Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700-1850)

Doing House and Family. Material Culture, Social Space, and Knowledge in Transition (1700-1850)

Organisatoren
Sinergia-Projekt „Doing House and Family“; Joachim Eibach, Bern; Jon Mathieu, Luzern; Sandro Guzzi-Heeb, Lausanne; Claudia Opitz-Belakhal, Basel; Maurice Cottier, Bern
Ort
Bern
Land
Switzerland
Vom - Bis
19.03.2015 - 20.03.2015
Url der Konferenzwebsite
Von
Heinz Nauer, Historisches Seminar, Universität Luzern

„Doing House and Family“ lautet der Übertitel eines neuen historischen Forschungsprojektes, welches vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird und an den Universitäten Bern, Luzern, Lausanne und Basel angesiedelt ist.1 Die Kick-Off-Tagung, von welcher im Folgenden die Rede sein wird, gliederte sich analog zum Aufbau des Gesamtprojekts in die drei Teile „Material Culture and Consumption“, „Social Space and Conflict“ und „Knowledge Production and Communication“. Auf die Vorstellung der einzelnen Teilprojekte folgten im Tagungsprogramm jeweils Kommentare externer Experten.

Das Gesamtprojekt wie auch die Tagung gingen von der Hypothese aus, dass es zu einfach sei, einen glatten Übergang von einem offenen, sozial heterogenen Haushalt der Vormoderne zur geschlossenen, privatisierten Kernfamilie des 19. Jahrhunderts zu postulieren, wie dies die bisherige Forschung – implizit oder explizit – oft tat. Stattdessen sollen, wie bereits die Partizipform im Übertitel „Doing House and Family“ anklingen lässt, Praktiken und Rituale sowie neue Formen sozialer Offenheit der häuslich-familiären Sphäre analysiert werden. Wie wurden „Haus“ und „Familie“ konkret im Alltag „praktiziert“? Wie veränderten sich diese Praktiken im Übergang vom 18. ins 19. Jahrhundert („Sattelzeit“)?

JOACHIM EIBACH (Bern) wies in seinem instruktiven einleitenden Referat zunächst darauf hin, dass die Eidgenossenschaft (Schweiz) als Untersuchungsraum für die dem Projekt zugrundeliegenden Fragestellungen besonders geeignet sei. Dies aus zwei Gründen: Erstens böten die Schweizer Archive und Bibliotheken eine ausgezeichnete Quellenlage, welche es ermögliche mit seriellem Quellenmaterial epochenübergreifend zu arbeiten. Zweitens liessen die verschiedenen sozialen Kontexte auf vergleichsweise engem Raum – agrarische neben urbanen Räumen, Regionen mit ausgeprägtem protoindustriellem Gewerbe, ein städtisches Bürgertum – zahlreiche Vergleiche zu.

Besonderes Gewicht legte Eibach in seinem Referat auf das Verhältnis zwischen Kontinuitäten und Veränderungen innerhalb der häuslich-familiären Sphäre in den Jahrzehnten um 1800. Es sei eine „comunis opinio“, dass sich das „Haus“ in der Vormoderne von der „Familie“ in der Moderne grundlegend unterscheide, wobei der Übergang häufig an der üblichen Epocheneinteilung festgemacht werde. Eibach sprach von einer „Ära der Verhäuslichung“, in welcher eine „Neujustierung räumlich-sozialer Grenzen“ vorgenommen worden sei und machte den Vorschlag, die Zeit zwischen dem ausgehenden 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts nicht bloss als eine Phase des Übergangs, sondern als eine eigene Epoche des „offenen Hauses“ zu begreifen.2

JON MATHIEU (Luzern) stellte den Projektbereich „Material Culture and Consumption“ vor. Ähnlich wie Eibach betonte Mathieu die Wichtigkeit einer sorgfältigen Reflexion des historischen Wandels, wobei Grenzverschiebungen – zwischen privat und öffentlich, zwischen arm und reich oder zwischen den Geschlechtern – besonders wichtig seien. Hausratslisten sowie die materiellen Häuser selbst seien gute Indikatoren, um historischen Wandel festzustellen. Gerade die Schweizer Bauernhausforschung, ein riesiges Forschungsprojekt, welches seit den 1960er-Jahren läuft, habe das Potential für neue Einsichten, wenn man die bisherigen Erkenntnisse historisiere, sagte Mathieu.

Die folgende Diskussion drehte sich stark um methodische Fragen im historiographischen Umgang mit materieller Kultur. Sollen Historiker Geschichte „über Dinge“ schreiben oder vielmehr die materiellen Objekte als Ausgangspunkt nehmen und Geschichte „durch Dinge“ betreiben? KIM SIEBENHÜNER (Bern) bemerkte in ihrem Kommentar, dass es über materielle Kultur zurzeit keinen Kanon von Fragen oder Methoden innerhalb der historischen Forschung gebe. Es sei aber auf jeden Fall lohnenswert und eine „Erweiterung der kognitiven Erfahrung“, wenn man die überlieferten materiellen Objekte in die Forschung einbeziehe. Dies gelte sowohl für die historische Haus- wie Konsumforschung. Auch HEINZPETER ZNOJ (Bern), der das Gesamtprojekt aus sozialanthropologischer Warte kommentierte, schlug – ausgehend von seinen Feldforschungen im Hochland von Zentralsumatra – vor, die Feldforschung nicht zu ignorieren. Gerade die Bauernhäuser seien ein „gebautes kollektives Gedächtnis“ und bei älteren Bewohnern auf dem Land noch Wissen vorhanden, welches bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen könne. LUIGI LORENZETTI (Mendrisio) setzte sich in seinem Kommentar ebenfalls mit gebauten Häusern auseinander, konkret mit repräsentativen Hausbauten reicher Handelsfamilien im südlichen Alpenraum. Er warf, mit Verweis auf die Arbeiten von Raffaela Sarti, die Frage nach der Verbindung zwischen der Komplexität von Familien und ihren gebauten Häusern auf: Ist es das Haus, seine Architektur, seine Grösse, welches das häusliche Zusammenleben beeinflusst? Oder sind es die Familien und die Praktiken ihres Zusammenlebens, welche die Häuser nach ihren Bedürfnissen bauen, strukturieren und (um)gestalten?3

Die zweite Sektion der Tagung war dem Projektbereich „Social Space and Conflict“ gewidmet. SANDRO GUZZI-HEEB (Lausanne) näherte sich der Thematik in seiner Einführung via zeitgenössische literarische Zeugnisse an. Besonderen Wert legte Guzzi-Heeb auf die Feststellung, dass „Doing house and family“ ein „dialektischer Prozess“ sei. Verschiedene politische oder religiöse Milieus würden auch verschieden auf historischen Wandel reagieren. Dieser Fokus auf die Handlungsspielräume historischer Akteure impliziert auch die Wichtigkeit von Inszenierungen und Ritualen, wie sie häufig bei Konflikt- und Rügepraktiken oder Festlichkeiten im Familienkreis zum Ausdruck kamen. ARNO HALDEMANN (Bern) beschrieb in seinem Referat über Heiratsrituale, diesen Ansatz aufnehmend, das Haus als eine Bühne und die Eheschliessung als „Akt eines Theaterstücks“.

In der Diskussion wurde die Wichtigkeit von Ritualen für die Familiengeschichte mehrmals angesprochen. Entgegen der kommunikationshistorischen Annahme (etwa von Rudolf Schlögl) seien Rituale als Medium und Praxis kein Relikt der Vormoderne, sagte Joachim Eibach. Die bürgerliche Familie des 19. Jahrhunderts sei ganz im Gegenteil „voller ritueller Handlungen“. Allerdings habe im Übergang zum 19. Jahrhundert die Ausdifferenzierung einer „backstage“ und einer „frontstage“ stattgefunden. SIMON TEUSCHER (Zürich) nahm diesen Gedanken auf und schlug in seinem Kommentar vor, diese Terminologie zu überdenken. Anstatt von „privat“ und „öffentlich“ oder von „backstage“ und „frontstage“ zu sprechen, könnte es nützlich sein, die Kategorien „usuell“ und „repräsentativ“ einzuführen.

CLAUDIA OPITZ-BELAKHAL (Basel) stellte den Projektbereich „Knowledge Production and Communication“ vor. Die historische Wissenschaftsforschung habe sich lange Zeit auf die „grossen Männer“ der Wissenschaft konzentriert und dabei eine „Dynastie der Gelehrsamkeit“ festgeschrieben. Seit der kulturhistorischen Wende werde die Wissensproduktion stärker als kollektiver Prozess gesehen und mehr auf die Kontextbedingungen sowie die „sozialen Nahräume“ geachtet. Was mit einem solchen „Nahraum“ konkret gemeint sein könnte, wurde im Referat von DUNJA BULINSKY (Luzern) über den Zürcher Naturforscher Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) deutlich. Scheuchzers Schaffen sei unter anderem von „überragender Quantität“ geprägt gewesen, sagte Bulinsky. Er sei darauf angewiesen gewesen, Informationen zu sammeln, „wo er nur konnte“. Eine wichtige Position in seinem Informationsnetzwerk nahmen mehrere seiner Schüler ein, welche ein Teil von Scheuchzers „Gelehrtenhaushalt“ gewesen seien.
Opitz betonte in ihren Ausführungen, dass im Forschungsprojekt auch der „materielle Wissenskonsum“ eine wichtige Rolle spiele, was zu einer Reihe von neuen Fragestellungen führe. Ein Teilprojekt überprüft beispielsweise das Argument von Philipp Ariès, dass Kindern im 18. und 19. Jahrhundert eine zunehmend wichtige Rolle in der Familienorganisation zugekommen sei.4

SOPHIE RUPPEL (Basel) ging es in ihrem Referat um den Zusammenhang von Wissen, Haus und Alltag am Beispiel von Hauspflanzen. Sie ging von der Beobachtung aus, dass die Natur (neben Pflanzen wären auch Tiere, etwa Singvögel, zu nennen) in der Untersuchungsperiode in zunehmendem Mass von draussen nach drinnen ins Haus „gewandert“ sei. Die Pflanzenbegeisterung und „Stubengärtnerei“ sei dabei mehr gewesen als eine blosse Mode und von zeitgenössischen Wissensdiskursen (etwa über die Fotosynthese im ausgehenden 18. Jahrhundert) nicht zu trennen, so Ruppel. Im 19. Jahrhundert seien Pflanzen schliesslich zu einem festen Bestandteil des häuslichen Beziehungsgeflechts geworden, welche analog zu Kindern („Sprösslingen“) gepflegt und aufgezogen wurden.

Nicht-wissenschaftliches Wissen liegt häufig ausserhalb des Blicks von Historikern. Die Konzentration auf den „Haushalt als Wissensort“, wo sich neue Wissensformen unabhängig von den Universitäten entwickelt hätten, sei deshalb eine Chance für das Projekt, sagte MONIKA MOMMERTZ (Freiburg im Breisgau) in ihrem Kommentar. Zu diesem Haushalt hätten im Übrigen nicht nur Männer, sondern auch Frauen und Kinder gehört, welche als „Wissensträger“ häufig unsichtbar geblieben seien.

Aus den bisherigen Ausführungen dürfte deutlich geworden sein, dass an der Tagung eine Vielzahl unterschiedlicher inhaltlicher, methodischer und theoretischer Aspekte des Tagungsthemas diskutiert wurden. Zwei Aspekte möchte ich zum Schluss herausgreifen und – in der gebotenen Kürze – diskutieren. Der erste Aspekt betrifft den methodischen Umgang mit historischem Wandel, der zweite den Gebrauch von Theorie und Begrifflichkeiten.

Wie DANIÈLE TOSATO-RIGO (Lausanne) in ihrem Kommentar bemerkte, bestehe ein grundsätzliches Problem darin, historischen Wandel messbar zu machen, gerade wenn es, wie in diesem Projekt, um Fragen der historischen Praxis gehe. Joachim Eibach zielte in eine ähnliche Richtung, wenn er sagte, dass historischer Wandel in den „Sphären des Selbstverständlichen“– also auch im „Haus“ und in der „Familie“ – schwieriger fassbar sei als etwa in der Ideen- oder Politikgeschichte. Mehrere Tagungsteilnehmer warnten davor, sich auf modernisierungstheoretische Erzählmuster zu stützen. Sandro Guzzi-Heeb bemerkte, dass es für einzelne Teilprojekte, vor allem jene, welche sich mit der Wissensgeschichte auseinandersetzen, tatsächlich schwierig sei, von Modernisierungstheorien wegzukommen, da Wissen häufig automatisch mit dem Phänomen der Aufklärung identifiziert werde, es aber zu beachten gelte, dass Wissen immer auch mit Macht verbunden sei. Wissen werde unter gewissen historischen Umständen aufgewertet, während anderes Wissen abgewertet, oder als Aberglauben taxiert werde, so Guzzi-Heeb.

Die methodischen Herausforderungen würden aber, so der weitgehende Konsens unter den Tagungsteilnehmern, dadurch aufgefangen, dass das Gesamtprojekt bewusst nicht von einer „Meistererzählung“ und auch nicht von einem konsistenten Theoriemodell ausgehe, sondern sich als ein Dach verstehe, unter dem unterschiedliche Theorien, Thesen und Ansätze diskutiert werden sollen. Die Spannungen, welche bezüglich Theoriegebrauch zwischen den einzelnen Teilprojekten bestünden, etwa zwischen dem Ansatz der „materiellen Kultur“ und der Vorstellung, dass Raum in erster Linie eine soziale Konstruktion sei, kämen dem Gesamtprojekt zugute und würden einer „inhaltlichen Magersucht“ vorbeugen, wie es Simon Teuscher ausdrückte.

Ein Forschungsprojekt, welches sprachenübergreifend konzipiert ist, sowohl was die Forschenden als auch die Untersuchungsregionen (deutsch-, französisch-, italienischsprachige Schweiz) anbelangt, und sich auch in einen internationalen Forschungsdiskurs einschreiben möchte, wirft automatisch Fragen auf, was den Umgang mit Theorien, verschiedenen Forschungstraditionen und „Grossbegriffen“ anbelangt, welche vielleicht nur in einem, nicht aber in einem anderen Sprachraum verankert sind (Stichwort „Bildungsbürgertum“). DAVID SABEAN (Los Angeles) plädierte in seinem die Tagung abschliessenden Gesamtkommentar nochmals für eine Offenheit für verschiedene theoretische Ansätze und schlug vor, anstatt Begrifflichkeiten trennscharf definieren zu wollen, die Begrifflichkeiten selbst zu historisieren und die diversen „linguistic shifts“ genau in den Blick zu nehmen. Keinesfalls soll man es zulassen, dass „geerbte Begriffe und Theorien“ den Blick auf neue Fragen verstellen, sagte Sabean, denn: „The problem always is to get a fresh look.“

Konferenzübersicht:

Joachim Eibach (Bern), „Doing House and Family“ in der Sattelzeit: Vorstellung des Programms des Sinergiaprojekts

Heinzpeter Znoj (Bern), Kommentar zum Sinergiaprojekt aus Sicht der Sozialanthropologie

Projektbereich A: Material Culture and Consumption

Jon Mathieu (Luzern), Vorstellung des Projektbereichs „Material Culture and Consumption“

Dunja Bulinsky (Luzern), Der Haushalt des Gelehrten im lokalen Netzwerk

Kim Siebenhüner (Bern), Kommentar

Projektbereich B: Social Space and Conflict

Sandro Guzzi-Heeb (Lausanne), Vorstellung des Projektbereichs „Social Space and Conflict“

Arno Haldemann (Bern), Eheschliessung und Rügepraktiken

Simon Teuscher (Zürich), Kommentar

Luigi Lorenzetti (Mendrisio), Kommentar

Projektbereich C: Knowledge Production and Communication

Claudia Opitz-Belakhal (Basel), Vorstellung des Projektbereichs „Knowledge Production and Communication“

Sophie Ruppel (Basel), Wenn die Natur ins Haus wandert... Bürgerliche Pflanzenbegeiterung und häusliche Pflanzenkultur (1750-1850)

Danièle Tosato-Rigo (Lausanne), Kommentar

Monika Mommertz (Freiburg im Breisgau), Kommentar

David Sabean (Los Angeles), Gesamtkommentar

Anmerkungen:
1 Informationen, darunter auch Zusammenfassungen der einzelnen Teilprojekte, finden sich auf der Website des Sinergiaprojekts: <http://www.hist.unibe.ch/content/forschungsprojekte/doinghouseandfamily/index_ger.html> (21.04.2015).
2 Zum Konzept des „offenen Hauses“ siehe: Joachim Eibach, Das offene Haus. Kommunikative Praxis im sozialen Nahraum der europäischen Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für Historische Forschung, 38 (2011), S. 621-664.
3 Vgl. Raffaela Sarti, Europe at Home. Family and Material Culture, 1500-1800, New Haven 2002.
4 Philippe Ariès, L`enfant et la vie familiale sous l`ancien régime, Paris 1960.