Die Ukraine auf dem Weg nach Europa? Die Lage in der Ukraine vor den Präsidentschaftswahlen

Die Ukraine auf dem Weg nach Europa? Die Lage in der Ukraine vor den Präsidentschaftswahlen

Organisatoren
Osteuropa-Institut München; Hanns-Seidel-Stiftung, München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
07.10.2004 -
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Von
Hermann Beyer-Thoma, München

Die bevorstehende Präsidentenwahl in der Ukraine könnte zur Entscheidung zwischen einer Westausrichtung der Ukraine oder einer Orientierung auf Russland und die Länder der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) werden. Die Veranstalter der Tagung wollten das aktuelle Ereignis zum Anlass nehmen, eine breitere Öffentlichkeit auf die Alternativen der Ukraine hinzuweisen, die für die Zukunft Europas von ähnlich weitreichender Bedeutung sind wie die Entscheidung der Frage, ob die Türkei in die EU aufgenommen wird oder nicht. Dabei muss auch hervorgehoben werden, dass die Ukraine seit der Erringung der Unabhängigkeit im Jahre 1991 weder bei der Entwicklung von Demokratie und bürgerlichen Freiheiten noch bei der Transformation des Wirtschaftssystems ausreichende Anstrengungen unternommen hat, um einstweilen als Kandidat für eine EU-Mitgliedschaft in Betracht zu kommen.

"Zwischen West und Ost" ist seit drei Jahrhunderten ein beliebter Topos, um die Situation Russlands zu beschreiben, wobei allerdings völlig unklar ist, was der östliche Pol eigentlich ist und an welchen Kräften und Faktoren man ihn festzumachen hat. Im Fall der Ukraine repräsentiert den "Osten" ohne Zweifel das nach regionaler Hegemonie und längerfristig nach Wiedergewinnung seiner Großmachtrolle strebende Russland. Der historische Teil der Tagung machte dabei deutlich, dass die - aus europäischer Sicht natürlich zu beklagende - zögerliche Westausrichtung der Ukraine nicht nur Folge wirtschaftlicher Abhängigkeit von Russland und schleppender mentaler Ablösung vom Sowjetmodell ist, sondern auch Ergebnis des sehr uneinheitlichen Nationsbildungsprozesses. Es war dabei gelungen, für die historischen Vorträge des Vormittags drei ausgewiesene Spezialistinnen bzw. Spezialisten zu gewinnen, die an einschlägigen Forschungen entweder gerade arbeiten oder sie kürzlich abgeschlossen haben.

Ricarda Vulpius von der FU Berlin, die soeben ihre Dissertation über das Thema "Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860-1920" abgeschlossen hat, arbeitete in ihrem klar gegliederten Vortrag heraus, dass in der viel länger unter polnischer Herrschaft stehenden Westukraine diesseits des Dnepr, und insbesondere im österreichischen Teilungsgebiet Galizien, die Nationsbildung vor dem Ende des Ersten Weltkriegs viel günstigere Bedingungen hatte als unter russischer Herrschaft weiter im Osten: Die in Galizien bis 1848 abgeschlossene Bauernbefreiung, ein ukrainischsprachiges Schulsystem, der österreichische Verfassungsstaat, der nationalpolitische Artikulation zuließ, und schließlich die Möglichkeit für die bäuerliche ukrainische Bevölkerung, sich sprachlich und religiös vom städtischen und adeligen Polentum abzugrenzen, was sein organisatorisches Rückgrat in einer eigenen (griechisch-katholischen bzw. "unierten") Kirchenhierarchie hatte - all dies fand auf der russischen Seite der Grenze ebenso viele retardierende Gegenstücke: Die erst 1861 vollzogene Aufhebung der Leibeigenschaft war mit vielen Einschränkungen der Mobilität verbunden; die Integration der überwiegend orthodoxen Ostukrainer in die russische Staatskirche und das für viele einleuchtende Konzept der allrussischen Nation behinderte die Entwicklung eines ukrainischen Eigenbewusstseins und hatte die Unterdrückung der ukrainischen Sprache als logische Konsequenz. Hinzu kam, dass lediglich der großrussische Nationalismus sich gegenüber der Autokratie gewisse Freiräume für politische Betätigung ertrotzen konnte. Alle diese Faktoren führten dazu, dass am Ende des Ersten Weltkriegs die Ukrainer der Möglichkeit, einen eigenen Staat zu gründen, eher unvorbereitet und uneinheitlich gegenüberstanden.

Frank Golczewski, Professor für osteuropäische Geschichte an der Universität Hamburg, der gerade an einem Buch über die deutsch-ukrainischen Beziehungen in der Zwischenkriegszeit arbeitet, betonte, dass die nationalukrainischen Kräfte - selbst in der Emigration - während der zwanziger Jahre zunächst ihre Hoffnung auf die Sowjetmacht und deren Politik der Ukrainisierung ("korenyzacija") setzten. Nach dem gewaltsamen Abbruch dieses Experiments Ende der zwanziger Jahre begann eine Neuorientierung an der damals im Aufstieg begriffenen nationalen Bewegung des Faschismus. Diese Ausrichtung sei jedoch, auch nach 1941, nicht gleichzusetzen mit einem vollständigen und unkritischen Bündnis mit dem Nationalsozialismus. Vielmehr hätten sich nationalistische Ukrainer sowohl unter den Gefolgsleuten und Mittätern als auch unter den Gegnern der deutschen Besatzungsmacht gefunden.

Die Mitarbeiterin des Osteuropa-Instituts München Katrin Boeckh, die gerade ihre Habilschrift über den Wiederaufbau der Ukraine nach dem Zweite Weltkrieg eingereicht hat, behandelte die Nachkriegszeit. Sie schilderte anschaulich, wie jede der oppositionellen Bewegungen der neuformierten Sowjetukraine - von den Partisanen der späten 40er Jahre bis zu den Helsinki-Gruppen der Siebziger -, wenngleich unterdrückt und zerschlagen, doch im Bewusstsein der Menschen in der Ukraine ihre Spur hinterließ und damit zur Neuformierung der nationalen Kräfte Ende der 80er Jahre beigetragen hat. Ein weiterer entscheidender Faktor für die Wucht der Unabhängigkeitsbewegung sei gewesen, dass sich die Parteiführung der Ukraine der von Gorbacev initiierten Glasnost' verschlossen habe.

Die Vorträge des Nachmittags waren wirtschaftlichen Gegenwartsfragen gewidmet. Sie hier zu referieren würde weit über die Interessen dieser Liste hinausführen. Der historische Vormittagsteil, an dem annähernd hundert und vielfach - wie die Diskussion zeigte - sehr kundige Zuhörer teilnahmen, hat auf jeden Fall die intendierte Multiplikatorwirkung erreicht.

Kontakt

Dr. Hermann Beyer-Thoma
Osteuropa-Institut München
Beyer-Thoma@muenchen-mail.de


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