Norm und Sonderfall. Kulturelle Phänomene des Altertums zwischen Regularität, Distinktion und Devianz

Norm und Sonderfall. Kulturelle Phänomene des Altertums zwischen Regularität, Distinktion und Devianz

Organisatoren
Matthias Grawehr / Cédric Scheidegger Lämmle, Doktoratsprogramm der Basler Altertumswissenschaften (DBAW), Universität Basel
Ort
Basel
Land
Switzerland
Vom - Bis
24.11.2014 - 25.11.2014
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Von
Martin Allemann / Anna Flückiger / Anne-Sophie Meyer, Departement Altertumswissenschaften, Universität Basel

„Innerhalb jeder Gruppe, Gesellschaft oder Kultur werden Normen fortwährend neu ausgehandelt und diskutiert, sie werden eingeübt, verstetigt und durchgesetzt, kritisiert, negiert oder unterlaufen. Als stillschweigend vorausgesetzte oder ausdrücklich formulierte Regulative stiften sie Orientierung und leiten den Menschen in seinem Handeln an. Dabei impliziert die Setzung der Norm stets auch Abweichungen und Sonderfälle, ohne die sie begrifflich nicht triftig sein kann: Erst in der gegenseitigen Bedingtheit von Normsetzung und Sonderfall und in den Diskursen der Rechtfertigung und Kritik, die diese begleiten, gewinnt der Begriff an Kontur“. Der Textausschnitt aus dem Tagungsprogramm skizziert das Feld, in welchem sich die internationale Graduiertentagung des Doktoratsprogramms der Basler Altertumswissenschaften bewegte. Während zweier Tage wurden in einem interdisziplinär altertumswissenschaftlichen, Text- und Materialwissenschaften einschliessenden Rahmen Fragen nach antiken Normen, Leitbildern und Werten gestellt und Überschreitungen, Abweichungen, aber auch die diachrone Wandlung von Normen diskutiert.1

Nach einer Begrüssung von HENRIETTE HARICH-SCHWARZBAUER stellten die Organisatoren CÉDRIC SCHEIDEGGER LÄMMLE und MATTHIAS GRAWEHR (alle Basel) das Tagungskonzept und den geplanten Ablauf vor. In vier Sektionen wurde anschliessend das Spannungsfeld „Norm – Sonderfall“ ausgeleuchtet. Den Vorträgen jeweils zweier Graduierter ging dabei stets die Keynote einer externen Fachperson voraus. In vier Round Tables und in der Schlussdiskussion wurden Verbindungen zwischen den Vortragsthemen sowie Einzelaspekte aufgegriffen und intensiv diskutiert.

In seiner Keynote illustrierte HARTMUT LEPPIN (Frankfurt am Main) das Spannungsfeld zwischen Faktizität und Geltung der Religionsfreiheit im römischen Reich. Bei der Regulierung des Bacchanalienkultes im Jahr 186 v. Chr. ging es nicht so sehr um den Eingriff in ein religiöses Phänomen als vielmehr um die Regulierung der Selbstorganisation einer als subversiv wahrgenommenen Gruppierung. Leppin unterschied zwischen der Praxis der Duldsamkeit und dem Diskurs der Toleranz und Religionsfreiheit. Normen im Umgang mit Religiösem seien üblicherweise nicht expliziert worden und damit auch nicht kritikabel gewesen. Deshalb konnten sich auch verfolgte Christen, Leppins zweites Beispiel, nicht auf ein ausformuliertes Konzept der Religionsfreiheit berufen. Erst Tertullian postulierte, um die Verfolgung von Christen als deviant darzustellen, als erster eine explizite libertas religionis.

TOBIAS KRAPF (Basel/Paris) erläuterte Vorgehen und Fallstricke bei seiner typologischen Einteilung von Keramik aus der Siedlung Sovjan in Südalbanien. Eines seiner Ziele ist die Erstellung einer Typochronologie der umfangreichen spätbronze- und früheisenzeitlichen Keramik dieses Fundplatzes. Dabei stand die Frage, welche Kriterien die typologische Norm und was Sonderfälle je Ware, Gefässform oder Zeitstellung nun ausmachen, im Vordergrund des Vortrages. Er wies auf die Schwierigkeit hin, dass sich Keramiktypochronologien oft an weiträumig verbreiteter Feinkeramik orientieren, die an vielen Plätzen aber nur einen Bruchteil des Fundmaterials darstellt. Doch auch bei der metrisch-statistischen Bearbeitung des gesamten Keramikmaterials einer Fundstelle falle die Abgrenzung von typologischer Norm und Sonderfall nicht leicht.

Briefe des Bischofs Ambrosius von Mailand zum Mailänder Kirchenstreit waren die Grundlage der Ausführungen von SARAH BÜHLER (Basel), die sich mit Ambrosius’ Schwierigkeiten befasste, seine Autorität gegen diejenige der Kaiser in Fragen des Glaubens durchzusetzen. Als Beispiel nannte sie die Bitte Valentinians II., ihm eine Kirche für Gottesdienste nach arianischem Ritus zu überlassen, was Ambrosius abschlug. Auch wenn er sich in seinen Briefen durchaus als siegreich stilisiert, konnte Bühler überzeugend zeigen, dass die Machtposition, die der Bischof für sich beanspruchte, keinesfalls selbstverständlich war: Um seinen Anspruch zu stärken, benutzte Ambrosius Rechtfertigungsstrategien, die sich sowohl an den Kaiser als auch an seine Anhänger richteten. Er argumentierte dabei zunächst theologisch-politisch, andererseits berief er sich wiederholt auf die Anzahl und den Druck seiner Anhänger (populus).

Ausgehend von dem in spätantiken Kommentaren fassbaren Grammatikunterricht zur Vorbereitung auf eine rhetorische Laufbahn, stellte INEKE SLUITER (Leiden) die Frage nach dem Verhältnis zwischen Schüler und Lehrer. Sie arbeitete anhand zahlreicher Beispiele die These heraus, dass die antike Beziehung zwischen Schüler und Lehrer nach dem Vorbild der Eltern-Kind-Beziehung modelliert war: Dabei betonte sie die Spannung zwischen der Hoffnung des Lehrenden auf den Erfolg des Lehrlings und dem Neid im Falle, dass dieser seinen Lehrer übertreffen sollte. Auch diese Normen waren selten schriftlich expliziert, lassen sich aber an exemplarischen Lehrer-Schüler-Verhältnissen ablesen. Sluiter untersuchte ausserdem, auf welcher Basis die Autorität des Lehrers gründete, und eruierte die besondere Stellung der klassischen Autoren: Deren Texte verkörperten meist die zu imitierende Norm. Als Sonderfälle gekennzeichnet wurden dagegen Wendungen, die zwar als hervorragende Kunstgriffe anerkannt waren, jedoch zur Nachahmung durch die Schüler ungeeignet erschienen.

Die situative Anpassung einer gesellschaftlichen Norm zeichnete SERAINA RUPRECHT (Bern) am Beispiel des Basilius von Cäsarea nach. In seinen Briefen an christliche und nicht christliche Adressaten verwendet der Autor den Begriff agape bewusst als christliches Äquivalent des traditionellen Konzepts der philia: Das Verhältnis der philia existiert zwischen ranggleichen Menschen und sichert den Platz in einer Gemeinschaft, dagegen ist agape nur zwischen Glaubensbrüdern möglich, kann und soll aber keine gesellschaftlichen Vorteile sichern. Es stellte sich heraus, dass Basilius’ fein nuancierte Terminologie der Freundschaft sich nicht nachhaltig etablieren konnte.

CAMILLA COLOMBI (Basel) zeigte die Entwicklung des Bestattungsplatzes von Vetulonia (Italien) vom 9. bis zum 7. Jahrhundert v. Chr. auf, also am Übergang zwischen Villanova-Kultur und der orientalisierenden Zeit. Ihr Hauptaugenmerk galt der Frage nach der Repräsentativität der Gräber des 7. Jahrhunderts, aus dem insgesamt viel weniger, dafür aber überdurchschnittlich reich ausgestattete Gräber vorliegen. Am Ende ihrer Ausführungen stand die Annahme, dass im 7. Jahrhundert nur noch die gesellschaftliche Elite in den Gräbern fassbar wird, während der grosse Teil der postulierten Siedlungsgemeinschaft eine archäologisch nicht nachweisbare Art der Bestattung erfuhr. So ist hier der gesellschaftliche „Sonderfall“ Elitebestattung die archäologische Norm.

Die archäologische Sicht auf repräsentative Handlungen stellte BEAT SCHWEIZER (Tübingen) anhand verschiedener Beispiele dar. Zunächst erläuterte er die jüngeren Wandlungen des archäologischen Kulturbegriffs und deren Implikationen für die Auseinandersetzung mit Norm und Distinktion, um dann anhand von Bestattungen das Feld zwischen sozialer Handlung und archäologischem Befund aufzuzeigen. Wenn nach Schweizer der archäologische Befund als Überrest einer Handlung gesehen wird, liegen irregulären ebenso wie regulären Bestattungen absichtsvolle Handlungen zugrunde. Den letzten Teil seines Vortrages widmete er dem Konzept der agency und betonte als methodologische Hürden die stets vorhandene Partikulärperspektive der Forschenden sowie die Schwierigkeit, die statische Natur von Befunden mit dem Blick auf soziale Praktiken zu vereinbaren.

Am Beispiel der Epicedien, einer Gattung der barocken Gelegenheitsdichtung, stellte ELISABETH REBER (Basel) die Frage nach Möglichkeiten der Individualisierung innerhalb des engen Rahmens, den die verbreiteten, sehr normativen poetologischen Handbücher der Zeit vorgaben. Sie zeigte, dass der Bezug zur Konvention sowie der Versuch, sie zu überschreiten, es erlaubten, traditionelle Muster zu variieren. Die vorgestellten Trauergedichte warfen die Frage auf, was den Unterschied zwischen gelungener Variation und unpassender Neuerung ausmache. Ein möglicher Faktor zu Gunsten gewagterer Variationen könnte die exklusive Sprache (Latein) und die teils kleinere Öffentlichkeit des Epicediums gegenüber der öffentlichen, deutschen Leichenrede gewesen sein.

OLIVIA DENK (Basel) zeigte, wie sich in der Repräsentation der makedonischen Könige auf Münzbildern ihre innenpolitisch prekäre und aussenpolitisch flexible Position spiegelt: Oft werden traditionelle makedonische Gottheiten abgebildet; der König ist mit seinen Statussymbolen als makedonischer Adliger dargestellt. Diese Konvention wird allerdings je nach der aussenpolitischen Lage der Könige variiert und bisweilen um persische, bisweilen um griechische Bezüge ergänzt: am deutlichsten unter Alexander I., der sich zunächst als adliger makedonischer Reiter mit persischem Akinakes abbilden liess, nach der Niederlage der Perser aber seine Teilnahme an den olympischen Spielen und seine fiktive griechische Abstammung betonte.

HANS-WERNER FISCHER-ELFERT (Leipzig) stellte von der Norm abweichende Personengruppen entsprechend den altägyptischen Weisheitslehren sowie anderen ägyptischen Bild- und Schriftquellen vor und zeigte auf, wie der Umgang mit Personen, die nicht dem Ma’at-Prinzip entsprachen, mithilfe dieser Texte geregelt wurde: Die Ma’at steht als „Norm und Weltordnung“ dem Chaos gegenüber und galt als das Kriterium, anhand dessen Personen, Zustände oder Verhaltensweisen bewertet wurden. Wer ausserhalb dieser Ordnung stand oder sich nicht adäquat verhielt, konnte beispielsweise als „krank“ bezeichnet werden. Die Quellen erwähnen hier Verschiedenes: körperliche Gebrechen, die Zugehörigkeit zu einer gesellschaftlichen Randgruppe, aber auch entsprechende Ma’at-widrige Charaktereigenschaften. Im Fall von erkrankten und genesenen Priestern nennen die Quellen auch Rückkehrmöglichkeiten in das Ordnungssystem der Ma’at, für andere Personengruppen hingegen sind keine solchen Möglichkeiten überliefert: Charakterlich Abweichende galten sogar explizit als „unheilbar“.

In Ciceros Leben kann sein Exil 58–57 v. Chr. als Bruch in einer glatt verlaufenden Karriere gesehen werden. LAURA DIEGEL (Basel) untersuchte Ciceros eigene Darstellung dieser Zeit. Dabei kontrastierte sie die Briefe aus der Exilzeit mit seiner Selbstdarstellung nach der Rückkehr nach Rom. Die festgestellten Unterschiede führte sie auf die verschiedenen Funktionen seiner Schriften und auf seine versuchte Anpassung an die gesellschaftliche Norm zurück. Die Briefe aus dem Exil bezweckten, bei den in der Heimat Verbliebenen Anteilnahme und Eintreten für seine Sache zu bewirken: Ihr Tonfall war entsprechend bittend. Nach seiner Rückkehr dagegen deutete Cicero das Exil rhetorisch positiv um: Er habe die eigenen Interessen denjenigen des Staates untergeordnet.

JULIANNA KITTI PAKSI (Basel) stellte am Beispiel ägyptischer Monumentalinschriften aus der Ramessidenzeit zwei nebeneinander existierende sprachliche Normen vor. Sie veranschaulichte, wie in manchen Fällen eine neuere Sprachstufe (Spätägyptisch) eine ältere (Mittelägyptisch) infiltrierte, sowohl auf grammatikalischer, als auch auf lexikalischer und orthographischer Ebene. Dies ist besonders bei den Steininschriften der Pharaonen Sethos I., Ramses III. und Ramses IV. zu fassen, also bei königlichen Inschriften mit besonders elaborierter Sprachform. Auf der Suche nach Kriterien für die Wahl der jeweiligen Sprachstufe arbeitete Paksi heraus, dass etwa eine neue Gattung oder ein Adressat niedrigen Ranges die Verwendung einer innovativeren Sprache begünstigte.

Das Tagungsthema „Norm und Sonderfall“ erwies sich, obwohl methodisch schwierig, gesamthaft als äusserst produktiv. Dies nicht zuletzt deswegen, weil es alle Teilnehmenden zwang, ihre eigene Thematik unter diesem Blickwinkel (neu) zu betrachten. Bis hin zur Schlussdiskussion wurde immer wieder auch Bezug auf vorangegangene Vorträge genommen. Der dadurch angeregte, häufig über die Disziplinengrenzen hinausführende Dialog sowie das konstruktive Diskussionsklima waren die Früchte des sorgfältig vorbereiteten Rahmens und des anregenden Themas dieser perfekt organisierten Graduiertentagung.

Konferenzübersicht:

Begrüssung und Einführung
Henriette Harich-Schwarzbauer / Cédric Scheidegger Lämmle / Matthias Grawehr (Basel)

Sektion A: Norm und Sonderfall als methodologische Herausforderung
Chair: Anna Flückiger (Basel)

Hartmut Leppin (Frankfurt am Main), Religionsfreiheit als Sonderfall. Normative Ordnungen religiöser Vielfalt in der Antike

Tobias Krapf (Basel/Paris), Sovjan in Südalbanien. Methodische Ansätze zur Erstellung einer Keramiktypologie

Sarah Bühler (Basel), Verordnungen eines Bischofs. Ambrosius von Mailand und die Kaiser des späten 4. Jahrhunderts

Round Table I

Sektion B: Normen im Wandel. Etablierung und Ablösung von Normen
Chair: Matthias Stern (Basel)

Ineke Sluiter (Leiden), Teachers, Parents and Rulebreakers

Seraina Ruprecht (Bern), Freundschaftskonzepte im Wandel? Beobachtungen zu Basilius von Cäsarea

Camilla Colombi (Basel), Sonderfall als Norm? Die Fürstengräber der Nekropole von Vetulonia

Round Table II

Sektion C: Selbstdarstellung im Spannungsfeld von Norm und Distinktion
Chair: Daniele Furlan (Basel)

Beat Schweizer (Tübingen), Praktiken der Repräsentation im Spannungsfeld von Norm und Distinktion. Zur Materialität und Medialität sozialen Handelns

Elisabeth Reber (Basel), Gefühle nach Mass. Zum Spannungsverhältnis von Trauern und Dichten in neulateinischen Epicedien

Olivia Denk (Basel), Die Könige von Makedonien. Zwischen makedonischer Tradition und bewusster Zuordnung zum Griechentum

Round Table III

Sektion D: Jenseits der Norm. Alterität, Marginalität, Devianz
Chair: Katharina Vogt (Basel)

Hans-Werner Fischer-Elfert (Leipzig), Norm und Sonderfall in altägyptischer Anthropologie. Wie gehen Lebenslehren und Reinheitsvorschriften damit um?

Laura Diegel (Basel), Das Exil als Bruch und Chance. Schemen des Life Writing bei Cicero

Julianna Kitti Paksi (Basel), At the Crossroads of Old and New. The Language of the Ramesside Royal Inscriptions

Round Table IV/Schlussdiskussion

Anmerkung:
1 Die AutorInnen des Berichts danken Isabelle Zeder für die Durchsicht.