Utopie & Alltag. Perspektiven auf Ideal und Praxis im 20. Jahrhundert

Utopie & Alltag. Perspektiven auf Ideal und Praxis im 20. Jahrhundert

Organisatoren
Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Ort
Potsdam
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.04.2015 - 24.04.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Janine Noack / Martin Schmitt, Zentrum für Zeithistorische Forschung, Potsdam

Zum Start des neuen Semesters organisierten Doktorandinnen und Doktoranden des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF) das 12. Potsdamer Doktorandenforum für Zeitgeschichte zum Thema „Utopie und Alltag. Perspektiven auf Ideal und Praxis im 20. Jahrhundert“. Im Zentrum der Tagung stand die Diskrepanz zwischen zukunftsgerichteten Utopien und den Alltagserfahrungen der Menschen, welche diese Konstruktionen immer wieder herausforderten. Ziel war es, die verschiedenen Fragen nach den Großbegriffen Utopie und Alltag sowohl aus der Perspektive sozialistischer Diktaturen, als auch aus der westlicher Demokratien zu untersuchen und neben Projektvorträgen möglichst viel Raum für Diskussionen zu schaffen. Die interdisziplinär angelegte Tagung verband literatur-, sozial und kunstwissenschaftliche Beiträge mit Studien aus dem Bereich der Zeitgeschichte und bot damit ein vielseitiges und inspirierendes Programm mit Referent*innen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Großbritannien und Kroatien.

Nach einer Begrüßung von Frank Bösch (Potsdam), Direktor des Zentrums für Zeithistorische Forschung, umriss die Key Note von LUCIAN HÖLSCHER (Bochum) zentrale Fragestellungen, die sich aus der Verbindung von Utopie und Alltag ergeben und die zentrale und innovative Rolle des von ihm initiierten Forschungsnetzwerkes „Die Zukunft des 20. Jahrhunderts“ als Versuch die Geschichte des 20. Jahrhunderts konsequent von der Zukunft her zu denken. Ziel sei es, neue Methodeninstrumente zu entwickeln um Diskurse über Zukunft stärker in der Geschichtswissenschaft zu etablieren. Bezugnehmend auf den Tagungstitel “Utopie und Alltag” verwies Hölscher auf die Problematik der Begriffsbildung und die Notwendigkeit die Genese des Utopiebegriffs in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung eingehend zu thematisieren. Der Utopiebegriff sei genauso konstruiert, wie Utopien selbst und in seiner Ausformung abhängig von seinem diskursiven Kontext. Deutlich wurde diese Feststellung auch in den einzelnen Beiträgen; der Utopiebegriff selbst blieb während der Tagung viel diskutiert und sehr unterschiedlich ausgeformt. Anschließend betonte Hölscher das Verhältnis zwischen Utopie- und Zeitlichkeitsdiskurs. Neben der Diskussion zu temporality, also dem Zeitregime der Moderne, in der die Positionen von Präsentismus (Gumbrecht) bis hin zu einer Vergangenheitsfixierung (Aleida Assmann) reichen, besäßen Utopien oftmals einen inhärenten zeitlosen Bedeutungsüberschuss, in denen Zeit gar keine Rolle mehr zugewiesen bekomme.

Die Problematik der Begriffsunschärfe nahm ANNETTE SCHUHMANN (Potsdam) in ihrem Abschlusskommentar wieder auf und verwies auf die starke Wandelbarkeit und Dialektik, die einem derart kontaminierten Begriff wie Utopie inzwischen eingeschrieben ist. Daraus ergebe sich auch die Frage, inwiefern der Utopiebegriff tatsächlich zu einem Erkenntnisgewinn beiträgt. Schuhmann bejahte dies zwar, plädierte aber für eine genauere Untersuchung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, in denen Utopien konstruiert werden und eine genauere Analyse derjenigen Akteure, die den Gestaltungsprozess von Utopien beeinflussen. Weiterhin sei es immanent notwendig, den Begriff historisch einzuordnen und den Analyse- konsequent vom Quellenbegriff zu trennen.

Die Tagung startete mit dem Panel „Literatur und Utopie“, einem Ausgangspunkt, der vor allem im Hinblick auf die Genese des Begriffs Utopie in der Literaturwissenschaft eine sinnvolle Grundlage für die folgenden zwei Tage legte.

YUUKI KAZAOKA (Wien) eröffnete das Panel mit einem Vortrag zur literarischen Praxis als Utopie und untersuchte dazu Ingeborg Bachmanns Gedichtfragment „Wenzelsplatz“. Kazaoka wählte hierfür einen biografischen Zugang und analysierte die Konstruktion einer Utopie im Gedicht anhand literarischer Stilmittel. Das Gedicht beruht demnach auf den Lebenserfahrungen Bachmanns, hat aber trotzdem einen starken Bezug zu den politischen Debatten der Zeit. Der Wenzelsplatz im Jahr 1962 wird, so Kazoaka, als ein Ort der subjektiven Freiheit und der Selbstexpression konstruiert, welcher im Rekurs auf die fiktiv-wünschende Erzählung „Böhmen liegt am Meer“, die einige Jahre zuvor entstand und zu der sich im Fragment deutliche Parallelen finden, gleichzeitig eine Utopie, wie auch ein Alltagsort ist. In der anschließenden Diskussion wurde die Möglichkeit nach einer individuellen Dimension gesamtgesellschaftlicher Utopien diskutiert, obwohl an dieser Stelle nach einer Überdehnung des Utopiebegriffs zu fragen ist. Weiterhin könnte der „Wenzelsplatz“ auch vielmehr den dystopischen Charakter einer Vergangenheitserfahrung besitzen.

Im Anschluss hob NINA RISMAL (Cambridge) das immanent emanzipatorische Potenzial konzeptioneller Utopien am Beispiel von Herbert Marcuses „Eros und Zivilisation“ hervor. Obwohl Utopiekonzepte der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule entgegenliefen und vor allem Theodor W. Adorno Utopien als gefährliche transformative Praxis beschrieb, da sie zwangsläufig in einer repressiven Sprache der Gegenwart formuliert werden müssten, gebe es nach Rismal dennoch die Möglichkeit, das positive politische Potenzial von Utopien auch in diesem Kontext zu finden. Gerade im Zusammenhang zum Vortrag Kazaokas wurde schon an dieser Stelle der sehr weite Definitionsrahmen von Utopien deutlich, da Rismal sich vor allem der handelnden Kraft von Utopien widmete, wobei Kazaoka einen subjektiven, persönlichen Utopismus konstatierte.

Das zweite Panel näherte sich dem Tagungsthema aus kunsthistorischer Perspektive. OLIVER SUKROW (Heidelberg/München) eröffnete das Panel mit dem Beitrag „Zukunftsorte! Das Verhältnis von utopischem Denken und Kunst in der DDR der 1960er-Jahre“ und fragte nach Orten der Utopie und deren Ausgestaltung. Sein Schwerpunkt auf den 1960er-Jahren ergibt sich aus dem Verständnis dieses Jahrzehnts als das utopische Dezennium der DDR-Geschichte. In dieser Zeit hatte die Konstruktion von Orten, die die zuvor versprochene Zukunft greifbar machen sollten, Hochkonjunktur, so Sukrow in Anlehnung an Martin Schulze-Wessel. In den vorgestellten Werken wurde den Künstlern ein intentionaler Utopiebegriff unterstellt. Schon zu Beginn machte Sukrow deutlich, dass der Begriff Utopie selbst in den Quellen nicht auftaucht und für seine Arbeit vor allem als Arbeitsbegriff zu verstehen ist.

Welche Rolle spielen Utopien heute noch? Dieser Frage und dem Anspruch an die Kunst der Gegenwart, Utopien zu liefern, ging SEBASTIAN MÜHL (Offenbach) in seinem Vortrag nach. Ist demnach in der Architektur der Raum ein öffentlicher Zukunftsort, schärfte Mühl den Blick dafür, wie die Kunst als abgetrennter Raum intersubjektiver Erfahrung zur Bühne von Politik werden kann und sie damit reflektierbar gemacht werden kann. Am Beispiel der individual-kollektiven Auftritten der russischen Künstlergruppe Chto Delat (dt.: „Was tun“) mit dezidiert kommunistischen Anleihen und der partizipativen Ästhetik Nicolas Bourriauds mit dessen vom Scheitern kollektiver Utopien getragenen Happenings zeigte er, wie die Kunst nach 1989 Intersubjektivität als residualen Rest des Utopischen, gleichsam einer Mikro-Utopie zu schaffen versuchte. Die sich durch die Konferenz ziehende Frage nach individueller wie kollektiver Utopierealisation fand hier ihre stärkste Konkretisierung. Trotzdem dürfe Kunst nicht überfrachtet werden mit politischen Ideen, die in der politischen Sphäre zu verhandeln seien, so Mühle später in der Diskussion, denn Mikro-Utopien exkludieren per se.

Der zweite Konferenztag wurde mit dem Vortrag von CARLA ASSMANN (München) eingeleitet, in dem sie die Großwohnsiedlungen der 1960er-Jahre als Projektionsfläche einer modernen Gesellschaft thematisierte und damit inhaltlich an das vorangegangene Panel anschloss. Aßmann stellte die Diskurse um die Planung und Bebauung des Märkischen Viertels in Berlin und Le Mirail in Toulouse vor und verband dies mit zwei zentralen Thesen. Zum einen würden die Planungen großer Wohnungssiedlungen am Stadtrand eine utopische Gesellschaftsvision enthalten, die auf den Glauben an technischen Fortschritt und Modernisierung basierte, zum anderen seien die hohen Erwartungen an diese neuen Siedlungen der zentrale Grund ihres Scheiterns. Die Architekten hätten demnach mit der Konzeption der beiden Viertel das Versprechen der Teilhabe der Bevölkerung am technischen Fortschritt und den geistigen wie materiellen Errungenschaften der gedachten Moderne verbunden. Allerdings wurde schnell klar, dass die Ansprüche an die Viertel, verbunden mit den neuen architektonischen Konzepten, mit den Schwierigkeiten des Alltags nicht zu vereinbaren waren. Vor allem das Auseinanderbrechen von Elementen einer aufeinander aufbauenden Utopie im Alltag kam hier schön zum Vorschein. In seinem Kommentar bezeichnete Hanno Hochmuth (Potsdam) die Planungen aus der heutigen Perspektive gar als Dystopie, die mit einer starken medialen Stigmatisierung einherging. Süffisant wurde in der Diskussion angemerkt, ob denn heute der perfekte Altbau die letzte Utopie der Linken darstelle?

Eine methodisch wie auch thematische neue Perspektive schlug das nachfolgende Panel zum interpersonellen Verhältnis von Individuen zwischen Utopie und Alltag vor. Es wurde von SARAH HAUPT (Frankfurt am Main) eingeleitet, die sich der Frage „Utopie der Liebe? Der Umbruch der Moderne“ widmete. Konkret begrenzte sie den Untersuchungsgegenstand auf den Heidelberger Kreis um Max Weber. In Form von Salon-Abenden tauschten sich bürgerliche Akteure über neue Formen der Liebe aus und praktizierten diese auch miteinander. Den Diskurs um eine neue Rolle der Frau, die bürgerlichen Ehe als etablierte Gesellschaftsordnung zu hinterfragen und neuen Formen der Erotik attestierte Haupt dabei ein utopisches Grundgerüst, denn sie gestalteten einen vormals privaten nun als freien Raum. Sie ging sogar so weit, diese Konstruktionen als Versuch zu interpretieren eine bestehende soziale Ordnung aufzubrechen und zu verändern. Zentral ist hier allerdings die Frage nach dem Utopiebegriff, da der Heidelberger Kreis keineswegs eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung besaß. Hier wäre Lucian Hölschers Anregung weiter zu verfolgen, der fragte, inwieweit marginale Gruppen eine Utopie leben und damit prototypisch die neuen Vorstellungen von Sozialität einer ganzen Generation repräsentierten wie beeinflussten.

Anschließend thematisierte JOSIP MIHALJEVIC (Zagreb) die Verortung des Einzelnen im selbstverwalteten Sozialismus Jugoslawiens. Obwohl sich der Sozialismus Jugoslawiens als blockfreier Staat in einigen Aspekten signifikant von den sozialistischen Formationen anderer Staaten unterschied, wäre die Verortung des Individuum in der Gesellschaft und in seiner Beziehung zur Politik mit typischen Merkmalen anderer sozialistischer Länder identisch. Mihaljevic bezieht seine Forschung auf die 1960er-Jahre, welche in den Quellen als die goldenen Jahre des selbstverwalteten Sozialismus in Jugoslawien beschrieben werden. Genau diese Vorstellung eines erfolgreichen selbstverwalteten Sozialismus bezeichnet Mihaljevic als Utopie, die schon auf Grund ihrer theoretischen Annahme der freien Entscheidungskompetenz der Individuen nicht umsetzbar war.

Im letzten Panel wurde der Utopie-Begriff auf konkrete soziale Bewegungen angewandt und somit eine wichtige Leerstelle in der bisherigen Diskussion gefüllt: Wer verhilft Utopien zu ihrer Realisation? CAMIEL OOMEN (Göttingen) analysierte das Verhältnis von Utopie und Alltag in der niederländischen Bewegung „Friedensaktion der Jüngeren“, einer Gruppe junger Pazifisten zwischen 18-35 Jahren in der Zwischenkriegszeit. In der Konstruktion des eigenen Friedensideals hatte diese Gruppe einen entscheidenden, gesamtgesellschaftlichen Anspruch und sei damit weiter gegangen, als vergleichbare Jugendgruppen. Daher bekomme die Vermischung von (Friedens-)Utopie und Alltag hier eine besondere Gewichtung, da die Utopie selbst als die im Alltag zu lebende Realität wahrgenommen wurde.

Der letzte inhaltliche Vortrag der Tagung wurde von KATHARINA MORAWIETZ (Basel) gehalten, die sich mit der sozialen Bewegung Longo mai, dem utopischen Gehalt von Lebenskonzepten und deren Umsetzung im Alltag auseinandersetzte. Die Konstruktion von Utopien entstand in dieser linken sozialen Bewegung der 1970er-Jahre schon im Gründungsethos mit dem Versprechen, eine neue internationale Kraft aufzubauen, um den gegebenen, als desaströs wahrgenommenen Zuständen beispielsweise mit landwirtschaftlicher Selbstversorgung zu begegnen. Gezeichnet wurde von ihren Mitgliedern dann das Bild einer idealen Gesellschaft, einer Utopie, die es auch in den Alltag schaffen sollte.

Was die Frage aufwarf, die viele Vorträge der Tagung durchzog: Ist eine Utopie noch eine Utopie, sobald ihre Umsetzung im Alltag eine reale Möglichkeit wird? Ob in der Sprache der Frankfurter Schule, den sozialen Großbauten der Moderne, der intersubjektiven Erfahrung in Kunst oder Liebe, oder in pazifistischen wie progressiv-linken Bewegungen, es sind gerade diese Friktionen zwischen realisierter Utopie und utopisch-gewünschter Realität, die dem historischen Utopiebegriff sein Analysepotenzial zurückgeben könnten.

Konferenzübersicht:

Frank Bösch (Potsdam), Begrüßung

Keynote
Lucian Hölscher (Bochum), Utopie und Zukunft im 20. Jahrhundert

Panel I—Literatur und Utopie

Yuuki Kazaoka (Wien), Literarische Praxis und Utopie. Ingeborg Bachmanns spätes Gedichtfragment Wenzelplatz

Nina Rismal (Cambridge), The emancipatory potential of conceptual utopias: The case of Marcuse's Eros and Civilization

Kommentar: Stefanie Senger

Panel II—Kunst und Utopie

Oliver Sukrow (München/Heidelberg), Zukunftsorte! Das Verhältnis von utopischem Denken und Kunst in der DDR der 60er-Jahre

Sebastian Mühl (Offenbach), Utopiebezüge in der Gegenwartskunst

Kommentar: Sara Blaylock

Panel III—In den Raum geplant

Carla Aßmann (München), Erwartungen so hoch wie die Häuser selbst.

Til Wickert (Rostock), Kampf um die Köpfe

Kommentar: Hanno Hochmuth

Panel IV—Individuen zwischen Utopie und Alltag

Sarah Haupt (Frankfurt am Main), Utopien und Liebe

Josip Mihaljevic (Zagreb), The position of the individual in the Yugoslav self-managed socialism. Theory and practise of the 1960s

Kommentar: Robert Lucic

Panel V—Utopien in Bewegung

Camiel Oomen (Göttingen), Utopie und Alltag in der niederländischen Bewegung der jüngeren Pazifisten

Katharina Morawietz (Basel), Longo mai: Konzepte und Umsetzung von Solidarität und Gemeinschaftlichkeit

Kommentar: Rebecca Menzel

Annette Schuhmann (Potsdam), Abschlussvortrag mit anschließender Abschlussdiskussion


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