Geschichten der Osteuropäischen Geschichte: Paradigmenwechsel in einer historischen Disziplin

Geschichten der Osteuropäischen Geschichte: Paradigmenwechsel in einer historischen Disziplin

Organisatoren
Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
15.10.2004 - 16.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Alexander Otto, Universität Tübingen

Am 15. und 16. Oktober 2004 veranstaltete das Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Universität Tübingen eine internationale Konferenz unter dem Titel "Geschichten der Osteuropäischen Geschichte: Paradigmenwechsel in einer historischen Disziplin". Der Anlaß war ein zweifacher. Das Institut feierte sein 50-jähriges Bestehen; offiziell gegründet 1953, nahm es im Jahr darauf seine Arbeit auf. Und post festum beglückwünschten die Konferenzteilnehmer Dietrich Geyer, der das Institut von 1965 bis 1994 leitete und im vergangenen Jahr seinen 75. Geburtstag feierte. Wohl mit Blick auf die eigenen Traditionen hatte das Institut Referenten vor allem zur russischen und sowjetischen, aber auch zur polnischen und tschechischen Geschichte eingeladen. Im übrigen jedoch ging es auf der durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft und die Fritz Thyssen Stiftung geförderten Veranstaltung um übergreifende Forschungskonzepte. Anhand von 26 Beiträgen, fast alle zu einem konkreten Forschungsgegenstand, sollten fünf 'Paradigmenwechsel' sich erweisen oder hinterfragt werden. Inhalte und Diskussionen werden im folgenden zu drei Schwerpunkten zusammengefaßt.1

1. Rückständigkeit und Gesellschaftsbildung

Wenig überraschend war, daß an die Kategorie der Rückständigkeit gegensätzliche oder auch gar keine Erwartungen mehr gestellt werden. Einerseits wird sie für die russische Geschichte seit Peter dem Großen als unverzichtbare Interpretationshilfe angesehen, die innerhalb einer ohnehin gebotenen Systematisierung des historischen Vergleichs fruchtbar zu machen sei (Manfred Hildermeier). Andererseits hält man sie für den Ausdruck einer eurozentrierten Sichtweise und, mit Blick auf den Entstehungskontext des 'backwardness', für ein Relikt des Kalten Krieges.

Daß sich solche schnell auf die Spitze getriebenen Widersprüche ohne weiteres auflösen lassen, stellten einige kulturwissenschaftlich ausgerichtete Beiträge unter Beweis, die nach dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft und nach Gesellschaftsbildung jenseits des Staates fragten. So läßt sich die kulturelle Dimension sozialökonomischer Integration anhand des polnischen Lodz während der Industrialisierung aufzeigen, wo sich ein 'Wirtschaftsbürgertum' formierte, das gemeinsame Wertvorstellungen aufwies und durchaus interethnisch agierte (Bianka Pietrow-Ennker). Auch aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive bildete sich in Polen seit der Zeit der Teilungen Gesellschaft gegen den Staat oder unabhängig von ihm aus, wie an der Rolle der Frau in diversen Staatsbürgerschaftsmodellen und am Widerstreit des Geschlechts als 'natürlicher' und politisch instrumentalisierbarer Kategorie bis in die Gegenwart demonstriert wurde (Claudia Kraft).

Mit Blick auf das späte Zarenreich, auf die mit den Großen Reformen einsetzenden politischen Emanzipationsprozesse, wurde der Begriff der 'civil society' in die Debatte eingebracht (Elise Kimerling-Wirtschafter). Die dabei zutage tretenden Definitionsprobleme gründeten insbesondere in der Frage, inwieweit der Staat einzubeziehen ist (sofern man es nicht bei einer Bestimmung ex negativo beläßt). Schließlich stellt es ein häufig angewendetes wie kritisiertes Verfahren dar, Zivilgesellschaft aus westlicher Rechtsstaatslogik heraus zu erklären. Daß sich das Modell vom übermächtigen Staat überlebt hat, bestätigt die Untersuchung der Stadt Ekaterinoslav auf ihr symbolisches Kapital hin. In ihrer wirtschaftlichen, multiethnisch geprägten Prosperität strahlte sie Modernität und Integrationskraft aus, ließ sich jedoch nicht als integratives Symbol des autokratisch beherrschten Imperiums in Anspruch nehmen (Rainer Lindner). Für die Staatsmacht erfolgreicher verlief die Inszenierung der bolschewistischen Festkultur der 1920er und 1930er Jahre. Zwar kam es auch hier in der Kommunikation von Staat und Gesellschaft zu nicht geplanten Instrumentalisierungen und Sinnzuschreibungen durch die Akteure, doch bewegten sich diese stets innerhalb des vorgegebenen Festrahmens, womit die Sowjetisierung der Symbolwelten letztlich forciert wurde (Malte Rolf).

2. Historisches Subjekt und Staatsmacht

Es geht also weniger um den Paradigmenimport von westlichen Forschungsfeldern als um die Untersuchung konkreter Interaktionen zwischen Staat und Gesellschaft. Ein Weg kann in der Konzentration auf einzelne sozialökonomisch oder kulturell bestimmte Gruppen wie beispielsweise die 'Wirtschaftsbürger' liegen, ein anderer in der Analyse der informellen Praktiken, mit deren Hilfe der Staat regiert wurde. Und schließlich wendet man sich dem historischen Subjekt und der Rekonstruktion von Identitäten zu. Erkenntnisinteressen und Erkenntnisgrenzen einer sinnvollen Historisierung wurden in paradigmatischer Weise an dem Beitrag deutlich, der einen Blick in die 'innere Welt' eines russischen Beamten gestattete. Das tradierte Negativimage des 'cinovnik' ist auch der Orientierung am Weberschen Idealtypus des modernen Beamtentums geschuldet. Gerechter wird dem Beamtensubjekt und seinen Werthaltungen, beispielweise dem Ehrgefühl, eine Analyse der Funktionalität des 'kormlenie'-Systems, des auf Patron-Klientel-Netzwerken beruhenden informellen Versorgungsapparats der Amtsträger, in dem sich der einzelne zu positionieren suchte: Systemtheoretisch gesehen waren Korruption, Rang- und Ordenswettbewerb ein reziproker Gabentausch (Susanne Schattenberg). Dabei konnten - auch dies wurde in dem Beitrag deutlich - Vorwürfe der Bestechlichkeit und Amtsanmaßung ein geeignetes Instrument abgeben, um unliebsame Konkurrenten aus dem Feld zu schlagen. Der schlechte Ruf russischer Beamter war und ist nicht allein das Resultat von Forschungskonventionen. Die Beurteilung von Funktionalität und Dysfunktionalität ausschließlich aus Akteurssicht provozierte in der Diskussion geradezu gesetzmäßig die Forderung nach Anschluß an die Sozialgeschichte: nach stärkerer Berücksichtigung einmal der materiellen Verhältnisse im Beamtenapparat, zum anderen der Naturalwirtschaft als eines strukturellen Phänomens, das in Rußland nicht nur ein Mittel der Bereicherung darstellte, sondern, wie das Beispiel der Armee zeigt, ein staatstragendes und von Staats wegen verankertes Versorgungsprinzip. Ergänzend wurde die Frage nach der Fortsetzung informeller und vormoderner Praktiken über den Zarenstaat hinaus aufgeworfen. Auch in der sowjetischen Gesellschaft bildeten Bestechung und Bittschriften ein gängiges Mittel im Umgang mit den Staatsorganen, wie eine Untersuchung der sozialen Fürsorge für Invaliden nach dem Zweiten Weltkrieg bestätigt (Beate Fieseler).

3. Krieg und Gewalt - Nationsbildung und Imperium

Es ist die Frage, ob Forderungen einerseits nach mehr Vergleichs- und Kontinuitätenanalysen und andererseits nach einer Beschränkung auf das, was vorhanden gewesen und damit beschreibar sei - letztlich also auf die Akteure und ihr konkretes Umfeld -, sich wirklich so unversöhnlich einander gegenüberstehen, wie es die Diskussion mitunter vermittelte. Der erfahrungsgeschichtliche Ansatz beispielsweise stimmt da optimistischer. So überwanden die Bürgerkriegserfahrungen im Ural die Kluft, die sich zwischen großen Teilen der Gesellschaft und dem jungen bolschewistischen Staat auftat: Kriegserfahrungen wurden insofern positiv gedeutet, als die Armee als Garant und Modell der wiederherzustellenden Ordnung angesehen wurde, die 'Militarisierung der Lebenswelten' also den Frieden zu versprechen schien (Igor' Narskij). Gewalt als anthropologische Konstante, deren Auswirkung von der Situation abhing, schließt nicht die Wirkungsmacht von Kriegserfahrungen über Generationen hinweg aus. Als hilfreich für die Entschlüsselung kollektiver Erinnerungen und Erwartungshaltungen erweist sich die Kontextualisierung von Kriegsverlauf und Gewalt mit der womöglich Jahrhunderte alten Konfliktgeschichte und bereits präsenten Herrschaftspraktiken (Christoph Mick). Dabei verlief die grundsätzlich außer Zweifel stehende Brutalisierung von Staat, Armee und Gesellschaft durch den Krieg nicht unbedingt in linearen - und damit leicht nachvollziehbaren - Entwicklungen (Peter Holquist).

Krieg und Gewalt nehmen in den europäischen Nationsbildungen einen festen Platz ein. Wurde so auch das russische und sowjetische Vielvölkerreich zusammengehalten? Es ist noch nicht lange her, daß sich die russozentristische Sicht durch eine polyethnische abgelöst sah. Vermeintlich dem Nationalstaatsdenken verpflichtete Kategorien wie Nation und Ethnie werden verworfen, stattdessen sucht man die neuen Einsichten zu identitätsstiftenden, kulturellen 'Orientierungen' zu einer eigenen Kategorie zusammenzufügen, was einige Mühe bereitet (Andreas Kappeler). Für die in Tübingen zur Diskussion stehende Ethnizität wurde ein konkreter Vorschlag unterbreitet. Demnach bildete Ethnizität eine von den sowjetischen Eliten erst für ihren Bedarf entdeckte und äußerst erfolgreich installierte Ordnungskategorie. Als Selbst- und Fremdzuschreibung den Völkern aufoktroyiert, wurde sie von diesen - entgegen ihren Traditionen - übernommen. Die Feindklassen wurden zu Feindnationen, der Sozialismus zum 'imperialen Projekt', in dessen gewaltvollen Zusammenhängen er sich nur zu behaupten vermochte - ähnlich wie der Nationalsozialismus im Vernichtungskrieg. In ihrem 'Streben nach Eindeutigkeit' und Exklusionsdenken war Ethnizität ein Konzept der Moderne (Jörg Baberowski). Der Diskussionsbedarf hierzu war groß, Einwände wurden gegen die Reduzierung der imperialen Geschichte auf eine Gewaltgeschichte oder den konstitutiven Charakter der Ethnizität für die stalinistische Herrschaft erhoben, besonders aber gegen das Ausblenden anderer Kategorien der Selbst- und Fremdzuschreibung. In der Tat lassen sich auch 'Nation' oder 'Ethnie' als ideologische Kampfkonstrukte instrumentalisieren. Der Vorteil der hier vorgestellten Ethnizität als forschungsleitender Kategorie liegt wohl in ihrer unmißverständlichen Eindimensionalität.

4. Fazit

Der 'Paradigmenwechsel' wurde auf der Konferenz nicht überstrapaziert, Anstöße, ihn zu diskutieren, nicht aufgegriffen: etwa daß sich eher eine wechselseitige Ergänzung der Paradigmen als ihr Austausch beobachten lasse (Christoph Schmidt) oder der eigentliche und bis dato letzte Wechsel von der Sozial- zur Kulturgeschichte vollzogen worden sei (Natali Stegmann). In erster Linie befaßt sich die Osteuropäische Geschichte mit ihrem Gegenstand (was man kaum kritisieren möchte). Selbstverständlich ist es mittlerweile, sich in fächer- und disziplinenübergreifende Methodendebatten einzubringen. Über die Fortführung einiger methodischer Richtungswechsel, von denen die wenigsten ihren Ausgang von den spezifischen Bedingungen des Faches nehmen, besteht weitgehende Einigkeit: über das Abrücken von einer europa- oder westzentrierten Sichtweise, den interkulturellen Vergleich, den Ausbau kulturwissenschaftlicher Konzepte oder die Aufwertung des historischen Subjekts als Akteur und Objekt gleichermaßen. War es vielleicht noch einer 'Tübinger Schule' zugefallen, seit den 1960er Jahren die sozialgeschichtliche Öffnung der Osteuropäischen Geschichte zu forcieren (Christoph Schmidt), so hat sich der Forschungskontext des Faches inzwischen 'globalisiert'.

Ein wenig mehr Reflexion über das Hier und Heute des Faches hätte man sich daher gewünscht, zumal Anlaß und Thema der Konferenz sich dafür anboten. Zwei außerhalb des Sektionsprogramms plazierte Vorträge von Dietrich Beyrau und Wolfgang Eichwede gaben einige Anregungen. Der Übergang "von der 'kämpfenden' zur 'verstehenden' Osteuropa-Historie" ist mittlerweile Geschichte, die einst enge Verbindung zwischen Wissenschaft und Politik hat sich aufgelöst, wie Beyrau am Beispiel des Gründungsdirektors des Tübinger Instituts Werner Markert ausführte. Tatsächlich gilt eine solche Verbindung heute generell, nicht nur mit Blick auf die deutsche Ostforschung, als verwerflich oder ist zumindest verpönt. Doch muß Politisierung des Faches kein Handeln in politischem Auftrag und Aufgeben wissenschaftlicher Grundsätze bedeuten: Gerne schließt man sich der Meinung an, daß die 'interkulturelle Transmissionsleistung' in der Kompetenz der Osteuropaforschung liegt (Bernhard Chiari). Daran ließen freilich nach dem Einsturz des Sowjetsystems die Fehleinschätzungen seitens des Westens, nicht zuletzt zu seiner eigenen Rolle in den Reformprozessen, zweifeln. Heute scheint in Rußland der Öffnungsprozeß auf staatlicher Ebene vorerst zum Stillstand gekommen zu sein, auf gesellschaftlicher Ebene hingegen weiterzulaufen (Eichwede). Wie die Konferenz belegte, hat die Osteuropaforschung bzw. die Osteuropäische Geschichte auch zu Fragen der Gesellschaftsbildung als 'nichtstaatlicher Veranstaltung' etwas beizusteuern. So ergeht einmal mehr der Ruf, daß sie ihrer Kompetenz in offensiver Weise gerecht werde.

Anmerkung:

1 Namentlich genannt werden hier nur die Referenten. Das Konferenzprogramm ist einzusehen unter: http://www.uni-tuebingen.de/uni/goi/Profil/Aktuelles/aktuelles.html.


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