Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive

Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive

Organisatoren
Institut für Ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte; Joachim Bahlcke; Rainer Bendel
Ort
Jauernick-Buschbach
Land
Deutschland
Vom - Bis
26.07.2004 - 29.07.2004
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Von
Alexander Schunka, Historisches Institut, Abteilung für Geschichte der Frühen Neuzeit, Universität Stuttgart

Vom 26. bis zum 29. Juli 2004 fand in Jauernick-Buschbach bei Görlitz die 42. Arbeitstagung des Instituts für Ostdeutsche Kirchen- und Kulturgeschichte unter der wissenschaftlichen Leitung von Prof. Dr. Joachim Bahlcke (Stuttgart) und Priv.-Doz. Dr. Rainer Bendel (Tübingen) statt. Dabei ging es um die konfessionelle Alltagskultur frühneuzeitlicher Migranten im ostmitteleuropäischen Raum: Das geographische Spektrum reichte von Sachsen über Polen und die böhmischen Länder bis nach Siebenbürgen. Zentral waren die kulturellen Ausdrucksformen von Religion und Konfession im Leben derjenigen Menschen, die schon von den Zeitgenossen als Glaubensflüchtlinge oder Exulanten, in der Forschung dann als Konfessionsmigranten bezeichnet wurden: Die Themen kreisten um Fragen von Kirchenriten, Pastoraldienst und Seelsorgepraxis, aber auch um die materielle Lebensbewältigung der Einwanderer an den Zielorten.

Die Tagung knüpfte inhaltlich an eine im Jahr 2002 unter Leitung von Joachim Bahlcke durchgeführte Tagung an der Universität Erfurt an, die sich im breiteren Zugriff mit Ursachen und Auswirkungen konfessionell bedingter Wanderungsvorgänge im frühneuzeitlichen Europa auseinandergesetzt hatte. 1 War es damals mehrheitlich um makrohistorische Bestandsaufnahmen frühneuzeitlicher Migrationen und ihrer konfessionellen Rahmenbedingungen in Ostmitteleuropa gegangen, so standen nun kirchliches Leben und Alltagsbewältigung dieser Migranten in den Zuwanderungsgebieten im Mittelpunkt. Besonderen Reiz versprachen hier soziale und konfessionelle Gemengelagen, wenn sich die Immigranten in einer neuen, gar anderskonfessionellen Umwelt zurechtfinden mußten. Hier bot schon der Tagungsort Anknüpfungspunkte, eine der wenigen katholisch gebliebenen Enklaven in der ansonsten mehrheitlich protestantischen Oberlausitz, die durch ihre territoriale Kleinräumigkeit und gleichzeitige Internationalität vor allem im 17. und 18. Jahrhundert eine Einwanderungslandschaft par excellence darstellte. 2

Thematische Schwerpunkte setzten die Veranstalter in den Bereichen Ansiedlung und Aufbau einer neuen Existenz, bei Identitätskonstruktionen und Fragen der öffentlichen Selbstdarstellung bestimmter Migrantengruppen. Daß dabei in vielerlei Hinsicht die Gegebenheiten im Auswanderungsland und die vorgefundenen Bedingungen in den Zielgebieten mitberücksichtigt werden müssen, machten die einzelnen Referate deutlich.

Das Phänomen konfessionell bedingter Migrationen ist ein frühneuzeitliches, wenn man von einer ‚erweiterten’ Epochenvorstellung ausgeht. Dies spiegelte sich in den behandelten Themen wider, die von den migratorischen Folgen der Hussitenbewegung des 15. Jahrhunderts, der „ersten Reformation in der lateinischen Christenheit“ (Winfried Eberhard), bis zur Aufnahme der Zillertaler Protestanten in Schlesien in den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts reichten. Bedingt durch die Sache selbst, die vorhandenen Quellen und entsprechende wissenschaftliche Vorarbeiten konzentrierten sich die meisten Vorträge freilich auf das 17. und 18. Jahrhundert. So räumte der Mediävist Andreas RÜTHER (Gießen) in seinem Vortrag über die Flucht böhmischer Altgläubiger vor den Hussiten ein, daß der Quellenmangel es schlicht nicht zulasse, über die Wanderungen von Geistlichen hinaus ein umfassendes Bild der Migrationen in der Laienbevölkerung zu gewinnen, obgleich es sich insgesamt wohl eher um eine vorübergehende Fluchtbewegung als um eine dauerhafte Auswanderung gehandelt haben dürfte. Anders lagen die Verhältnisse freilich bei den Mennoniten, die nach ihrer Ansiedlung im Weichseldelta bei Danzig seit dem 16. Jahrhundert nicht nur auf eine ausgefeilte kirchlich-soziale Gemeindestruktur, sondern auch auf eigenständige Wirtschaftsmethoden zurückgriffen. Diese Fähigkeiten kamen ihnen bei der Trockenlegung des Weichseldeltas zugute. Unter dem Eindruck sprachlicher Angleichung in Liturgie und Lebenspraxis, so Roland GEHRKE (Stuttgart), schwand die traditionelle Abschottung der meist niederländischen Einwanderer erst im 18. Jahrhundert. Sprachlich-kulturelle Eigenheiten bewahrten sich laut Konrad GÜNDISCH (Oldenburg) lange auch die sogenannten Landler, die im 18. Jahrhundert als evangelische „Transmigranten“ aus Österreich nach Siebenbürgen umgesiedelt wurden. Auf diese Weise gingen sie als steuerzahlende Arbeitskräfte der Habsburgermonarchie nicht verloren. Ihre konfessionelle Orientierung konnten sie in Siebenbürgen ausleben, obgleich sie sich von den gleichfalls deutsch sprechenden, protestantischen Sachsen häufig absonderten.

Je mehr man die monolithisch scheinenden Blöcke bestimmter Migrantengruppen aufbricht und sich den Individuen nähert, desto eher wird eine Pluralität auch innerhalb der Migrantenschaft sichtbar, die in der Forschung lange Zeit vernachlässigt wurde. Matthias ASCHE (Tübingen) zeigte dies anhand der ländlichen Wiederbesiedelung der Mark Brandenburg seit dem späteren 17. Jahrhundert durch französische und Schweizer Kolonisten, deren Siedlungsverhältnisse sich auf kleinem Raum zugunsten der bessergestellten ländlichen Refugiés unterschieden. Es handelte sich demnach in Brandenburg keineswegs um eine Integrationspolitik von oben, sondern allenfalls um eine „Privilegienpolitik“, d. h. um Einzelentscheidungen. Skepsis gegenüber einer durch das Konfessionalisierungsparadigma erklärbaren Konfessionsmigration setzte sich im Vortrag von Alexander SCHUNKA (Stuttgart) fort, der die katholische Einwanderung nach Sachsen im 17. Jahrhundert, also vor der Konversion des Kurfürsten behandelte. Die Einwanderung von Protestanten in das Kurfürstentum überdeckte in der Forschung bisher eine Subkultur von Kryptokatholiken und Konvertiten, die seit den böhmisch-habsburgischen Auswanderungen und der Internationalisierung des Kurfürstenhofs gleichsam selbstverständlich im lutherischen Musterstaat existierte.

Weitere Referate thematisierten ebenfalls Kursachsen als Einwanderungsland. Edita STERIK (Prag) unterstrich die geographische und zeitliche Spannweite der Emigrationen aus den böhmischen Ländern seit 1620, deren temporäres oder dauerhaftes Hauptziel Sachsen bildete, und betonte die sozialen und wirtschaftlichen Schwierigkeiten bei der Lebensbewältigung im Exil, vor allem im Umfeld der Herrnhuter Brüderunität, die im 18. Jahrhundert zu einem lokalen Schmelztiegel für Einwanderer wurde. Der Vortrag von Horst WEIGELT (Bamberg) thematisierte die Emigration schlesischer Schwenckfelder und ihre mißglückte Ansiedlung auf Zinzendorf’schem Besitz in der Oberlausitz. Die sächsische Politik gegenüber Herrnhut und heterodoxen Strömungen machte schließlich ihre Weiterwanderung nach Amerika nötig. Frank METASCH (Dresden) dagegen behandelte die Bildung einer spezifischen Erinnerungskultur der Dresdner böhmischen Gemeinde, die seit 1650 in der sächsischen Residenzstadt existierte. Die Betonung der tschechischen Sprache und die Umwandlung des Gründungsjubiläums an einem Gründonnerstag in einen inoffiziellen Exulantenfeiertag zeigen die Spezifika der Jubiläumskultur von Migranten, die sich erst im Zuwanderungsland und nur in Auseinandersetzung mit der Einwanderungsgesellschaft ausprägten.

Besonderer Ausdruck exulantischer Memoria zeigt sich im Grabmal des Ungarn Andreas Dudith, der sich in Breslau niederließ und dort einen Kreis humanistischer Intellektueller aller Konfessionen um sich scharte (Rhediger, Rindfleisch usw.). 3 Die calvinistische Schlichtheit seines Grabmals geht laut Jan HARASIMOWICZ (Breslau) auf seine zweite Ehefrau, eine polnische Adelige, zurück, setzt das Grabmal deutlich von lutherischen Epitaphien der Stadt ab und zeigt eine migrantische Selbstdarstellung noch über den Tod hinaus.

Merkmale einer exulantischen Selbststilisierung finden sich auch in der Anwendung religiöser Topoi von Immigranten in Mähren, die Martin ROTHKEGEL (Heidelberg/Prag) untersuchte. Hutterische Bußbriefe lassen den Migrationsvorgang als Prozeß der Konversion und Initiation erscheinen, was in den Briefen vor dem Hintergrund hutterischer Heilsgewißheit gerade nicht zu Klagen über den Verlust der Heimat führte. Solcherlei Klagen waren ansonsten, gerade in den publizistisch ausgeschlachteten Migrationsvorgängen, keine Seltenheit, wie die Analyse des Liedguts Salzburger Emigranten durch Raymond DITTRICH (Regensburg) unterstrich. Die Liedinhalte kreisten um Leid und Trosterwartung, sie stammten allerdings meist aus der Feder protestantischer Zeitgenossen, nicht aus dem Migrantenzug selbst. Einer der wichtigsten Propagandisten der Salzburger Migration war Joseph Schaitberger, dessen Emigration nach Nürnberg und sein publizistisches Wirken seit den achtziger Jahren des 17. Jahrhunderts ihn gleichsam zum publizistischen Vorreiter der Salzburgerzüge von 1731/32 machte, wie Arno HERZIG (Hamburg) nachwies. Hundert Jahre nach der Ansiedlung der Salzburger auf preußischem Gebiet ließen sich etwa vierhundert Protestanten aus dem Tiroler Zillertal in Schlesien nieder. Joachim BAHLCKE (Stuttgart), der mit diesem Ausgriff ins 19. Jahrhundert den Schlußpunkt der Tagung setzte, unterstrich vor dem Hintergrund der preußischen Kirchenunion und der gleichzeitigen Emigration von Altlutheranern aus Schlesien die Bemühungen der Gräfin von Redern im Hirschberger Tal, die Neusiedler als „gute Lutheraner“ zu präsentieren.

Daß es sich bei den angesprochenen Wanderungsbewegungen keineswegs um ein gesellschaftliches Randphänomen handelt, braucht kaum noch unterstrichen zu werden. Die Tagung, deren Beiträge 2005 in einem Band der Reihe „Forschungen und Quellen zur Kirchen- und Kulturgeschichte Ostdeutschlands“ erscheinen werden, entwarf ein facettenreiches Bild der lebenspraktischen Problemlagen von Migranten in der Frühen Neuzeit. Zugleich aber zeigte die Beschäftigung mit Konfession und Glauben in der Lebenspraxis, daß das komplexe Phänomen konfessionsbedingter Migrationen keineswegs über einen Kamm zu scheren ist: Vorsicht ist angebracht bei stratifizierenden Konzepten – von Glaubensflucht bis Konfessionsmigration – oder bei neueren Typologien, die sich beim Blick in die Quellen meist eher falsifizieren denn verifizieren lassen. Die Forschung tut sich zudem manchmal immer noch schwer, von einer lange Zeit frömmelnden Glaubensflüchtlings-Historie auf gesicherteres Gebiet vorzustoßen. Hier bleibt viel zu tun, auf der Basis des methodischen Instrumentariums, das der Geschichtswissenschaft mittlerweile zur Verfügung steht. Dabei geht es allerdings nicht allein darum, konfessionelle Mythen zu dekonstruieren. Viel eher muß nach ihrem historischen Sinngehalt und ihrer Wirkmächtigkeit im sozialen Kontext gefragt werden – für die Zeitgenossen ebenso wie für die Nachwelt. In dieser Hinsicht wurden auf der Tagung Wege aufgezeigt, die es in der Zukunft weiter zu beschreiten gilt. Eine Öffnung der frühneuzeitlichen Migrationsgeschichte hin zu einer Sozial- und Kulturgeschichte der Migrationen wäre wünschenswert. Die Migranten haben zudem eine Vielfalt persönlicher Zeugnisse hinterlassen, die auf ihre narrativen Möglichkeiten ebenso wie auf ihre Funktion im sozialen Kontext untersucht werden müssen, freilich ohne gleichsam zwangsläufig hinter den individuellen Schicksalen die wahren Glaubensflüchtlinge zu vermuten.

Anmerkungen:

1 Ein Tagungsbericht erschien unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=131. Die Tagungsbeiträge erscheinen 2005 in der Schriftenreihe „Religions- und Kulturgeschichte in Ostmittel- und Südosteuropa“.
2 Joachim Bahlcke (Hg.): Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts, 2., überarbeitete Auflage Leipzig 2004.
3 Das Umfeld rekonstruiert Claudia A. Zonta: Schlesische Studenten an italienischen Universitäten. Eine prosopographische Studie zur frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte, Köln-Weimar 2004.