Susanne Rau (Dresden) setzte sich programmatisch mit Formen des Erinnerns und anderen Strategien der Erzeugung eines historischen Gedächtnisses in der Chronistik auseinander. Es ginge ihr nicht um eine Analyse des "kollektiven Gedächtnisses", dessen Differenziertheit zu einem Trennschärfenverlust führe, sondern vielmehr darum, unter Berücksichtigung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft Strategien von Gedächtnisbildung und Kontinuitätskonstruktion in den Vordergrund stellen. Dabei sprach sie sich für eine Öffnung der Geschichts- und Kulturwissenschaften gegenüber der naturwissenschaftlichen Hirnforschung aus; von deren Impulsen könnten diese profitieren, wenngleich sie dennoch ihre eigenen Erklärungsmuster schaffen müssten. Für die Analyse kultureller Transferprozesse erweise sich die Historiographie als ergiebige Grundlage. Ihre Produktion, Diffusion und Rezeption als Interaktion zwischen textlicher und individueller Ebene sei zu klären, um ihre Wirkung zur Verstetigung und Legitimierung von Ereignissen sowie zur Vermittlung der Vergangenheit mit der Gegenwart zu erfassen. Dies schließe die Analyse der jeweils verfolgten Argumentationsstrukturen in ihrem Verhältnis zwischen Außenwelt, Text und Rezipient mit ein.

Ernst Riegg (Potsdam) präsentierte das Potsdamer DFG-Projekt "Die Erinnerungskultur der Stadt vom Spätmittelalter bis zum 18. Jahrhundert", das eine eine vergleichende Betrachtung von Chroniken aus Städten verschiedener Verfassungstypen und verschiedener Regionen des Alten Reiches zum Ziel hat. Durchweg sei eine Stärkung der städtischen Kollektividentität intendiert gewesen, wobei sich die jeweils thematisierten Legitimitäts- und Identitätsansprüche als maßgeblich vom Verfassungsstatus der Stadt abhängig gezeigt hätten. Bildeten die Anfänge des Gemeinwesens und seine Privilegien dabei wichtige Elemente, wiesen die Chroniken gleichzeitig auch deutliche Gegenwartsbezüge auf. Nicht selten habe sich hinsichtlich der politischen Verhältnisse ein Widerspiel von Unterordnung und Eigenständigkeit ergeben, doch kämen Kollektives Gedächtnis und Identität in selbstbestimmten Angelegenheiten am pointiertesten zur Geltung. Konsens und innerstädtische Solidarität bei Gefahr sowie erfolgreiche Aufgabenerfüllung, Kontinuität und damit Legitimität des Stadtregiments stellten weiterhin wichtige Dimensionen der Stadtchronistik dar. Fundamentale Kontinuitätsbrüche seien von den Chronisten auf unterschiedliche Weise ausdeutbar gewesen. Angesichts ihrer häufig sehr komplex überlieferten Form beschrieb Riegg die Entstehung spätmittelalterlich-frühneuzeitlicher Chronistik als kommunikativen Prozess. Sie spiegle die Alphabetisierung und den Bildungsdrang bei Autoren auch aus dem handwerklichen Milieu, was die Breitenwirkung humanistischer Bildung zeige.

Der hessischen Historiographie und ihrer Rezeption widmete sich Thomas Fuchs (Hannover). Im 17. und 18. Jahrhunderts hätten die Fürsten des erbgeteilten Landes durch die Verbreitung entsprechender Geschichtsdarstellungen namentlich unter Beamten und Bürgern ein territoriales und regionales Bewusstsein zu stärken und gleichzeitig die Konfessionalisierung voranzutreiben versucht. Gleichzeitig hätten die Obrigkeiten hessischer Städte ihren Status in Amtsbüchern definiert. Sie hätten etwa die Integration der Reformation in die Stadtgeschichte geleistet; somit habe der Denkstil des Konfessionalismus hier historiographische Tätigkeit ausgelöst. Unter den bäuerlichen Schichten sei dagegen obrigkeitlich eher das religiöse Moment gefördert worden. Das bäuerliche historische Denken und Wissen sei insgesamt denkmalsorientiert und metaphorisch gewesen und habe sich auf freie Erzählstücke oft legendenhaften Inhalts beschränkt. Während Gegenwartschronistik, der privaten Geschehensverarbeitung und Memoria dienend, in allen Schichten vorzufinden sei, bildeten historische Chroniken lediglich ein städtisches Obrigkeitsphänomen. Historiographie stehe für den wissenschaftlichen Diskurs, in dem Chronistik als unwissenschaftlich diskreditiert gewesen sei. Die Gattungen hätten somit deutlich für unterschiedliche soziale Funktionen und Geschichtsauffassungen gestanden.

Mit "Familie, Hof und Land" traten in der dritten, von Susanne Rau (Dresden) moderierten Sektion weitere maßgebliche Entstehungskontexte zur städtischen Geschichtsschreibung hinzu. Ihrer jeweiligen Spezifik und den Konsequenzen für die dort entstandene Historiographie galt es sich anhand von Beispielen anzunähern.

Anhand von Familienchroniken aus dem 17. Jahrhundert erläuterte Eva Kormann (Karlsruhe) Dimensionen der Familiengeschichtsschreibung als Form frühneuzeitlicher Historiographie. Zunächst stellte sie den konstruktiven Charakter von Historiographie und Autobiographie fest, der jedoch durch die inhärente Wahrheitsverpflichtung, anders als das fiktionale Schreiben, einen äußeren Maßstab besitze. Familiengeschichtsschreibung zeige sich im 17. Jahrhundert in verschiedenen Formen, übernehme aber immer die Funktion, familienbezogenes Wissen als Mittel der Daseinsfürsorge und -vorsorge der Familie zu erhalten und innerhalb derselben zu tradieren. Dabei könne sie häufig auch eine Selbstdarstellung des oder der Schreibenden beinhalten, mithin also eine autobiographische Komponente besitzen, wobei jedoch weniger das Individuum selbst als seine familiären Bezüge im Mittelpunkt stünden. Für eine solche Form des menschlichen Selbstverständnisses schlug Kormann den Begriff "heterolog" vor: Ein "Ich" stelle sich dar, indem es anderes, hier seine familiären Bezüge, darstelle.

Birgit Studt (Münster) lenkte das Augenmerk auf kleine mediale Formen wie kurze Texte, Merkverse, Bilder(folgen), Wappen, Genealogien etc., nicht selten volkssprachig, die als fürstliches Repräsentationsmittel den engen Verbreitungsrahmen der spätmittelalterlichen klösterlich-liturgischen Dynastienhistoriographie sprengten und zur weiteren Verbreitung und gezielter Steuerung geschichtlicher Erinnerung genutzt worden seien. Hofhistoriographen hätten die Vorlagen für die spezialisierten Multiplikatoren der adligen Kommunikation und fürstlichen Repräsentation, die Wappendichter, Herolde und Kunsthandwerker, geliefert. Diese hätten dann die komplizierten historischen und genealogischen Zusammenhänge für regelrechte Informationskampagnen vereinfacht und sie in ein vielgestaltiges mediales Ensemble aufgefächert. Dabei sei in der Regel die Legitimation und Stärkung der herrschenden Dynastie bei Untertanen und Hofgesellschaft das zentrale Anliegen gewesen, wobei die Medien nach dem intendierten Zweck und Publikum ausgewählt worden seien. Der Buchdruck habe unterdessen neue Voraussetzungen für die Erinnerungskultur geschaffen und das Verhältnis von schriftlichen und bildlichen Quellen verändert. Das Nachwirken so entstandener Erzeugnisse könne anhand von Abschriften bis ins 18. Jahrhundert verfolgt werden.

Die Geschichtsschreibung des 17. Jahrhunderts aus den Niederlanden thematisierte Raingard Eßer (Bristol) vor allem hinsichtlich der Konsequenzen, die der Achtzigjährige Krieg sowie die Spaltung der Niederlande für die Konstruktion städtischer und regionaler Identitäten und Legitimationen nach sich zogen. In beiden Teilen des Landes seien hinsichtlich der Produzenten, Formen, Inhalte, Intentionen und Verbreitungen stark unterschiedliche historiographische Milieus und Traditionen festzustellen: Im republikanisch-protestantischen Norden hätten allgemein lokale Eliten die Aufträge erteilt, worauf vornehmlich Pastoren und Gelehrte als Autoren überwiegend chorographische Werke geschaffen hätten. Diese waren anschaulich am Erscheinungsbild der Städte orientiert und teilweise mit deutlich den Umbruch betonenden sowie protestantischen Tendenzen versehen. Im habsburgisch-katholischen Süden hingegen sei vor allem die Zentralverwaltung der Habsburger impulsgebend für eine vor allem jesuitische Autorenschaft gewesen, deren überwiegend lateinische Schriften die politisch-konfessionelle Kontinuität und Legitimität von Adel und katholischer Kirche thematisierten, häufig auch in einer den Norden vereinnahmenden Weise. Beiderseits habe sich ein ausgeprägtes Bestreben gezeigt, Geschichte und Gegenwart von dem eigenen politisch-konfessionellen Standpunkt neu zu deuten und damit auf die Zeitgenossen einzuwirken. Wichtig sei jedoch zu bemerken, dass Nord und Süd bei aller historiographisch-kulturellen Eigenständigkeit in einem Kommunikationszusammenhang mit gegenseitiger Bezugnahme und kritischer Diskussionen gestanden hätten.

In der vierten, von Markus Völkel (Rostock) moderierten Sektion ("Historiographie und Konfession") trat das Verhältnis der Konfessionen zur Geschichtsschreibung in den Vordergrund, welches eine grundlegende Frage zur frühneuzeitlichen Historiographie bildet. Aspekte wie Kontinuitätsbildung, kanonisierende Gedächtnisbildung und Legitimation angesichts von Kirchenspaltung und konfessioneller Polarisierung waren hier wichtige Untersuchungsdimensionen, die Darstellungsformen, Funktion und Stellenwert der Geschichte innerhalb der konfessionell geprägten Kulturen bestimmen helfen.

Für eine stärkere Würdigung der in katholischen Milieus der Frühen Neuzeit geführten historischen Diskurse sprach sich Stefan Benz (Bayreuth) aus. Prinzipiell schlug er vor, unter Verwendung des Leitbegriffs "Geschichtskultur" (J. Rüsen) die mit der Historiographie verbundenen komplexen kommunikativen und praktischen Lebenszusammenhänge zu beschreiben. Während im Protestantismus mit den Reformationsjubiläen hauptsächlich der Wandel zelebriert worden sei, habe man in katholischen Regionen mit der Feier von Klostergründungen, Bischofsweihen etc. eher Kontinuitäten betont. Generell sei die Traditionsbildung hervorzuheben, die für alle Konfessionen auf allen Feldern der Geschichtskultur wirksam gewesen sei. Zu beachten sei allerdings auch, dass konfessionsneutrale Jubiläen beide konfessionellen Milieus in gemeinsamen Feiern vereinen konnten, so etwa die Nürnberger Gutenberg-Feiern. Insgesamt attestierte Benz der katholischen Geschichtsschreibung, sie habe einen stärkeren Sitz im Leben gehabt als die protestantische.

Matthias Pohlig (Berlin) hingegen thematisierte die deutsche lutherische Historiographie auf der Grundlage von Texten aus der Zeit zwischen ca. 1546 bis 1617. Im Mittelpunkt standen umfassende Fragen nach der dabei geübten historiographischen Praxis wie auch den zur Identitätskonstruktion benutzten Argumentationsmustern. Dabei stünden die Untersuchungsdimensionen Identität, Apokalyptik und Humanismus als Chiffren für Funktionalisierung, Gegenwartsdiagnostik und Gattungen. Während der Niedergang der mittelalterlichen Papstkirche und die Sonderrolle Luthers relativ durchgängig ins Feld geführt worden seien, könnten Konjunkturen apokalyptischer Szenarien festgestellt werden, deren Deutung obendrein keineswegs unproblematisch sei. Weiterhin seien die Charakteristika der im Diskurs verwendeten historiographischen Gattungen den Autoren so sehr geläufig gewesen, dass sie sie nach ihren jeweiligen Intentionen ausgewählt und die Inhalte und Deutungen danach zugerichtet hätten. Der Entwicklung eines konfessionellen Bewusstseins attestierte er die Funktion einer treibenden Kraft für die Historiographie aller Konfessionen, die im Großen und Ganzen spezielle Argumente, Themen und Funktionen gebündelt habe. Zwar biete die lutherische Historiographie oft kein geschlossenes Gesamtbild, doch seien verschiedene Modelle und Selbstbilder beschreibbar. Historiographische Konventionen hätten deren Ausbildungen begrenzt und gleichzeitig auch für innerkonfessionelle Fraktionierungen und Strukturierungen gesorgt.

Katholische und protestantische Historiographie verglich Peter Wolf (Augsburg) anhand von im gemischtkonfessionellen Regensburg um 1600 entstandenen Beispielen, die jeweils Traditionslinien begründeten. Während im bürgerlich-protestantischen Milieu ein stark rhetorisiertes Stadtlob in grundsätzlich irenischem Ton vorzufinden sei, das allerdings dem städtischen Rat namentlich in Konfessionsfragen eine korrekte Tradition bescheinige, sei auf katholischer Seite eine quellenorientiertere, mit vielen Allegoresen angereicherte Darstellung erfolgt, in der für die Rekatholisierung der Stadt eingetreten wurde. In der mehrfachen Überlieferung dieser Schriften konnte Wolf auf in den Marginalien geführte Auseinandersetzungen mit den Texten hinweisen, an denen die durch jeweils gegenwärtige Zustände determinierte Relevanz der älteren Geschichte in späteren Zeiten offensichtlich werde. Bei all ihrer konfessionellen Tendenz attestierte Wolf den untersuchten Schriften und dem Umgang damit doch eine relative Toleranz, wie er der Historiographie auch insgesamt zustraute, die Konfessionsschwelle überwinden zu können.

In der fünften und letzten, von Eva Kormann (Karlsruhe) moderierten Sektion ("Historiographie auf dem Weg zur Wissenschaft?") galt es schließlich, die Entwicklung der Historiographie in der Frühen Neuzeit hinsichtlich des Aspekts der Wissenschaftlichkeit zu beleuchten. Dieser stellt einen zentralen Indikator innerhalb der bis heute vorherrschenden modernisierungstheoretischen Deutung dar und ist somit eminent wichtig für die Charakterisierung der Historiographie der Epoche, nicht zuletzt auch in ihrer Bedeutung für diejenige der nachfolgenden Zeit. Zudem rücken hier mit der konkreten Praxis der Gelehrten sowie der Ausbildung gelehrter Netzwerke die Mechanismen der Genese und diskursiven Fortentwicklung von Wissen ins Blickfeld.

Zu Werk und Bedeutung der Bollandisten erklärte Jan Marco Sawilla (Hamburg), dass das bis heute vorherrschende Bild dieser jesuitischen Forschergruppe als eines quellenkritischen und legendenfernen Wegbereiters einer wissenschaftlichen Arbeitsweise maßgeblich durch sie selbst erzeugt wurde, empirisch jedoch nahezu unerforscht sei. Als Ziel seiner diesbezüglichen Studien fasste er zusammen, die dominanten Ideen des Werkes, die Herkunft der dort verwendeten Materialien, die Inhalte der eingefügten methodologischen Traktate und die konstruierten Argumentationsfolgen beleuchten zu wollen sowie die Ergebnisse in Kontrast zu den derzeit verfügbaren historiographiegeschichtlichen Verlaufsvorstellungen zu setzen. Wenn auch eine detaillierte Rekonstruktion der Rezeption des Werkes nicht realisiert werden könne, ließe sich doch anhand von Diskussionsfolgen, in die es eingebettet ist, wie auch der Korrespondenz, die die Bollandisten zur Auffindung und Verifizierung ihrer Quellen führten, ein aufschlussreicher Einblick in die damalige gelehrte Netzwerkbildung gewinnen.

Mit der Vorstellung eines Projekts zur kritischen Edition der Briefe von und an die Brüder Bernhard und Hieronymus Pez aus der Zeit von 1709 bis 1715 umriss Thomas Wallnig (Wien) ein weiteres Beispiel frühneuzeitlicher gelehrter Netzwerkbildung. Auch wenn die ursprüngliche Absicht der beiden Melker Benediktiner, ein nach Jahrhunderten gegliedertes Verzeichnis aller Schriftsteller ihres Ordens zu schaffen, nie vollendet wurde, habe sich aus diesem Impuls eine umfangreiche Korrespondenz-, Reise- und Sammeltätigkeit ergeben, die weit über die Ordensgrenzen hinaus gegriffen habe. Mit ihren historischen Editionen zur religiösen und regionalen Geschichte hätten sie Nachhaltiges geleistet und verschiedene Publika erreicht. Die Überlagerung historischer Möglichkeiten und Paradigmen, etwa in der Wahl der mittelalterlichen Referenzfelder ihrer Editionen mit den daraus abgeleiteten Kanon- und Identitätsbildungen, wie auch die Verankerung der gelehrten Tätigkeit im Selbstverständnis der beiden Mönche, hob Wallnig als besonders interessant hervor. Überall spiegle sich das Spannungsverhältnis zwischen Orden, Res publica literaria und Hof, in dem die Brüder Pez sich bewegten, und das sie selbst etwa durch Informationen und Kontakte vermittelnde Tätigkeit mit geprägt hätten.

Das Konzept einer in der Auswahl, Gewichtung, Bewertung und Darstellung des Materials neuen Überblicksdarstellung der Historiographiegeschichte von der Antike bis zur Gegenwart stellte Markus Völkel (Rostock) vor. Ziel dabei sei, in einer ausgewogenen, Epochen und Weltregionen gleichgewichtig behandelnden wie auch transkulturelle Prozesse berücksichtigenden Darstellung mit dem Verwissenschaftlichungsparadigma sowie dem Eurozentrismus zu brechen. Dabei sei eine doppelte Kontextualisierung der Historiographie in Wissen(schaft) und Literatur sowie die Bestimmung ihrer Funktionsmaxima in diesem Spannungsfeld entscheidend, womit eine allgemeine Vergleichbarkeit gewährleistet werde solle. Anhand von maßgeblichen Werken soll der Informationsbeitrag der Historiographie zur Epoche, ihr mentalitätsgeschichtlicher Zuschnitt, das Zusammenwirken mit anderen Gedächtnisinstitutionen, die methodischen Leistungen, Organisationsformen der Produktion und medialen Aufbereitung sowie die jeweiligen Rezeptionszusammenhänge erörtert werden. Abschließend betonte Völkel das große Potential der vorhandenen historiographischen Literaturmasse als Ausgangspunkt einer interdisziplinären Bearbeitung.

In der die Tagung abschließenden allgemeinen Diskussion wurde betont, wie sehr verschiedene Beiträge die Fragwürdigkeit modernisierungstheoretischer Modelle auf dem Gebiet der Historiographiegeschichte angedeutet haben; es gelte, die Untersuchungen dahingehend auszuweiten und die aufgezeigte Tendenz zu untermauern, ohne jedoch Entwicklungsphänomene generell auszublenden. Zur erweiterten Definition des Forschungsgegenstandes wurde vorgeschlagen, die Gattungsfrage übergreifend als Kontinuum jeglicher historiographischer Äußerungen zu definieren, die dann in ihren Entstehungskontexten genauer zu beleuchten seien. Unbestritten war ebenfalls, dass das Forschungsfeld nicht durch methodische Grenzziehungen einzuengen sei. Zudem sollten auch Gender-Fragen stärker berücksichtig werden. Ein inhaltlich begründetes Ausgreifen über die Epochengrenzen hinaus bleibe weiterhin toleriert.

Hinsichtlich der weiteren Tätigkeit des Arbeitskreises wurden verschiedene Perspektiven beleuchtet. Diese betrafen seine personelle und inhaltliche Internationalisierung und die thematische Schwerpunktbildung bei den Tagungen, etwa hinsichtlich der Autoren, der Funktionalisierung von Historiographie, ihrer Gattungen etc. Zudem wurden neben der beabsichtigten Herausgabe von Tagungsbeiträgen die Möglichkeiten gemeinsam zu publizierender Grundlagenwerke diskutiert, etwa in Form von Sammeleditionen frühneuzeitlicher Methodentexte, eines Repertoriums frühneuzeitlicher Historiographen/innen und Autobiographen/innen oder einer reich vernetzten Internetpräsenz mit Text- und Quellensammlung. Im Rückblick auf die vergangene Tagung wurden der hohe historiographiegeschichtliche Forschungsbedarf sowie die produktive Gesprächsatmosphäre innerhalb der Gruppe hervorgehoben.


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