Die Reiche Mittel- und Osteuropas: Mechanismen der Integration und Unterwerfung (16. - 20. Jahrhundert)

Die Reiche Mittel- und Osteuropas: Mechanismen der Integration und Unterwerfung (16. - 20. Jahrhundert)

Organisatoren
Internationale Nachwuchstagung des Historischen Seminars der Eberhard Karls Universität Tübingen und des Instituts für Geschichte der Jagiellonen-Universität Krakau
Ort
Krakau
Land
Poland
Vom - Bis
05.09.2004 - 12.09.2004
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Von
Robert Bartczak, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Einheit und Vielfalt, dynastische oder reichische Zentralgewalt und ständische bzw. kollektive Freiheit, Zentrum und Peripherie – diese Begriffspaare markieren ein grundlegendes Spannungsverhältnis in Europa nicht nur in der Frühen Neuzeit. In besonderem Maße gilt dies für Mitteleuropa, wo eine komplexe Gemengelage von Völkern und Religionen als Erbe der multiethnischen und multikonfessionellen Reiche der Frühen Neuzeit – dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, der polnisch-litauischen Adelsrepublik und der Habsburger Monarchie – bis zum Zweiten Weltkrieg vorherrschte.
Die Wiedervereinigung Mitteleuropas im Zuge der EU-Erweiterung am 1. Mai 2004 bildet indes nicht den alleinigen Anlaß, diesen Raum verstärkt in den Blick insbesondere der vergleichenden historischen Forschung zu nehmen. Die unübersichtlichen Debatten um den EU-Verfassungsvertrag und die weitere Vertiefung der Integration verlangen nach historischen Koordinaten und Orientierungspunkten, wie sie gerade auch in den für Mitteleuropa charakteristischen Prozessen der Integration z.B. durch konsensuale Verfahren und in der ausgeprägten Partizipations- und Libertätskultur gefunden werden können. Aber auch Konflikte, Bruchlinien und Mechanismen der Unterwerfung gehören zu den Erkenntnissen aus dem Reservoir der historischen Erfahrung, die es zu nutzen gilt.

Um diese Fragen anzureißen, und Wechselbeziehungen zwischen dem Osten des Westens und Westens des Ostens neu zu akzentuieren, hat das Historische Seminar der Eberhard Karls Universität Tübingen gemeinsam mit dem Institut für Geschichte der Jagiellonen-Universität Krakau vom 5. bis zum 12. September 2004 in Krakau eine internationale Tagung für den wissenschaftlichen Nachwuchs aus dem Bereich der Geschichte durchgeführt. Beteiligt war auch das Historische Institut der Universität Kopenhagen. Finanziert wurde die Konferenz von der Fritz Thyssen-Stiftung, örtliche Ressourcen stellte das Institut für Geschichte der Jagiellonen-Universität bereit. Die wissenschaftliche Leitung lag in den Händen von Prof. Dr. Anton Schindling (Historisches Seminar der Universität Tübingen), Prof. Dr. Jan Pirożyński (Institut für Geschichte der Universität Krakau) und Prof. Dr. Karl-Erik Frandsen (Historisches Seminar der Universität Kopenhagen). Für die Organisation in Tübingen zeichnete das Internationale Zentrum der Eberhard Karls Universität verantwortlich. Als Zielgruppe angesprochen wurden Nachwuchswissenschaftler/Innen aus Deutschland, Dänemark und den mittel- und osteuropäischen Beitrittsländern der Europäischen Union sowie aus Rußland, Arbeitssprachen waren Deutsch und Englisch.

Inhaltlich wurde die Tagung von den Veranstaltern bewußt breit angelegt, mit einbezogenen waren jeweils für sich genommen sehr unterschiedliche Ansätze der Verfassungs-, Wirtschafts- und Sozial-, Kultur- und Bildungsgeschichte. Zweck der Tagung war dabei nicht allein die „Erweiterung der Mitte“ Europas (György Konrád), auch das Rußländische Imperium wurde explizit berücksichtigt. Als Nachwuchstagung wollte sich die Konferenz in erster Linie als ein Forum zur Diskussion verstanden wissen, wobei vor allem der Austausch der Nachwuchswissenschaftler/Innen untereinander, aber auch mit ausgewiesenen Fachgelehrten gefördert werden sollte. Darüber hinaus sollte die Gelegenheit gegeben werden, Möglichkeiten vertiefter Kooperation auszuloten. Dies schlug sich auch in der Konzeption der Konferenz nieder. Um den angestrebten Dialog zu ermöglichen, gliederte sich die Tagung in 11 „Impulsvorträge“ ausgewiesener Experten, die jeweils das Feld für insgesamt 23 Präsentationen von Forschungsprojekten von Nachwuchswissenschaftler/Innen aus 7 Ländern bereiteten.

In seinem Eröffnungsvortrag legte Józef Andrzej Gierowski (Krakau) die programmatischen Grundlagen für die Tagung, indem er von der polnisch-litauischen „Rzeczpospolita“ das Bild eines multiethnischen und multikonfessionellen zusammengesetzten Staates entwarf. Polen-Litauen zeichnete sich, so Gierowski, als Wahlmonarchie durch eine spezifische politische Kultur aus, deren Hauptmerkmal ein Höchstmaß an ständischer Partizipation bildete, das die Rzeczpospolita im Sinne des Wortes zu einer „res publica“ der polnisch-litauischen Adelsnation werden ließ. Auch wenn die konsensualen Integrationsmechanismen, die z.B. selbst die lutherischen und deutschsprachigen Städte Danzig, Elbing und Thorn an die Adelsrepublik banden, nicht in allen Fällen wirkten (Probleme der Ruś und Kosakenaufstand von 1648), betonte Gierowski, daß die Rzeczpospolita in der Frühen Neuzeit Nischen für andersgläubigen Minderheiten, wie den kalvinistischen Adel Litauens und darüber hinaus die Juden, bot, wie es sie sonst in Europa nicht gegeben hat.

Vor dem Hintergrund dieses „neuen Bildes“ von der Adelsrepublik erschien es als eine – wenn auch ungewollte – Ironie, daß die weiteren Beratungen im Bobrzyński-Saal des Collegium Maius der Jagiellonen-Universität stattfanden. Michał Bobrzyński (1849-1935) war einer der führenden Köpfe der sogenannten „Krakauer Schule“ gewesen, vor deren historiographischem Tribunal die alte Adelsrepublik als heillose Anarchie gebrandmarkt wurde, wobei Parallelen zur kleindeutsch-borussischen Geschichtsschreibung durchaus nicht zufällig waren.
Anton Schindling (Tübingen) knüpfte in seinem Vortrag über das Heilige Römische Reich als trikonfessionelles politisches System an die Argumentation von Gierowski an. Ausgehend von dem vor nunmehr drei Jahrzehnten von Volker Press in die Forschung eingeführten „neuen Bild vom Alten Reich“ wies Schindling vor allem auf den richtungsweisenden Charakter der 1555 und 1648 sukzessive eingeführten Bestimmungen über die Koexistenz der drei reichsrechtlich anerkannten Konfessionen hin. In diesem Zusammenhang plädierte Schindling nachdrücklich dafür, bei vergleichenden Studien zum Heiligen Römischen Reich als Bezugspunkt nicht mehr ausschließlich die modernisierungstheoretischen Kategorien Westeuropas zu wählen, sondern verstärkt die polnisch-litauische Adelsrepublik und die mitteleuropäischen „composite monarchies“ heranzuziehen.
Während Karl-Erik Frandsen (Kopenhagen) in seiner Schilderung der Entwicklungszusammenhänge des dänisch-norwegisch-schleswig-holsteinischen Konglomeratsstaats von der Union von Kalmar (1347) bis zum Nordschleswig-Plebiszit von 1920 den heuristischen Wert des „composite-monarchy“-Paradigmas für die Erforschung von Unions- und Föderationsstrukturen hervorhob, führte der Vortrag von Kazimierz Baran (Krakau) direkt in den Kern der innerpolnischen Debatten um die „constitutional uniqueness“ der Adelsrepublik. Nach einer Bestandsaufnahme, die auch „Rokosz“ und „Konföderationen“ als eine Art von legalem Verfassungsnotstand nicht ausließ, stellte Baran die Adelsrepublik als eine Entwicklungsalternative zum kontinentaleuropäischen Absolutismus dar. Hierzu kam es im Verlauf der Tagung immer wieder zu engagierten Diskussionen, wobei Konsens darüber bestand, daß es kontraproduktiv sei, die Entwicklung Polen-Litauens in der Frühen Neuzeit unter verfassungs- wie auch kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten als Sonderweg zu bezeichnen.

Andreas Kappeler (Wien) stellte in seinem Vortrag die Formierung des Rußländischen Imperiums in den Kontext der europäischen Staatenexpansion in der Frühen Neuzeit. Ausgehend vom historischen Erbe der Rus, Byzanz’ und der Goldenen Horde differenzierte Kappeler fünf Etappen der Reichsbildung vom Sammeln der Länder der Rus (bis 1521) bis zur Angliederung Livlands 1721, die von jeweils unterschiedlichen Formen der Integration und Unterwerfung begleitet waren. Im Kern zielte Kappeler auf die These ab, daß das frühneuzeitliche Rußland als Vielvölkerreich und dementsprechend auch administrativ als zusammengesetzter Staat begriffen werden müsse.
Probleme der Integration und zentrifugaler Tendenzen standen im Mittelpunkt der Ausführungen von Marceli Kosman (Poznań) zur Geschichte der polnisch-litauischen Beziehungen in den letzten vier Jahrhunderten. Nachdem die Realunion von Lublin 1569 Polen und Litauen in einem paritätischen Doppelreich zusammengeführt hatte, sei die erste Bewährungsprobe in Gestalt der schwedischen „Sintflut“ von 1655 eingetreten. Die nationalpolnische Historiographie habe nach dem Bruch mit der litauischen Nationalbewegung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert diese Ereignisse jedoch unter tätiger Mithilfe des noch heute das kollektive Gedächtnis prägenden Schriftstellers Henryk Sienkiewicz umgedeutet und verzerrt dargestellt. Janusz Dąbrowski (Krakau) gab wiederum einen Überblick über die archaisch anmutende Gemeinschaft der Zaporoger Kosaken, die an der Peripherie im äußersten Südosten der Adelsrepublik zwischen Moskau und den Osmanen Selbstverwaltungsstrukturen mit gleichsam vordemokratischen Elementen herausbildeten.

Mit seiner Einführung in das Polenbild der Deutschen im 16. Jahrhundert eröffnete Jan Pirożyński (Krakau) das Feld der Kulturgeschichte. Die Wahrnehmung der Polen im Alten Reich sei untrennbar mit der explosionsartigen Verbreitung des Buchdrucks verbunden gewesen; als größtes Forum für den gelehrten deutsch-polnischen Austausch sei dabei Krakau mit seiner Universität auszumachen. Maßgeblich beeinflusst wurde das deutsche Polenbild auch durch die peregrinatio academica junger polnischer Adliger, unter anderem zur Straßburger Hohen Schule des Johannes Sturm. Die deutschen Vorstellungen über Polen und seinen Adel blieben dabei lange Zeit ambivalent, einerseits stieß die Mischverfassung der Adelsrepublik bei Staatstheoretikern wie Althusius und Keckermann auf Zustimmung, anderseits wurden die freien Königswahlen eher abgelehnt. Die Verfestigung negativer Elemente zu Stereotypen (z.B. „polnischer Reichstag“ oder „polnische Wirtschaft“) ist allerdings ein Phänomen erst des 18. Jahrhunderts.
Pater Ludwik Grzebień, SJ (Krakau) legte in seinem Vortrag über „Jesuit Impact on Education and Culture in the Polish-Lithuanian Commonwealth“ das Hauptaugenmerk auf die Bildungstätigkeit des Ordens innerhalb der Adelsrepublik, die ihren ersten Höhepunkt in der Gründung der Akademie von Wilna im Jahre 1579 fand. Eng mit der Bildungstätigkeit verknüpft waren die Missionsbestrebungen gegenüber der orthodoxen Kirche, jedoch stehe die Historiographie zu dieser umstrittenen Frage noch an ihren Anfängen.

Für die Länder der Habsburger Monarchie zeigte Georg Christoph Berger Waldenegg (Heidelberg) den Zusammenhang von Nationalitätenpolitik, Sprachenpolitik und nationaler Frage während des Neoabsolutismus (1849-1867) auf. So seien Maßnahmen zur Förderung einer k.k. Gesamtstaatsidee mit einer Sprachenpolitik zugunsten des Deutschen einhergegangen. Im Rahmen der „viribus unitis“-Vorstellungen sei dabei zumindest zwischen dem deutschen als „innerer Amtssprache“ im behördeninternen Verkehr und der landesüblichen sogenannten äußeren Amtssprache differenziert worden.
Folgerichtig ging auch Antoni Cetnarowicz (Krakau) vor dem Hintergrund des Scheiterns des Neoabsolutismus in seinem Überblick über die slawischen Völker im Rahmen der Habsburger Monarchie von der Hypothese aus, daß die k.u.k. Monarchie keinesfalls als „Völkerkerker“, sondern vielmehr als „Brutstätte der Nationen“ gewirkt habe. Die Unvereinbarkeiten zwischen den „national erweckten“ Völkern einerseits, aber auch innerhalb der einzelnen Kronländer, wie z.B. in Galizien zwischen den Polen und Ruthenen, andererseits hätten dabei einheitsstiftende Konzeptionen wie den Austroslawismus und Austroföderalismus in zunehmendem Maße auf verlorene Posten gedrängt.

Aus der Reihe der in Anlehnung an die Impulsvorträge gegliederten Projektpräsentationen griffen Adam Perłakowski (Krakau) und Dariusz Makiłła (Toruń/Warschau) in die Debatte um die Staatsform der Adelsrepublik ein. Perłakowski kritisierte in seinem Referat zu den Staatsfinanzen Polen-Litauens die Übertragung der idealen Vorstellung des absolutistischen Fiskalstaates auf die Adelsrepublik. Makiłła deutete in seinem rechtshistorischen Beitrag die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts um sich greifende „Dezentralisierung der Souveränität“ der Rzeczpospolita als „politisches Experiment“ und Entwicklungsalternative zum Absolutismus, da hierdurch die Selbstverwaltungskompetenzen der lokalen Adelsgemeinschaften ausgebaut worden seien. Dieser Ansatz wurde auch von Marcin Sokalski (Krakau) aufgenommen, der anhand der Patronagenetzwerke des kleinpolnischen Adels in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts demonstrierte, auf welche informellen Pfade die politische Kommunikation zwischen Zentrum (Reichstag und königlichem Hof) und Peripherie (lokale Adelsgemeinschaften und ihre Landtage, Magnatenhöfe) der Rzeczpospolita angesichts des Funktionsversagens der Zentralgewalt auswich.
István Szijártó (Budapest) wies in seiner Bewertung der Integration Ungarns in die Habsburger Monarchie im 18. Jahrhundert auf die Bedeutung des Rákóczi-Aufstandes (1703-1711) hin. Auf der Basis eines Kaiser Leopold I. abgerungenen Kompromisses gewannen die ungarischen Stände das Recht zur jährlichen Steuerbewilligung zurück, was wesentlich zur erfolgreichen Integration des ungarischen Adels beitrug. Als Forschungsperspektive formulierte Szijártó einen raumtypologischen Vergleichsansatz, um die mitteleuropäische Libertaskultur in der partizipationsstarken Großregion zwischen dem Herzoglichen Preußen und Siebenbürgern begrifflich zu fassen. Einen ersten Schritt in Richtung einer solchen komparatistischen Analyse deutete Sławomir Augusiewicz (Olsztyn) in seiner Präsentation eines Vergleichs zwischen dem Landtag des Herzoglichen Preußen und dem Reichstag (Sejm) der Adelsrepublik an.

Die Errichtung der kroatischen, slawonischen und kanisischen Militärgrenze durch Beschlüsse des innerösterreichischen Generallandtags von Bruck an der Mur im Jahre 1578 stand im Mittelpunkt der Ausführungen von Nataša Štefanec (Zagreb). Die Verweigerungshaltung der kroatischen und slawonischen Stände gegenüber der habsburgischen Verwaltung namentlich in Steuerfragen führte im Angesicht der osmanischen Bedrohung zu deren völliger politischer Entmachtung und Marginalisierung, so daß die Militärgrenze auch in diesem Abschnitt zu einem Experimentierfeld absolutistischer Verwaltungsmaßnahmen werden konnte.
Robert Bartczak (Tübingen) näherte sich dem Dilemma von Einheit und Vielfalt, monarchischer Integration und ständischer Freiheit über einen Vergleich zwischen dem Alten Reich und der Adelsrepublik zum Zeitpunkt der polnischen Königswahl von 1669. Ein Auftragsgutachten zur Unterstützung der Thronkandidatur des Wittelsbacher Pfalzgrafen Philipp Wilhelm von Neuburg gab dem jungen G.W. Leibniz den Anlaß zur Erörterung grundlegender Fragen der Verfassungsstruktur des Alten Reiches nach 1648, die Leibniz unter Verzicht auf die überkommene Souveränitätsdogmatik im Sinne einer komplementären Staatlichkeit, getragen durch den auf dem Reichstag zum Ausdruck kommenden Willen der Stände, definierte. Auf polnischer Seite boten die Wahlverhandlungen gleichzeitig A.M. Fredro, dem seinerzeit führenden Theoretiker der Ständefreiheit, die Gelegenheit zu einer bemerkenswerten Rechtfertigung des Liberum Veto als einzig praktikablem Mittel zur Konsenserzwingung auf dem Reichstag.
Die spezifische Stellung des Elsaß, das auch nach der sukzessiven Übernahme der Souveränität durch das absolutistische Frankreich in seiner politischen wie konfessionellen Vielgestaltigkeit ein Abbild des Alten Reichs im kleinen blieb und diese Position bis zur Revolution von 1789 bewahren konnte, bildete das Thema von Donatus Düsterhaus (Tübingen). Düsterhaus deutete dabei auch mögliche fruchtbare Vergleiche zwischen der Stellung des Elsaß gegenüber dem Königreich Frankreich und der Lage des Herzoglichen Preußen gegenüber Polen nach den Bromberg-Wehlauer Verträgen (1657) an.
Auf die langwierigen Probleme der Rechtsangleichung – namentlich die Einwirkung des polnischen Rechts auf die adlige Zivilgerichtsbarkeit in den erst 1569 an die Krone Polen gefallen „ukrainischen“ Provinzen – wies Sergiy Lipinin (Warschau) in seiner Projektskizze hin. Für eine polnisch-schwedische Union, die während der Regentschaft der Wasa in Polen zwischen 1587 und 1668 aus dynastischen Gründen im Raum stand, waren die Voraussetzungen, wie von Wojciech Krawczuk (Krakau) aufgezeigt wurde, schon aufgrund des konfessionellen Gegensatzes denkbar schlecht. Ein Beispiel für Konzeptionen zur Lösung des Spannungsverhältnisses zwischen der Wiener Zentralgewalt und den nationalen Autonomieansprüchen der Kronländer in der Habsburger Monarchie nach 1848 stellte hingegen Kinga-Koretta Sata (Cluj-Napoca) mit ihrem Beitrag über den späteren ungarischen Kultusminister József Baron Eötvös vor.

Weitere Projektpräsentationen rundeten das Bild vornehmlich mit kulturgeschichtlichen Themen ab. Zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation referierten Vladimir v. Schnurbein (Tübingen) über „Kaiser und Sultan: konkurrierende Herrschaftskonzeptionen im 16. Jahrhundert“, und Christopher Snigula (Jena) auf der Grundlage von Flugschriften über den Diskurs zur „Teutschen Freiheit“ im Zeitalter Ludwigs XIV. Zur Geschichte Ungarns und Siebenbürgens im Rahmen der Habsburger Monarchie gab es die Projektpräsentationen von Eva Deák (Budapest/Wuppertal) über „Manifestations of Power: Representations through Clothing at the Princely Court of Transylvania during the Reign of Gabriel Bethlen and Catherine of Brandenburg“, Réka Kornélia Bozzay (Debrecen) über „Die Peregrination ungarischer und siebenbürgischer Studenten an die Universität Leiden im 17./18. Jahrhundert“ und Mátyás Kéthelyi (Budapest-Piliscsaba) über den „Feldzug Feldmarschall Batthyánys gegen Bayern im April 1745“.

Kulturellen Entwicklungen in der multiethnischen und multikonfessionellen polnisch-litauischen Adelsrepublik wandten sich Andrzej Paweł Bieś, SJ (Krakau) („Die Rolle der neueren Sprachen in der Tätigkeit des Jesuitenordens in Mittel- und Osteuropa, 16.-18. Jahrhundert“), Andrzej K. Link-Lenczowski (Krakau) (“Jews in the Polish-Lithuanian Commonwealth, 16-18th centuries”) und Filip Wolański (Wrocław) (“The Image of Polish – German Neighbourhood in 18th-century Polish Geographical Writing”) zu. Probleme des deutsch-polnischen Nebeneinanders vor allem in Schlesien im 19. und 20. Jahrhundert waren das Thema von Jacek Dębicki (Wrocław) („Polnische [slawische] Akzente in der schlesischen Gesellschaft der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“) und Maximilian Eiden (Berlin) („Gedächtnis, Macht, Nation. Transnationale Erinnerungsorte im deutsch-polnischen Spannungsfeld, 19./20. Jahrhundert“).

Die Situation der Orthodoxen in den Ostprovinzen der Adelsrepublik behandelte Vladimir V. Vassilik (St. Petersburg) (“The Orthodox Church in the Rzeczpospolita in the first half of the 17th century: from Persecution to Admittance”). Über die Bedeutung des Volksschulwesens im Königreich Dänemark sprach Niels Reeh (Kopenhagen) (“Religion and State in Denmark in the 19th Century“).

Abgerundet wurde das Programm durch Führungen in der Jagiellonen-Bibliothek und im Krakauer Universitätsmuseum sowie einen Empfang im Deutschen Generalkonsulat

Die engagierten Diskussionen erwiesen immer wieder wie wichtig eine Erweiterung des historischen Blickfeldes, gerade auch der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft, nach Ostmitteleuropa und Osteuropa ist. Vergleichende Fragestellungen sind erforderlich, die nicht a priori von den vorgeblichen Modellösungen Westeuropas ausgehen. Wenn solche Forschungen als historische Dimension einer „gemeineuropäischen Verfassungskultur“ (Peter Häberle) verstanden werden, so können sie auch einen Beitrag zu gegenwärtigen Debatten über den Föderalismus und die künftige Verfassung Europas leisten.
Die multiethnischen und multikonfessionellen/multireligiösen Reiche Mittel- und Osteuropas stellen ein besonderes Potential der europäischen Verfassungs- und Kulturgeschichte dar, das nicht nur auf der Folie der westeuropäischen Nationalstaaten gesehen werden darf.

Ein Tagungsband ist in Krakau in Vorbereitung.