Bewegung/en - 5. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/ Gender Studies Association

Bewegung/en - 5. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien/ Gender Studies Association

Organisatoren
Fachgesellschaft Geschlechterstudien
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
13.02.2015 - 14.02.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Folke Brodersen, Humboldt-Universität zu Berlin

Die 5. Jahrestagung der Fachgesellschaft Geschlechterstudien fand wie in den Jahren zuvor im Anschluss an die Konferenz der Einrichtungen für Frauen- und Geschlechterforschung im deutschsprachigen Raum (KEG) statt. Die Tagung verfolgte entsprechend des interdisziplinären Ansatzes der Geschlechterstudien die vielfältigen Stränge des Tagungsthemas ‚Bewegung/en‘. Es wurde sowohl über die Geschlechterordnung und potentielle Wandlungstendenzen referiert, die in und durch soziale und in Teilen feministische Bewegungen angestoßen wurden oder stattfinden. Ebenso fanden Reflektionen des eigenen Feldes, der Entwicklungen der Gender Studies wie auch über neue theoretische Perspektiven statt. Zentral aufgegriffen wurden darüber hinaus aktuelle antifeministische Bewegungen und Anfeindungen, die in einer zweiten Welle nach 2005 wieder zentral das wissenschaftliche Feld fokussieren und diskreditieren. Ausgerichtet wurde die Tagung durch das Interdisziplinäre Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Bielefeld.

Bezugnehmend auf diese antifeministischen Entwicklungen eröffnete Susanne Völker die Tagung mit dem Aufruf, sich weiter politisch kritisch zu (ver-)halten und zu arbeiten: ‚Stay, where the trouble is.‘ In der Keynote befragte ENCARNACIÓN GUTIÉRREZ RODRÍGUEZ (Giessen) eine Politik der Affekte auf ihre Ambivalenzen in der politischen Nutzbarmachung und Aporien (im Haushalt ‚Drecksarbeit‘ machen vs. affektive Spuren beseitigen) und wies den Bezug auf Commons als Grundlage für heterogene Bündnisse aus. Damit trug sie programmatisch zum Nachdenken über gegenwärtige Formen des Kollektiven bei. Als Veranstaltungsformate waren neben Vortragspanels selbstorganisierte Foren, Diskussionsrunden sowie der abschließende Ratschlag prägende Bestandteile der Tagung.

Das gemeinsame Übergangspanel mit der KEG thematisierte die Entwicklung der Gender Studies. GERLINDE MALLI und SUSANNE SACKL-SHARIF (beide Graz) diskutierten deren fortschreitende Institutionalisierung unter den Perspektiven einer Auslagerung aus anderen Studiengängen und Entpolitisierung durch Akademisierung. FRANZISKA RAUCHUT (Lüneburg) schloss an mit dem komplexen Konkurrenz- und Kompliz_innenverhältnis zu den (noch) nicht institutionalisierten Queer Studies. Die strukturell ähnlichen Narrationen einer Genealogie von ‚Diversity‘ als Kontinuität oder als Aneignung der Gender Studies verglich EIKE MARTEN (Hamburg) und schlug dagegen eine Praxis alternativen Erzählens als ‚kritische Aktualisierung‘ vor. Auf die Gefahr einer Re-Essentialisierung von Zweigeschlechtlichkeit in der unterkomplexen Etablierung von Gender als Schlüsselkompetenz wiesen FLORIAN KLENK und LISA-MARIE LANGENDORF (beide Darmstadt) hin.

Im Panel ‚Frauenbewegungen‘ untersuchte IMKE SCHMINCKE (Bielefeld) die Wahrnehmung eben jener durch junge Studierende im Kohortenvergleich: Eine ‚gesellschaftliche Emanzipation‘ (1981) stand der Rezeption als ‚individuelles Empowerment für Karriere‘ (2012) entgegen. Historisch diskutiert wurde der Kampf und die Erfolge der ‚Krüppelfrauenbewegung‘ in ihrer Auseinandersetzung mit der Frauenbewegung von SWANTJE KÖBSELL und LISA PFAHL (beide Berlin). ANTJE DANIEL (Bayreuth) beleuchtete aus transnationaler Perspektive die Bezugspunkte brasilianischer Aktivistinnen zwischen liberaler UN und feministisch sozialistischer Globalisierungskritik. Die Konzepte von Bündnis und Solidarität als Fluchtpunkte politischer Bewegung unter dem Einfluss vereinzelnder Identitätspolitiken in der Türkei erörterten CHARLOTTE BINDER und ASIL POLATDEMIR (beide Bremen).

MATTHIAS LUTERBACH (Basel) untersuchte im Panel ‚Kollektive‘ die Option auf und den Wunsch nach einer Entselbstverständlichung von Männlichkeit innerhalb von Männergruppen. KATHRIN GANZ (Hamburg) beleuchtete den ambivalenten geschlechterpolitischen Diskurs innerhalb einer Netzbewegung, die sich als politische Avantgarde ‚vernetzer‘ und damit freier Individuen versteht und zugleich die vergeschlechtlichte Figur des ‚Nerds‘ mythologisiert. Des Weiteren unterbreitete ESTHER MADER (Berlin) die Unterscheidung in kollektive und akkumulative Handlungsfähigkeit als Modell zur Analyse affektiver Politiken sowie LÜDER TIETZ (Oldenburg) das Konzept eines Lehrforschungsprojektes zur Bedeutung künstlerischer Produktionen bei der Selbstidentifikation im Two-Spirit-Netzwerk im indigenen Nordamerika.

Das Panel ‚Feministische Kritik und Aktivismus‘ forcierte die Frage nach Kontinuitäten und Neuentwicklungen feministischer Widerstandsformen: von Frauen im Kontext der Gezi-Park-Besetzung, in doppelter Kritik des Staates und der widerständigen Parkkultur so FATMA UMUL (Bamberg), von Feministinnen im postrevolutionären Tunesien, die nicht mehr einheitlich säkular sondern multireligiös und politisch vielfältig sind so JOHANNA ULLMANN (München), und durch feministische Manifeste der späten 1960er-Jahre, die separatistisch-radikal einen liberalen Feminismus kritisier(t)en so MARCEL BASTIAN WRZESINSKI (Giessen).

Den Paneltitel ‚Geschlechter(un)ordnung‘ diskutierten DANIELA GOTTSCHLICH (Lüneburg) für die Anti-Gentechnikbewegung, in der zwar feministische Perspektiven der Untrennbarkeit von Produktion und Konsumtion aufgegriffen aber auch stereotype Geschlechterbilder in Werbekampagnen verwandt werden, sowie NADINE SANITTER (Erfurt) für den Indie-Rock, wo eine normalisierende Integration egalitäre Ordnung verspricht, den Status der hegemonialer Männlichkeit aber unangetastet lässt. STEPHAN TRINKAUS (Düsseldorf) formulierte anschließend an Lefebvre ein theoretisches Angebot, das Dynamiken als Grundlage von Geschlecht versteht, so dass eine Sichtbarkeit erst im Moment des Bruchs möglich wird.

Im Panel ‚Biopolitiken‘ wurde durch ILKE GLOCKENTÖGER (Paderborn) die Regulierung geschlechtlicher Körper im Spitzensport am Fallbeispiel Caster Semenya und die Bedeutung des vorgenommenen ‚Geschlechtstests‘ wie auch durch MASHA NEUFELD (Dresden/Wien) die Regulierung sexueller Körper zwischen den sexualpolitischen Gesetzgebungen in Russland und hegemonialen ‚westlichen‘ Sexualitätsdiskursen erörtert. Darüber hinaus analysierte KIRSTEN ACHTELIK (Berlin) feministische (Bio-)Politiken in Hinblick auf den ungelösten Widerspruch zur ‚Krüppelbewegung‘ in der Frage der ‚reproduktiven Selbstbestimmung‘. Parallel dazu fanden sowohl ein Forum zu Forschung im Zeichen von ‚Theorie_Praxis_Bewegung‘ (Susanne Lummerding, Eva Gottwalles), wie auch eine Diskussion zur Situation der Gender Studies im Spannungsfeld neoliberaler Zeitregime und Verwertungsansprüche, einer Hierarchie (empirischer) Sozial- über Kulturwissenschaften und prekärer materieller Ausstattung statt – in engagierter Debatte konnte unter anderem die Kontradiktion von theoretisch-wissenschaftlicher Dekonstruktion und strategischem Essentialismus in praxisorientierten Ansätzen problematisiert werden (Elahe Haschemi Yekani, Beatrice Michaelis, Anja Michaelsen).

Der zweite Konferenztag begann mit dem Panel ‚Politisierung und Mobilisierung‘. ULRIKE LAHN (Bremen) plädierte in der Ausarbeitung eines Modells biographischer Politisierungsprozesse für eine generationelle Differenzierung feministischer Aktivist_innen. ELAINE LAUWAERT (Bochum) analysierte die Formierung einer Trans/-Bewegung in Magazinen der 1980er-Jahre und ULRIKE KLÖPPEL (Berlin) beschloss mit ihrer Forschungsskizze einer holistischen Betrachtung der Aids- Bewegung und ihrer bio- wie affektpolitischen Mobilisierung das Format der Vorträge – die erweiterten Abstracts sind online verfügbar, eine Publikation ist geplant. Gleichzeitig wurde weiter über die Möglichkeiten, Bedingungen und Organisationsformen einer AG Nachwuchs diskutiert. Die anschließende Mitgliederversammlung nahm diesen Vorstoß wohlwollend entgegen. Weitere an der Mitarbeit Interessierte sind aufgefordert sich zu melden.

Die Mitgliederversammlung diskutierte darüber hinaus die Einrichtung einer jährlichen Publikation, die internationale Vernetzung zum Thema Antifeminismus sowie die weitere Professionalisierung und formale Verbreiterung der Jahrestagung. 2016 findet die Tagung zu ‚Materialität von Gender‘ vom 11.-13. Feburar am Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterforschung in Berlin statt.

Die Tagung schloss mit einem Ratschlag zum Umgang mit antifeministischen Bewegungen. Herausgestellt wurden in der Runde aus 13 Referent_Innen aus Wissenschaft, Gleichstellung und (Netz-)Aktivismus die Kontinuitäten wie auch die Novationen, die mit einer Digitalisierung, der Rezeption von Feminismus als politische Totalität und einer Individualisierung von feministischen Akteur_Innen einhergehen. Als sich ergänzende Strategien wurden sowohl die Thematisierung der Angriffe und Adressierung weiterer Öffentlichkeiten und die Vernetzung in Bündnissen, wie auch der systematische Entzug von Aufmerksamkeit und die Kontinuität des angefeindeten (wissenschaftlichen) Engagements diskutiert.

Insgesamt zeigte sich die Tagung als heterogenes Ensemble in Bewegung. Unterschiedliche Entwicklungsperspektiven in und der Geschlechterforschung selbst konnten nachgezeichnet und kritisch diskutiert werden. Der stete wechselseitige Bezug auf politische Bewegung(en) war dabei eine theoretische wie auch praktische Bereicherung. Die Aussparung einer dem Konferenztitel naheliegenden, sportsoziologischen Perspektive, die Phänomene wie Life-logging, Wellness und Yoga als Subjektivierung individualisierter Selbstoptimierung und privatisierter sozialer Reproduktion kritisiert, war dahingegen bedauerlich. Trotzdem gelang eine umfassende Beleuchtung historischer wie gegenwärtiger 'Bewegungen' des akademischen wie politischen Feldes. Gleichzeitig wurde zur Beständigkeit politischer Bewegung aufgerufen. Tenor der Referent_Innen: Sich weiter bewegen. ‚Stay, where the trouble is.‘

Konferenzübersicht:

Encarnación Gutiérrez Rodríguez (Giessen), Moving Towards A Common: Materialität, Aporia und Politiken des Affekts

Panel: (Wohin) bewegen sich die Gender Studies?
Gerlinde Malli, Susanne Sackl-Sharif (Graz): Zwischen Akademisierung und Ghettorisierung? Über einige Aspekte der Vermittlung von Wissen und Kritik in Gender-Studies-Studiengängen
Franziska Rauchut (Lüneburg): Ambivalente Kompliz_innenschaft? Gegenwärtige (Re-)Politisierungsbewegungen von Gender und Queer Studies im deutschsprachigen Raum
Eike Marten (Hamburg): Von Narrationen über Fortschrittlichkeit und Zugehörigkeit zu komplizierten Interferenzen: Diversity und Gender
Florian Klenk, Lisa-Marie Langendorf (Darmstadt): Genderkompetenz als pädagogisches Qualitätsmerkmal? Ambivalenzen einer Standardisierung

Panel: Frauenbewegungen

Imke Schmincke (München): Von Emanzipation zu Empowerment? Die Wirkung der Frauenbewegung in den Aussagen junger Studierender von 1981 und 2012
Swantje Köbsell, Lisa Pfahl (Berlin): Von der Krüppelfrauengruppen zur Disability Pride Parade. Grenzen der Sichtbarkeit von Geschlecht & Körper in der Behindertenbewegung
Antje Daniel (Bayreuth): Frauenbewegungen in Brasilien. Nationales Engagement unter Bedingungen transnationaler Brüche
Charlotte Binder, Asli Polatdemir (Bremen): Bündnispolitiken von Frauenbewegungen in der Türkei

Panel: Kollektive

Matthias Luterbach (Basel): Das Hadern der Männer in der Geschlechterordnung
Kathrin Ganz (Hamburg): Subjektpositionen in Bewegung/en. Konflikte um Geschlecht und Macht in der Netzbewegung
Esther Mader (Berlin): Kollektive und akkumulative Handlungsfähigkeit durch affektive Verbindungen
Lüder Tietz (Oldenburg): Künstlerische Produktionen als Motor für politische Bewegung. Das Two-Spirit-Netzwerk im indigenen Nordamerika

Panel: Feministische Kritik und Aktivismus

Fatma Umul (Bamberg): Die feministische Bewegung im Kontext der Gezi-Park-Besetzung
Johanna Ullmann (München): Nach der Revolution ist vor der Revolution? Feministische Aktivistinnen im Neuen Tunesien und die Rolle des Körpers. Eine qualitativ empirische Analyse
Marcel Bastian Wrzesinski (Giessen): Zwischen Radikalität & Utopie. Separatistische Tendenzen in feministischen Manifesten der 1960er Jahre

Panel: Geschlechter(un)ordnung

Daniela Gottschlich (Lüneburg): Weiblich und schutzbedürftig? Geschlechterkonstruktionen und Geschlechter(un)ordnungen in der Bewegung gegen Agro-Gentechnik
Nadine Sanitter (Erfurt): Hegemoniale Männlichkeit in Bewegung? Diskursive Konstruktionsmodi von Männlichkeit im Musikgenre ‚Indie-Rock‘
Stephan Trinkaus (Düsseldorf): „Nothing is immobile“ (Lefebvre) – Rhythmus, Alltag, Geschlecht

Panel: Biopolitiken

Ilke Glockentöger (Paderborn): Diese Trennung ist wichtig – Geschlechterkonstruktionen im Spitzensport jenseits von Zweigeschlechtlichkeit
Kirsten Achtelik (Berlin): Selbstbestimmung – Befreiungschance oder Normerfüllung? Brisanz eines innerfeministischen Streites
Masha Neufeld (Dresden/Wien): Staatliche Reaktionen auf russländische Bewegungen. Nationalpolitische Agenden, biopolitische Maßnahmen und neue(?) Körperregime

Panel: Politisierung und Mobilisierung

Ulrike Lahn (Bremen): Modell zu generationellen, feministischen Politisierungsprozessen
Elaine Lauwaert (Bochum): Zwischen Identitätspolitik und Aufgehen in normative Zweigeschlechtlichkeit Exemplarische Betrachtungen zu politischen Strategien von Trans/- Bewegungen in Deutschland in den 1980er Jahren
Ulrike Klöppel (Berlin): Aids-Krise in Deutschland revisited: zwischen Biopolitik und Affektpolitik. Eine Forschungsskizze


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