Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte – Infrastrukturen – Netzwerke

Frühneuzeitliche Bildungssysteme im interkonfessionellen Vergleich. Inhalte – Infrastrukturen – Netzwerke

Organisatoren
Forschungsbibliothek Gotha; Christine Freytag, Friedrich-Schiller-Universität Jena; Markus Friedrich, Universität Hamburg
Ort
Gotha
Land
Deutschland
Vom - Bis
08.10.2014 - 10.10.2014
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Von
Thomas Töpfer, Forschungsbibliothek Gotha

Wer sich mit der frühneuzeitlichen Bildungsgeschichte des Alten Reiches beschäftigt, stößt schnell auf die große Diskrepanz, die zwischen einer dichten Quellenüberlieferung auf der einen und einem unzureichenden Forschungsstand auf der anderen Seite besteht. Die Schule, so Heinrich Richard Schmidt jüngst in der „Historischen Zeitschrift“, könne zwar als die „am besten dokumentierte Instanz für den Kulturtransfer“ gelten. Dennoch sei „die Erforschung der vormodernen Schulwirklichkeit […] ein Stiefkind unseres Faches“. 1 Dieser Eindruck verstärkt sich noch, wenn man zeitlich, regional und methodisch differenziert und die unterschiedlichen Sektoren des vormodernen Bildungswesens vergleichend in den Blick nimmt. Obgleich aktuell auch innovative wissensgeschichtliche und raumbezogene Ansätze die deutsche bildungsgeschichtlich ausgerichtete Frühneuzeitforschung bereichern, besteht nach wie vor ein beträchtlicher Rückstand gegenüber der westeuropäischen Fachtradition, die früher und nachhaltiger eine Öffnung zur Sozial- und Alphabetisierungsforschung vorgenommen hat. 2

„Gotha“ steht paradigmatisch für die eingangs beschriebene Diskrepanz zwischen dichter Quellenüberlieferung einerseits und einem unzureichenden Forschungsstand andererseits. Die Rolle des kleinen Herzogtums Sachsen-Gotha als wichtiger bildungsgeschichtlicher Innovationsort im 17. Jahrhundert ist allgemein bekannt und findet in vielen Handbüchern Erwähnung. Dennoch sind die bis heute in Gotha überlieferten bildungsgeschichtlichen Sammlungen in Bibliothek, Archiv und Museum, die zu den größten ihrer Art zählen, in ihrer Gesamtheit wenig bekannt und nur in Ansätzen erschlossen. Die Forschungsbibliothek Gotha hat es sich deshalb zur Aufgabe gemacht, die bedeutenden Gothaer Quellen in die bildungsgeschichtliche Forschung einzubinden. Neben einer vielbeachteten Ausstellung 3 und einem Mitte 2014 begonnenen, gemeinsam mit dem Forschungszentrum Gotha durchgeführten Forschungsprojekt 4 diente auch die hier vorzustellende wissenschaftliche Tagung diesem Ziel.

Die von der Forschungsbibliothek Gotha in Kooperation mit Dr. Christine Freytag (Friedrich-Schiller-Universität Jena) und Prof. Dr. Markus Friedrich (Universität Hamburg) durchgeführte Konferenz, bei der etablierte Bildungshistoriker ebenso wie Doktoranden aus den Fächern Geschichte, Pädagogik, Germanistik, Literaturwissenschaft und Theologie vertreten waren, griff in mehrerer Hinsicht Desiderate der bildungsgeschichtlichen Forschung auf. Mit einem zeitlichen Schwerpunkt im lange vernachlässigten 17. Jahrhundert wurde die Schule – Universitäten spielten nur am Rande eine Rolle – als vielgestaltiger vormoderner „Wissensort“ aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet. Neben dem zwischenkonfessionellen Vergleich und der Wirksamkeit bzw. Rezeption von Bildungskonzepten sollten vor allem die sozialen und politischen Rahmenbedingungen schulischer Bildung in der Frühen Neuzeit beleuchtet werden.

Programmatisch war in diesem Sinne der Eröffnungsvortrag von STEFAN EHRENPREIS (Innsbruck), der nach den Voraussetzungen für den Wandel kleinstädtischer Schulstrukturen in der Frühen Neuzeit fragte. Zu diesen zählt er unter anderem die verschwimmenden Grenzen zwischen gelehrten und elementaren Bildungsangeboten, die Abhängigkeit der Schulen von der lokalen Bildungsnachfrage und die Konkurrenz unterschiedlicher Schulformen. Die um 1700 spürbaren sozialen Krisen führten in ganz Europa zu Anpassungs- und Reformbemühungen, die vor allem die Armenbildung in den Mittelpunkt rückten. Viele Kleinstädte erwiesen sich dabei als die eigentlichen „Innovationsräume“, was auch damit zusammenhing, dass pädagogisches und didaktisches Wissen im 17. Jahrhundert einen bemerkenswerten Verbreitungsgrad erreicht hatte. Ein solches städtisches Innovationszentrum bildete nicht zuletzt die sächsische Bergstadt Zwickau, deren Gymnasium sich unter dem Rektor Christian Daum (1612-1687) zu einem bemerkenswerten Wissensort und Zentrum der Gelehrsamkeit entwickelte. ALAN S. ROSS (Berlin) führte dies besonders auf die Freiräume zurück, die bei der Auswahl von Themen und Lehrmitteln bestanden und so sogar die zeitweilige Berücksichtigung des Arabischen im Lehrplan ermöglichte. Die gelehrten Interessen der Rektoren und Lehrer fanden nicht zuletzt ihren Niederschlag in umfangreichen Büchersammlungen, wie AXEL WALTER (Osnabrück) am Beispiel der Bibliothek des Gothaer Rektors Johann Heinrich Stuss (1686-1775) illustrierte.

Konkurrenz – hier vor allem zwischen den Konfessionen – war nach MARTIN HOLÝ (Prag) die wichtigste Voraussetzung, dass sich in den Ländern der böhmischen Krone vor 1621 ein besonders vielfältiges Schulwesen entwickeln konnte. Eine intensive Bildungsmigration beispielsweise in die Nebenländer Schlesien und die Lausitzen sowie konfessionelle Grenzüberschreitungen gehörten zu den interessanten Phänomenen, die Holý herausarbeitete. Soziale und konfessionelle Rahmenbedingungen von Schulgründungen und landesherrlicher Schulverwaltung beleuchteten auch ANDREA OTTENS (Münster) und MAIKE GAUGER (Göttingen). Ottens behandelte die Umgestaltung der Lateinschule in Lingen durch den reformierten Prediger Heinrich Pontanus (1652-1714) nach 1680, bei der die stärkere Anbindung an die oranischen Landesherrn konfessionspolitisch zum Tragen kam und zu erheblichen Konflikten in der Stadt führte. Maike Gauger stellte Ergebnisse ihrer geplanten Dissertation zur Integration der evangelischen Klosterschulen in Verwaltung der Herzöge von Braunschweig-Wolfenbüttel am Ende des 17. Jahrhunderts vor, in deren Mittelpunkt einerseits die landesherrlichen Ordnungsmaßnahmen und andererseits Berufs- und Karrierewege von Schülern stehen.

Bekanntlich ist die moderne Dichotomie zwischen öffentlicher und privater Bildung für die vormoderne Gesellschaft ungeeignet. Stattdessen überwogen Grauzonen und verschwimmende Grenzen, wie CORINNA ECKHARDT (Frankfurt am Main) am Beispiel von Melanchthons „Schola Domestica“ zeigen konnte. Diese „Symbiose von Wohn-, Lehr- und Lerngemeinschaft“ im Haus des Wittenberger Professors nähert sich Eckhardt sowohl sozialgeschichtlich als auch mit Blick auf die vermittelten Bildungsinhalte, die ausgehend von der benachbarten Leucorea auf die Bedürfnisse der Hausgenossen zugeschnitten wurden. „Öffentlich“ und „privat“ mischte sich schließlich in besonderer Weise in der Lebens- und Bildungswelt adliger Familien. Dies zeigte TOBIAS BINKERT (Tübingen) an drei Reichsgrafenfamilien unterschiedlicher Konfession, der reformierten Familie Hanau-Münzenberg, der lutherischen Löwenstein-Wertheim und der katholischen Truchsesse von Waldburg. An den Universitäten und Hohen Schulen ihrer jeweiligen Konfession standen den jungen Adligen unterschiedliche Freiräume zur Verfügung, die nicht zuletzt von den sozialen Rahmenbedingungen der Städte abhingen und nicht selten mit standes- und konfessionsspezifischen Erwartungen in Konflikt gerieten.

Einen weiteren Schwerpunkt der Tagung bildeten Unterrichtsinhalte und gelehrte Praktiken in konfessionsvergleichender Perspektive. Die Frage, welchen Einfluss die heidnische Ethik im Lehrprogramm der nachreformatorischen Schulen haben sollte, war zwischen den Konfessionen umstritten, wie SASCHA SALATOWSKY (Gotha) in seinem Beitrag zeigte. Während die Lutheraner die Wertschätzung der antiken Ethik kritisch sahen, zeigten sich reformierte Schulmänner wie Clemens Timpler oder Batholomäus Keckermann offener und betrachteten die christliche Ethik als Vervollkommnung älterer Traditionen. Einen Fall konfessionsübergreifender methodischer Konzepte stellten JOST EICKMEYER (Heidelberg) und REINHARD GRUHL (Hamburg)vor. Sie vergleichen die Anwendung eines topischen Argutia-Konzepts in Werken des Jesuiten Jakob Masen und des lutherischen Gelehrten Georg Philipp Harsdörffer. Am Beispiel des Geschichtskompendiums „Erste Vorbereitung zur Universalhistorie“ (1724) des Halleschen Pädagogen Hieronymus Freyer ging JENS NAGEL (Gotha) der Frage nach, in welchem Umfang von einem „pietistischen“ Geschichtsunterricht gesprochen werden kann. Pietistische Einflüsse kann Nagel vor allem anhand des Gliederungsschemas und der geringeren Wertschätzung der aktuellen Staatengeschichte festmachen. Hingegen fehlen chiliastische Andeutungen und andere, gemeinhin dem Pietismus zugeschriebene Eigenschaften. KRISTINA HARTFIEL (Düsseldorf) widmete sich schließlich der interessanten aber bekanntlich schwer zu beantwortenden Frage, wie Bücher – konkret Geschichtslehrbücher – in der Schule tatsächlich benutzt wurden. In den Bibliotheken des Nürnberger Melanchthongymnasiums und des Jesuiten-Kollegs in Düsseldorf hat sie sich auf die Suche nach vorhandenen oder fehlenden Werken, Gebrauchsspuren und anderen Verwendungszeugnissen gemacht. Dabei wurde deutlich, dass diese „Materialität“ des Unterrichts bei der Beantwortung der Frage behilflich sein kann, ob Norm (Lehrplan) und Wirklichkeit (Unterricht) tatsächlich übereinstimmten.

Leider entfielen die geplanten Beiträge von JENS BRACHMANN (Rostock) zu Johannes Kromayer und von CHRISTINE FREYTAG (Jena) zu Wolfgang Ratke, so dass die geplante Sektion zu vormodernen Bildungskonzepten nur reduziert stattfinden konnte. THOMAS TÖPFER (Gotha) beleuchtete auf der Basis neu erschlossener Quellen die Rezeption der Gothaer Schulreformen durch Veit Ludwig von Seckendorff nach seinem Wechsel in den Dienst des Herzogs von Sachsen-Zeitz. Zugleich wurde damit der Blick auf die bislang weitestgehend unbekannte Bedeutung dieses großen Administrators und Gelehrten für die Entfaltung des Gothaer Bildungsprogramms gelenkt. Hierzu werden im Rahmen des eingangs erwähnten gemeinsamen Forschungsprojekts von Forschungsbibliothek und Forschungszentrum Gotha in Kürze neue Ergebnisse präsentiert.

Die Tagung wurde zusätzlich durch die öffentlichen Abendvorträge von MICHAEL WINKLER (Jena) zur Aktualität frühneuzeitlicher Bildungskonzepte und von ANSELM STEIGER (Hamburg) über die Bedeutung der Bilder im Werk Johann Arndts bereichert und für ein breiteres Publikum geöffnet. Insgesamt gesehen, hat die Tagung ihr Ziel, die Beschäftigung mit der frühneuzeitlichen Schule hin zu neuen Formen von Wissens- und Gelehrsamkeitsgeschichte zu öffnen und den zwischenkonfessionellen Vergleich als Instrument zu stärken, erreicht. Zugleich ist die methodische und thematische Breite der aktuellen bildungsgeschichtlichen Forschung deutlich geworden, in der auch Untersuchungen zu den politischen und sozialen Rahmenbedingungen von Schule ihren Platz haben. Die Ergebnisse der Tagung werden, möglicher Weise um weitere Studien ergänzt in einem Aufsatzband präsentiert werden.

Konferenzübersicht:

Konfessionelle Aspekte

Stefan Ehrenpreis (Innsbruck): Kleinstädte als bildungsgeschichtlicher Innovationsraum: europäische Befunde

Martin Holý (Prag): Ähnlichkeit oder Differenz? Bildungssysteme in den Ländern der Böhmischen Krone im 16. und frühen 17. Jahrhundert

Sascha Salatowsky (Gotha): Schule als konfessioneller Resonanzraum? Der Ethikunterricht an Schulen als Beispiel religiöser Orientierung

Andrea Ottens (Münster): Schule im Zeitalter der Konfessionalisierung – die Lateinschule und das akademische Gymnasium der Grafschaft Lingen (1680-1702)

Michael Winkler (Jena): Bildungskonzepte in der Frühen Neuzeit (Öffentlicher Abendvortrag)

Bildungskonzepte
Corinna Eckhardt (Frankfurt am Main): Melanchthons „Schola Domestica“ – Wissensdistribution eines spezifischen Bildungssystems im Zeichen von Reformation und Späthumanismus

Jens Brachmann (Rostock): Johannes Kromayer und die protestantische Bildungsreform im 17. Jahrhundert

Christine Freytag (Jena): Wolfgang Ratke und der Gothaer Schulmethodus

Thomas Töpfer (Gotha): Veit Ludwig von Seckendorff und die Rezeption der Gothaer Schulreformen

Jost Eickmeyer (Heidelberg) / Reinhard Gruhl (Hamburg): Argutia und Gesprächsspiel. Pädagogische Reformprogramme um die Mitte des siebzehnten Jahrhunderts

Institutionen

Maike Gauger (Göttingen): Funktion und Einbindung der evangelischen Klosterschulen in die Verwaltung des Fürstentums Braunschweig-Wolfenbüttel (1569-1613)

Tobias Binkert (Tübingen): Adlige Lebenswelten im Zeichen von konfessioneller Systemkonkurrenz und späthumanistischer Gelehrsamkeit – Erwartungen, Erfahrungen und Deutungen standesspezifischer Bildung um 1600

Anselm Steiger (Hamburg): Schulung der Sehfähigkeit. Johann Arndts Bildprogramm als pädagogische Hilfsmittel (Öffentlicher Abendvortrag)

Alan S. Ross (Berlin): Der Qur’an in Zwickau, oder: Die städtische Lateinschule als frühmoderner Wissensort

Axel Walter (Osnabrück): Schulbibliothek und Unterrichtspraxis – Johann Heinrich Stuss’ „Commentationes [...] De Historia Bibliothecae Gymnasii Gothani“ (1757–1760)

Inhalte und Praktiken

Jens Nagel (Gotha): Gab es einen ‚pietistischen‘ Geschichtsunterricht? Die Konstruktion der Vergangenheit in Hieronymus Freyers ‚Erste Vorbereitung zur Universalhistorie (1724)‘ interkonfessionellen Vergleich

Kristina Hartfiel (Düsseldorf): Präsenz und Materialität von (Geschichts-)Unterricht? Historiographische Werke aus der Bibliothek des Melanchthongymnasiums in Nürnberg und des ehemaligen Jesuitenkollegs in Düsseldorf im Vergleich

Anmerkungen:
1 Heinrich Richard Schmidt, „Winkelschulen“ und „Bürgerschulen“. Die lokale Bildungsnachfrage als Movens der Schulentwicklung in Sachsen, in: HZ 299 (2014), S. 99-105, hier 99.
2 Marie-Madeleine Compère, L'histoire de l'éducation en Europe. Essai comparatif sur la façon dont elle s'écrit, Bern/Berlin/Frankfurt u.a. 1995.
3 Sascha Salatowsky (Hrsg.), Gotha macht Schule. Bildung von Luther bis Francke. Katalog zur Ausstellung der Universitäts- und Forschungsbibliothek Erfurt/Gotha in Zusammenarbeit mit der Stiftung Schloss Friedenstein, Gotha 2013.
4 Siehe „Gotha Portal zur Bildungsgeschichte der Frühen Neuzeit“<https://www.uni-erfurt.de/bibliothek/fb/bildungsgeschichte/> (13.02.2015).


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