Political Rule and Social Self-Organisation in the Transitions in Central East Europe after the Second World War

Political Rule and Social Self-Organisation in the Transitions in Central East Europe after the Second World War

Organisatoren
The Institute for the History of the 1956 Hungarian Revolution, Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas
Ort
Erdőtarcsa
Land
Hungary
Vom - Bis
01.10.2004 - 02.10.2004
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Von
Dirk van Laak, Historisches Institut, Universität Jena

Ungarn gehört zweifellos zu den Vorreitern der Umwandlungsprozesse in Mittel- und Osteuropa. Nach der Niederschlagung des Aufstandes von 1956 begab sich das Land auf einen vorsichtigen Öffnungskurs. Was als „Gulaschkommunismus“ in das historische Wortfeld des Realsozialismus einging, kombinierte so viel Kapitalismus wie möglich mit so wenig Sozialismus wie nötig. Unter János Kádár legte das Land sein Selbstbestimmungsrecht großzügig aus und transformierte sich schon vor 1989 in ein vergleichsweise offenes Land. Eine internationale Tagung des Berliner Kollegs für Vergleichende Geschichte Europas und verschiedener Einrichtungen der ungarischen Zeitgeschichtsforschung - unter anderem gibt es dort ein eigenes „Institut für die Geschichte der Revolution von 1956“ - nahm sich Anfang Oktober 2004 vor, solche Transitions- und Transformationsprozesse in der SBZ/DDR, in Polen und Ungarn miteinander zu vergleichen. Die zeitlichen Schwerpunkte lagen in der Nachkriegszeit und den weithin stagnativen, dann immer gärenderen Phasen vor 1989. Wie bei allen Vergleichen blieb zum Schluß die Frage, ob die Spezifika nicht stärker wögen als die Gemeinsamkeiten, aber dieser stets wiederkehrende Befund wurde doch durch erhellende Einsichten im einzelnen aufgewogen. Ob man freilich mit den aus Westeuropa bekannten Theoremen, vor allem der „zivilgesellschaftlichen“ Begrifflichkeit, den osteuropäischen Verhältnissen gerecht werden kann, blieb unentschieden. Vielmehr darf man gespannt sein, wie sich die Ansätze der osteuropäischen Forscher zu eigenen analytischen Kriterien fortentwickeln werden.

Christoph Boyer (Berlin) entwarf als Vorgabe ein Vergleichsraster der realsozialistischen Entwicklungspfade, die jenseits der sozialistischen Systemlogik und nationalen Spezifik gewisse Ähnlichkeiten mittlerer Reichweite aufwiesen. Die DDR und die CSSR ordnete er nach ihren „abgebrochenen“ Reformbewegungen um die Wende in die 1970er Jahre einem Typus „ultrastabiler“, aber sklerotischer Systeme zu, während Ungarn und Polen eine stetige Zunahme realsozialistisch „befreiter Zonen“ bzw. von der jeweiligen Einheitspartei preisgegebener Bereiche der Gesellschaft verzeichneten. Die eher bäuerlich geprägten Länder wurden weniger vollständig von der Sowjetdoktrin erfaßt als die Arbeitergesellschaften in der DDR und der CSSR. Auch arbeiteten sie sich rascher wieder aus ihr heraus. In diesem Erosionsprozeß bereits „zivilgesellschaftliche Keime“ zu entdecken traf aber bei den polnischen und ungarischen Historikern auf starke Skepsis, weil ihnen dies zu folgerichtig auf eine Rückkehr zum scheinbar „normal-westlichen“ Entwicklungspfad hinauszulaufen scheint. Arnd Bauerkämper (Berlin) wies darauf hin, daß schon allein die schiere Dauer der sozialistischen Regime von den totalitären Mustern im italienischen Faschismus und Nationalsozialismus unterscheide und ab den späten 1950er Jahren in Osteuropa eine zwar autoritäre, aber flexibel angepaßte Herrschaftsform zu beobachten gewesen sei. Nach 1989 habe keine Generation an frühere Zeiten anknüpfen können, wie dies 1945 in Deutschland die politische Generation der Weimarer Zeit vermochte.

Mehrere Beiträge waren der Frage gewidmet, wie es den Kommunisten nach 1945 gelang, in den östlichen Gesellschaften Fuß zu fassen und gegenüber verschiedenen Ansätzen zu einer Selbstorganisation ihre Herrschaft durchzusetzen. Jeannette Michelmann (Weimar) skizzierte, wie stark die sog. Antifaschistischen Ausschüsse in der SBZ von der aus Moskau zurückgekehrten KPD als Machtkonkurrenz wahrgenommen wurde. Die Antifas, gleichsam „basisdemokratische“ und „überparteiliche“ Vereinigungen, waren 1945 angetreten, das Alltagsleben der geschlagenen Deutschen zu reorganisieren. Diese Ansätze „autonomer“ Gruppen wurden jedoch von den Moskauer Remigranten um Ulbricht als Konkurrenz wahrgenommen, an den Rand gedrängt oder dort, wo dies nicht gelang, subtil integriert. Das selbe Muster nutzte die KPD/SED auch in späteren Jahren, um autonome Initiativen durch kontrollierte „Organisationsnischen“ einzubinden, bis in den 1980er Jahren auch das nicht mehr funktionierte. Tamas Kanyó (Budapest) berichtete über ein Forschungsprojekt, das solche „autonomen“, staatsfernen Gruppen für die Kadar-Ära in der Zeit des „Stillstands“, also zwischen 1975 und 1985 untersuchen will. Gerade die Sphäre der Kultur erwies sich als Kampfgebiet zwischen offizieller und Gegenkultur. In ihr konnten die „kleinen Freiheiten“ immer wieder in ein gleichsam kommunitaristisch inspiriertes Engagement für das Allgemeinwohl hinüberwechseln. Auf die Forderungen nach Versammlungsfreiheit und die Bildung organisierter Gruppen reagierten die kommunistischen Parteien in allen Ländern Osteuropas höchst sensibel. Dabei kam ihnen zugute, daß die klassischen Träger des „Bürgersinns“ – Vereine, das freie Unternehmertum und mit der bezeichnenden Ausnahme Polens auch die Kirchen – zunehmend zerschlagen waren.

Die Machtfestigung der ungarischen Kommunisten wurde aus mehreren Blickwinkeln plastisch geschildert. János M. Rainer (Budapest) stellte dar, wie der ausbleibende Wahlerfolg von den Kommunisten (noch 1947 nicht mehr als 22% der Stimmen) unter Mátyás Rákosi mit einer Politik der Straße, mit pressure groups und gezielten Kampagnen gegen bürgerliche Politiker beantwortet wurde. Zsombor Bódy (Miskolc), neben Arnd Bauerkämper Initiator der Tagung, erinnerte an die sog. Rechtfertigungsausschüsse über das Verhalten der Großunternehmer vor 1945. Mit diesem Hebel der „Vergangenheitspolitik“ sei es den ungarischen Nachkriegsparteien relativ einvernehmlich gelungen, ihre Kontrolle über die Privatwirtschaft auszuweiten und den Primat der Politik durchzusetzen. Bódys Begriff des „Mehrparteien-Totalitarismus“ für die Zeit zwischen 1945-1948 wurde zwar heftig hinterfragt, stand aber beispielhaft für das tastende Bemühen osteuropäischer Wissenschaftler, die Verhältnisse in ihren Ländern auf neue Begriffe zu bringen, weil sie sich den üblichen Kategorisierungen der politischen Geschichtsschreibung entziehen. Für die in mancher Hinsicht „sanften“ Diktaturen des Ostblocks bieten sich auf den ersten Blick paradox oder dichotomisch erscheinende Formulierungen an, weil sie einstweilen noch nicht hinreichend beschreibbare Ambivalenzen einzufangen vermögen. Józef Ö. Kovács (Miskolc) verwandte sogar den Terminus „Anpassungswiderstand“, um die Widersetzlichkeit und den Eigen-Sinn der ungarischen Bauern gegen ihre Vereinnahmung durch die Partei zu kennzeichnen – ein Begriff, den man durchaus auf sich wirken lassen sollte.

Von kohärenten widerständigen „Milieus“ freilich konnte auch in Ungarn bald keine Rede mehr sein. Nicht nur verfügte ein Gesetz vom Sommer 1946 die Auflösung fast sämtlicher Vereine und Verbände. Auch die rasanten sozialgeschichtlichen Wandlungsprozesse, die Tibor Valuch (Budapest) anhand statistischer Daten für das ungarische Alltagsleben skizzierte, zielten eher auf eine Vereinzelung. In Krzysztof Madejs (Warschau) Vortrag über die polnischen Wohngenossenschaften der Gomulka-Ära wurde sichtbar, wie die Zerschlagung von Milieus und lokalen Strukturen der Selbstorganisation die auch im Westen beschreibbaren Folgen zeitigte. So verlangten die individualisierten Kleinfamilien nach eigenen Wohnungen, denen das staatliche Wohnungsbauprogramm aber kaum nachkommen konnte. Zuletzt mußten z.T. bis zu 16 Jahren auf neue Wohnungen gewartet werden. In dem zunehmenden Mangel an lebenserhaltenden, geschweige denn luxuriösen Dingen zeigt sich denn auch der stärkste Unterschied zu den Modernisierungsprozessen des westlichen Systems. Malgorzata Mazurek (Warschau) zeigte am Beispiel des notorischen Schlangestehens die teilweise absurden Mechanismen der Selbstorganisation in der östlichen Schattenwirtschaft auf, die sich in ihren Dimension zu einer „zweiten Gesellschaft“ auswuchs. Wurden diese verborgenen Verteilungsprozesse anfangs als Wirtschaftskriminalität gebrandmarkt und hart bestraft, drückte die Partei später immer mehr Augen zu, um schließlich selbst an ihnen teilzuhaben. Derlei Paradoxien und die anhaltende Unfähigkeit zu einer adäquaten Versorgung untergruben die Legitimität der kommunistischen Führung nachhaltig. Es blieb aber offen, ob - ähnlich wie im Westen vor 1948 - die Schwarzmarktzeit letztlich für den Eintritt in das europäische Marktsystem schulte oder doch eher als ein vormodernes Residuum (personale Vertrauensverhältnisse, naturalwirtschaftliche Tauschstrukturen etc.) zu werten ist.

Ein dritter Schwerpunkt der Tagung beschrieb Prozesse innerhalb der Kultur und der „Identitätsproduktion“. Thomas Schaarschmidt (Leipzig) stellte ein Projekt zur „Imagepolitik“ von urbanen Zentren in West-, Ost- und Südeuropa vor, das spezifische Funktionsmechanismen lokaler Herrschaft analysieren will. Auch osteuropäische Städte, so die Ausgangshypothese, besaßen „Eigensinn“ genug, sich gegen die lokalen Funktionszuschreibungen zentraler Behörden zu behaupten. Oft wurde gleichsam subkutan an den gewachsenen „Identitäten“ einer Region festgehalten, um ihre sozialintegrativen Funktionen zu nutzen. In der wettbewerbsorientierten Zeit nach 1989 erwies sich dies in der Regel als eine weise Strategie des „Überwinterns“. Rüdiger Ritter (Bremen) untersuchte E-Musik als Teil der osteuropäischen Bewußtseinsbildung. Am Beispiel des „Warschauer Herbstes“, eines seit 1956 bestehenden Festivals der „neuen Musik“, kann gezeigt werden, welch subversive Kraft von einer Kunstrichtung ausgehen kann, die politischer Vereinnahmungen gegenüber an ihrer eigenen Entwicklungslogik festhält. Friederike Kind (Potsdam) schließlich wandte sich der Rolle Pariser und New Yorker Kulturzeitschriften bei der Entstehung und dem Transfer osteuropäischer Dissidenten-Kulturen zu. Vor allem der Begriff „Mitteleuropa“ erfüllte hierbei eine Brückenfunktion. Dennoch es scheint einstweilen zu vorläufig, die tatsächliche Wirkung dieser „Tamisdat“-Zeitschriften, wie sie hier genannt wurden, angemessen einzuschätzen. Denn die Tagung machte deutlich, daß gerade für die Phase oberflächlicher „Konvergenz“ ab den späten 1960er Jahren die Unterschiede in den Entwicklungspfaden der westlichen und östlichen Systeme immer deutlicher hervortreten. „Pfadabhängigkeit“, also ein ex ante nicht prognostizierbares, aber ex post plausibles Trägheitsmoment der geschichtlichen Entwicklung, war überhaupt eines der Theoreme, auf die in Erdötarcsa immer wieder zurückgegriffen wurde.

Seltsam schemenhaft blieb dagegen die Rolle der Sowjetunion. Weder konnten weitere Indizien erhärtet werden, daß sie 1945ff. nach einem einheitlichen Plan vorging, noch wurde deutlich, welche Bedeutung diese metastaatliche Instanz genau für die mehr als 40jährige Existenz des in sich so divergenten „Ostblocks“ eigentlich besessen hat. Der einzige Beitrag, der über 1989/90 hinaus zu blicken wagte, eine Betrachtung von Gerhard Lehmbruch (Konstanz) über die Rolle des Staates im osteuropäischen Transformationsprozeß, stellte jedenfalls die Erwartung in Zweifel, daß die postsozialistischen Staaten nun geradlinig in die demokratische Wertegemeinschaft der Europäischen Union aufgehen werden. Vielmehr zeige sich bei der sektoralen Analyse von Transformationsprozessen nach dem Ende der DDR, daß sie umso erfolgreicher verliefen, je stärker an korporative, gewachsene Strukturen (und deren Personal) angeknüpft werde. Nicht die Zerschlagung und der „verwestlichte“ Neuaufbau verspreche dauerhafte Integration, sondern ein behutsames Reformieren, das institutioneller Residuen wahre und selbstorganisatorische Kräfte fördere. Diese Lehre ist ja schließlich auch aus dem Vorgehen der Kommunisten bei der Transformation Ostmitteleuropas nach 1945 zu ziehen: Das Bemühen, eine Umwandlung möglichst rasch herbeizuführen, führte letztlich dazu, daß sie - in manchen sowjetischen „Satelliten“ mehr, in anderen weniger – vergleichsweise oberflächlich blieb.

Dirk van Laak (Jena)


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