Heinrich Bullinger (1504-1575): Leben - Denken - Wirkung

Heinrich Bullinger (1504-1575): Leben - Denken - Wirkung

Organisatoren
Institut für Schweizerische Reformationsgeschichte, Universität Zürich
Ort
Zürich
Land
Switzerland
Vom - Bis
25.08.2004 - 29.08.2004
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Von
Franz Mauelshagen, Historisches Seminar, Universität Zürich

Heinrich Bullinger (1504-1575) war einer jener Reformatoren, die nicht ins Bild des heroischen Glaubenskämpfers passen, das in der Geschichtsschreibung seit dem 19. Jahrhundert so nachhaltige Wirkung entfaltet hat. Da gibt es keine heroischen Bekenntnisse vor dem Kaiser auf der Reichstagsbühne oder einen - allerdings im 16. Jahrhundert eher peinlich empfundenen - Tod auf dem Schlachtfeld, wie ihn Huldrych Zwingli 1531 erlitt. Nicht einmal auf Synoden oder Kolloquien, den großen Glaubensverhandlungen der Epoche, trat Bullinger in Erscheinung. In Poissy 1561 etwa wurde Zürich durch Petrus Martyr Vermigli (1499-1562) vertreten, nicht durch seinen Antistes.

Bullingers Wirkung ist frei von Auftritt und Sensation, geprägt von politischer Defensive. Sie ist vor allem einer über ein langes Leben hinweg durchgehaltenen intellektuellen Leistung zuzuschreiben. So entstand ein Werk, dessen Umfang das seines Vorgängers Zwingli in den Schatten stellt und den Vergleich mit Luther oder Melanchthon aushält. Nur ist dieses Werk nach wie vor zu wenig bekannt und kaum in modernen Editionen greifbar. Die Bullingerforschung hat sich erst seit einer Tagung, die 1975 aus Anlaß des 400. Todestages in Zürich stattfand, intensiver damit auseinandergesetzt 1. Fritz Büsser, der im Sommer 2004 den ersten Band seiner Bullingerbiographie vorlegte 2, sah seinerzeit die Beschäftigung mit Werk und Leben Bullingers am Anfang.

Knapp dreißig Jahre später ist man weiter, wie Emidio Campi (Zürich) - der Spiritus Rector des Kongresses - in seinem Einleitungsreferat betonte. Die historisch-kritische Werkausgabe Bullingers habe Fortschritte gemacht, insbesondere die Edition des Briefwechsels 3. Neben der "Studiorum ratio", die Peter Stotz bereits in den achtziger Jahren edierte 4, seien bisher lediglich zwei Bände mit frühen theologischen Schriften erschienen. Als "groteske Lücke" bezeichnete Campi das Fehlen einer modernen Ausgabe des theologischen Hauptwerkes, der "Dekaden" 5. Sie soll in absehbarer Zeit durch eine von Peter Opitz bearbeitete Edition geschlossen werden. Unter den historiographischen Schriften Bullingers wurde mittlerweile auch eine Edition der "Tigurinerchronik" angegangen, die von Hans-Ulrich Bächtold vorbereitet wird. Eine siebenbändige, eher populäre Ausgabe ausgewählter Schriften in moderner deutscher Übertragung befindet sich seit 1999 in Bearbeitung. Der erste Band erschien rechtzeitig zum Kongreßbeginn 6. Neben abgeschlossenen und laufenden Editionsarbeiten erwähnte Campi die Zahl von mehr als einhundert größeren und kleineren wissenschaftlichen Publikationen, die in den vergangenen drei Jahrzehnten zu Bullinger erschienen seien und von denen er eine Auswahl von historischen und theologischen Studien ausdrücklich würdigte.

Über eine Langstrecke von vier Tagen kamen mehr als sechzig Sprecher aus aller Welt zu Wort, die meisten in parallelen Kurzreferaten. Dreizehn Hauptreferenten sprachen vor dem Plenum, das etwa 160 Teilnehmer umfaßte. Da Vollständigkeit von vornherein ausgeschlossen ist, konzentriert sich der Berichterstatter auf einige Themenblöcke, die für Historiker von besonderem Interesse sein dürften. Dazu gehören Bullingers internationale Ausstrahlung, seine Haltung gegenüber der Täuferbewegung, seine politische Rolle in Zürich und über die Grenzen Zürichs hinaus, sein umfangreiches Networking und sein historisches Denken. Wichtige theologische Themen wie Bullingers Verständnis seines Prophetenamtes (Peter Opitz, Zürich), seine Ekklesiologie (Herman Selderhuis, Apeldoorn), seine paulinisch-johanneische Soteriologie (Christoph Strom, Bochum), seine Bundestheologie (Willem van t'Spijker, Apeldoorn; Hartmut Sitzler, Belg) oder seine Deutungen der Johannesapokalypse und des Jüngsten Gerichts - wozu Bruce Gordon (St. Andrews) ein eindrückliches Schlüsselreferat hielt -, können im folgenden allenfalls gestreift werden.

Bullinger und das Reich

Irene Dingel (Mainz) sprach über "Bullinger und das Luthertum im deutschen Reich" - ein weites Thema, das sie auf die Auseinandersetzungen Bullingers mit Johannes Brenz und Jacob Andreae in den 1560er und 1570er Jahren eingrenzte. Das deutsche Luthertum war in dieser Zeit noch nicht durch die Konkordienformel geeinigt. Bullinger wechselte mit Brenz zunächst bis 1553 einige wenige freundlich gehaltene Briefe, was Brenz in den Augen einiger Lutheraner gleich als "Freund der Sakramentierer" in Mißkredit brachte: Kritiker vermißten eine klare Zurückweisung der Rechtfertigungslehre von Andreas Osiander. Bis 1557 gab es Versuche der Württemberger zur Einigung mit den Zürchern. Bullinger lehnte jedoch die von Farel den Württemberger Kollegen vorgelegte "Confessio de coena" ab. Calvinistische Tendenzen in Württemberg waren es schließlich, die zur Stuttgarter Synode und zum Stuttgarter Bekenntnis führten, das klare Formulierungen im Sinne einer Option für das Luthertum enthielt und im Zeichen des Augsburger Religionsfriedens stand, insofern darin nur die dort genannten protestantischen Konfessionen im Reich Anerkennung fanden. In seiner Reaktion war Bullinger im Sinne der in Württemberg existierenden reformierten Gemeinden darauf bedacht, Gemeinsamkeiten zu betonen und Unterschiede herunterzuspielen. Die Lage änderte sich neuerlich, als in der Pfalz unter Kurfürst Friedrich III. der Calvinismus eingeführt wurde (Heidelberger Katechismus 1563). Die Einigung zwischen Zürich und Genf im Consensus Tigurinus 1549 und dann in der "Confessio Helvetica Posterior" von 1566 befestigte auch Zürcher Positionen gegenüber dem Luthertum.

Brenz starb 1570. Sein gedrucktes "Testament" schockierte den Zürcher Antistes und veranlaßte ihn zu einer Antwort. Als Gegenspieler rückte jetzt Jacob Andreae nach. Er war seit 1567 für die Konkordie aktiv (erste Erfolge 1574). Dingel legte dar, wie jede Seite in der Kontroverse ihre eigene "Geschichtstheologie" konstruierte. Bullinger machte dabei wiederholt vom historischen Argument Gebrauch. Wie Zwingli berief er sich in seiner "Apologia" von 1575 nicht nur auf die Bibel, sondern auch auf die Kirchenväter. Andreae warf er eine Vernachlässigung des "consensus perpetuus" mit den frühen Christen und den Kirchenvätern vor. Ähnlich argumentierte Christoph Herdesian in Nürnberg. Zur Erklärung der Differenzen unter den Anhängern der Reformation standen endzeitliche Geschichtsmodelle sinnstiftend zur Verfügung. Die Spaltung wurde als Werk des Satans begriffen, der die wiederhergestellte evangelische Wahrheit neuerlich verwirrte. Bullinger mahnte zur Einigkeit und warnte vor Kategorisierungen, mit denen Parteiungen zementiert würden. Man sei nicht zwinglianisch, lutherisch oder schwenkfeldianisch, sondern christlich. Gleichzeitig verwies er auf innerlutherische und innerprotestantische Auseinandersetzungen als schlagenden Beleg gegen das Luthertum als alleinigem "Hort" der Wahrheit. Als Gegensatz dazu richtete er ein idealisierendes Bild der Eintracht unter den Zürcher und Schweizer Reformierten sowie zwischen den Pfarrern und dem Rat seiner Heimatstadt auf. In diesem Zusammenhang wies Dingel auf die ganz andere politische Ausgangslage im Reich mit seiner politischen Vielfalt und seinen Reichsinstitutionen, insbesondere aber auf die Rahmenbedingungen der "Confessio Augustana" hin. Auf Nachfrage bezeichnete sie das Reich als "Biotop", das von einer kulturellen Vielfalt und komplizierten rechtlichen Strukturen geprägt gewesen sei, die ihren Beitrag zur Sonderstellung des deutschen Luthertums in Europa geleistet hätten.

Bullinger international

Diarmaid MacCulloch (Oxford), der erst jüngst eine umfangreiche Gesamtdarstellung zur europäischen Reformationsgeschichte vorgelegt hat 7, referierte über "Bullinger and the English-speaking World". Zwingli war in Kappel gefallen, ehe sein Name in England oder Schottland Bedeutung erlangen konnte. So sei Zürichs Wirkung auf die englische evangelische Bewegung vor allem den unermüdlichen Anstrengungen Bullingers zu verdanken. Kontakte via Grynäus zu Thomas Cranmer (1489-1556), seit 1533 Bischof in Canterbury, führten 1536 zu ersten persönlichen Begegnungen mit einer Gruppe englischer Reisender, die in Zürich Station machten. Rudolf Gwalther (1519-1586) reiste daraufhin 1537 nach Oxford und hielt sich für einige Zeit am Magdalen College auf. Es folgten weitere Besuche von englischer Seite. Der Handel spielte für diese frühen Kontakte eine wichtige Rolle, namentlich der Buchhandel auf den Frankfurter Messen. Er war eine Lebensader für diese Fernbeziehungen.

Die persönlichen Kontakte dieser ersten Phase waren nur locker mit Cranmer verknüpft. MacCulloch sprach von einer "independence of mind" der beteiligten Engländer, die keinen klerikalen Hintergrund besaßen und nicht gewillt waren, in Heinrichs VIII. halbreformierter Kirche eine Rolle zu spielen. Diese englisch-zürcherischen Verbindungen wurden mit den Abendmahlsstreitigkeiten heikel. Cranmer und die evangelische Führerschaft in England hielten an der Realpräsenz und somit an einem lutherischen Eucharistie-Verständnis fest. Die "doppelte Katastrophe" der "Six Articles" (1539) und der Hinrichtung Thomas Cromwells (1485-1540) im Jahr 1540 spaltete die evangelische Bewegung Englands in eine Gruppe, die dem König - bei allen Bedenken gegenüber seiner Politik - loyal blieb, und eine Gruppe, die die Flucht ergriff. Jetzt, so führte MacCulloch aus, wurde Zürich zum Exil für Glaubensflüchtlinge, wozu es während der Rekatholisierungsversuche unter Maria I. erneut werden sollte. Für viele Flüchtlinge sei Zürich in dieser Zeit zum Modell einer möglichen englischen Zukunft geworden.

In den Jahren nach Cromwells Hinrichtung spielten die englischen Exulanten eine geringe Rolle. In dieser Phase erschienen die Werke Bullingers in England nie unter seinem Namen. Lediglich eine antinikodemitische Schrift, in Antwerpen gedruckt, bildete eine Ausnahme. Der Tod Heinrichs VIII. und Straßburgs reformatorischer Bedeutungsverlust nach dem Schmalkaldischen Krieg (Weggang Bucers nach England 1549, wo er in Cambridge lehrte, aber schon 1551 starb) werteten Zürich auf, zumal sich die englische Reformation unter Edward VI. auf die Schweizer Reformierten hin und vom Luthertum weg bewegte. Bullinger vermied es, die günstige Lage zu gefährden, indem er im Streit um die klerikale Kleidung nicht auf seiten von John Hooper (1495-1555) gegen Cranmer Position bezog, um eine Einigung zwischen den Kontrahenten zu fördern. Bullingers Rolle in der Edward'schen Reformation beschrieb MacCulloch so, daß der Zürcher Antistes keinen Anlaß zur Intervention sah, um so mehr, als er nun zur Referenz in reformatorischen Debatten wurde.

Der Tod Edwards und das Scheitern von Jane Greys Anwartschaft auf den englischen Thron führten eine zweite Phase des Exils englischer Reformierter in Zürich herbei. Viele von ihnen wurden unter Elisabeth I. Bischöfe, was der Zürcher Verbindung eine neue institutionelle Grundlage verschuf. Jetzt gingen Zürcher Studenten nicht nur nach Oxford, sondern auch nach Cambridge. Vermittelt durch Rudolf Gwalther begann für Bullinger die Phase seines größten Einflusses. Zürich spielte jetzt in verschiedenen Zusammenhängen die Rolle eines "honest broker" in England, wie es MacCulloch nannte. Der Preis für die gewonnenen Positionen war ein nachlassender Einfluß in Schottland, das auf der Landkarte der Zürcher Reformierten offenbar eine untergeordnete Rolle spielte. Durch John Knox, der seine Exiljahre in Genf verbracht hatte, war Calvins Wirkung hier sehr viel stärker. Aber auch in England gab es in Elisabethanischer Zeit Konkurrenz zwischen Genf und Zürich.

Schließlich ging MacCulloch noch auf die Bedeutung Bullingers für die dritte Generation der englischen Reformation ein. In der Auseinandersetzung gegen den aufkommenden Puritanismus bezog sich John Whitgift (1530-1604), der Bullinger nie persönlich kennengelernt hatte, auf Werke des Zürchers und kanonisierte dadurch Bullinger gleichsam als englischen Reformator.

Zur Rezeption der "Dekaden" sowie der "Apokalypsepredigten" Bullingers in Elisabethanischer Zeit referierte John Craig (Burnaby/Kanada) über seine Untersuchungen zum Buchbesitz in Gemeinden der Grafschaften Cambridgeshire, Suffolk, Hertfordshire und Devon, ergänzt um eine Stichprobe aus Londoner Gemeinden. Bekanntlich hätten in den 1570er und 1580er Jahren einige Bischöfe den Versuch unternommen, Bullingers "Dekaden" als Schlüsseltext für die Klerikerunterweisung und damit für die Elisabethanische Kirche zu etablieren. Dies schlug fehl. Nur wenige Pfarreien schafften das Buch an. Calvins "Institutiones", Vermiglis "Loci Communes" oder die "Loci" von Wolfgang Musculus waren offenbar erfolgreicher. Schwieriger ist die Wirkung eines Aufrufs von John Parkhurst (1512-1575), Bischof in Norwich, zu bewerten, der 1561 den Klerus in seiner Diözese aufforderte, Bullingers Apokalypsepredigten zu erwerben. Einiges deute darauf hin, daß diese Predigten in der theologischen Debatte über die Sabbathvorschrift eine Rolle spielten, meinte Craig.

Zwei Tagungsbeiträge weiteten den rezeptionsgeschichtlichen Horizont ins 17. Jahrhundert und auf den Presbyterianusmus aus. Polly Ha (Cambridge) zeigte am Beispiel von Walter Travers, einem der Vordenker des Presbyterianismus in elisabethanischen Zeiten, wie Bullingers institutionellen Ansichten Travers' kirchlichen Interessen entgegenkamen. Neu entdeckte handschriftliche Notizen zeigen, wie Travers Schriften Bullingers zur Unterstützung presbyterianischer Positionen nutzte - Jahrzehnte bevor der englische Presbyterianismus um die Mitte des 17. Jahrhunderts wieder auflebte. Bullingers Bundestheologie scheint dabei eine gewisse Rolle gespielt zu haben. Als im "Westminster Assembly" (1643) das Verhältnis von Kirche und Staat neu ausgehandelt wurde, brachten schottische Geistliche auf Bullinger gestützte Auffassungen ein. Shaun de Freitas (Bloemfontein/Südafrika) ging diesen Zusammenhängen und Bullingers Bedeutung für Samuel Rutherford (1600-1661), einen der führenden politischen Theoretiker des Presbyterianismus, nach.

Einige Referate waren Bullingers Wirkung in Osteuropa gewidmet. Erich Bryner (Zürich) verglich Polen und Ungarn und erkannte zwei Modelle - "Reformation von oben" durch den polnischen Adel hier, "Reformation von unten" vor allem durch ungarische Studenten, die an protestantischen Universitäten studiert hatten, dort. Schriften, mehr aber noch Briefe Bullingers mit Adresse an Reformierte spielten in beiden Ländern eine wichtige Rolle. In Ungarn konnten sich Reformierte nachhaltig etablieren, während in Polen eine erfolgreiche Gegenreformation die Anhängerschaft des evangelischen Glaubens auf Splittergruppen reduzierte. Géza Sógor (Klausenburg), Jan-Andrea Bernhard (Castrisch), Luka Ilic (Amsterdam), Lilian Ciachir (Bukarest/Fribourg) und Dainora Pociute (Vilnius) erweiterten die osteuropäischen Perspektiven mit einem Blick nach Siebenbürgen, Slowenien, Rußland, Rumänien und Litauen. Schon seit einiger Zeit ist bekannt, daß Bullingers "Hausbuch" während der 1630er Jahre in offiziellen Listen von Predigtbüchern zum Gebrauch für Krankentröster am Kap der Guten Hoffnung aufgeführt wurde, die im Dienst der Ostinidschen Handelsgesellschaft standen. Rudolph M. Britz und Victor E. d'Astonville (beide Südafrika) haben die Quellenlage untersucht und auf dieser Grundlage Zweifel geäußert, ob auf einen "Einfluß" Bullingers auf die "Kapgesellschaft" geschlossen werden könne.

Bullinger und die Täufer

Das Verhältnis der Reformierten zur Täuferbewegung, die in Zürich ihren Ausgangpunkt nahm, ist nach wie vor ein aktuelles kirchenpolitisches Thema. Schon 1983 baten Reformierte in einem Gedenkgottesdienst zum Abschluß eines über zehn Jahre hinweg geführten Dialogs mit Baptisten um Vergebung. Die Geste wurde am 26. Juni 2004 wiederholt. An diesem "Täufertag" wurde eine Tafel enthüllt, die an die zwischen 1527 und 1614 in Zürich hingerichteten Anhänger des Täufertums erinnert. Felix Manz war das erste Opfer einer Verfolgungspolitik, an deren theologischer Legitimation sowohl Zwingli als auch Bullinger einen aus heutiger Sicht nicht mehr nachvollziehbaren und daher als unrühmlich empfundenen Anteil hatten. Kirchenpräsident Ruedi Reich, ein Nachfolger Bullingers, formulierte zu diesem Anlaß: "Wir bekennen, daß die damalige Verfolgung nach unserer heutigen Überzeugung ein Verrat am Evangelium war und unsere reformierten Väter in diesem Punkt geirrt haben."

Auf dem Kongreß referierte Urs Leu (Zürich) über die "Zürcher Täufer der Bullingerzeit". Seinen Vortrag begann er mit einer gegen Peter Blickle und Hans-Jürgen Goertz gerichteten Feststellung: Das frühe Zürcher Täufertum sei "in seinem Kern und seinem Anliegen" eine theologische, nicht eine religiös-sozialrevolutionäre Bewegung gewesen. Im weiteren stellte er das Projekt der 2003 begonnenen Edition der Zürcher Täuferquellen ab 1534 vor, die an den älteren Quellenband von Leonhart von Muralt und Walter Schmid zeitlich unmittelbar anknüpft. Die Zeugnisse sind eher dünn gesät. Dennoch gewähren sie neue und unerwartete Einblicke. Entgegen früherer Generalthesen vom Nachlassen der Bewegung, scheint die Anhängerschaft der Täufer 1532 im Raum Andelfingen sowie um 1534 und wieder um 1550 an verschiedenen Orten zugenommen zu haben. Auch Versuche obrigkeitlicher Kontrolle sind dokumentiert. Hier ging Leu auf ein Gutachten Bullingers von 1535 ein, das die harte Linie in einem obrigkeitlichen Mandat vom selben Jahr vorwegnahm. Täufern blühte Einkerkerung, Folter, Todesstrafe, Landesverweis oder Güterkonfiskation. Ein Verhör von Hans Fischer aus dem Jahr 1548 deutet auf verbreitete Untergrund-Netzwerke hin und gewährt Einblick in die Versammlungspraxis der Unterdrückten.

Bullingers harte Haltung hatte nachhaltigen Einfluß auf die Täufer-Politik in der Eidgenossenschaft. Hanspeter Jeckers (Liestal) Vortrag mit dem sprechenden Titel "Lange Schatten und kurzes Gedächtnis" zeichnete die Wirkungsgeschichte der beiden Hauptschriften Bullingers zu diesem Thema aus den Jahren 1531 ("Von dem unverschämpten fräfel...") und 1560 ("Der Widertöufferen ursprung...") nach. Vor allem letztere wurde geradezu kanonisiert. Sie war in der Berner Prädikantenordnung von 1585 als Pflichtlektüre vorgesehen. Jeder Pfarrer sollte das kleine Büchlein besitzen, was zu Engpässen führte, wie bis ins 18. Jahrhundert wiederholte Rufe nach Neuauflagen belegen. Bullingers harte Position findet sich in Johann Heinrich Otts "Annales Anabaptistici" (1672) oder Friedrich Seilers "Anabaptista Larvatus" (1680) wieder. Georg Thormanns "Probierstein des Täuffertums" (1693) hingegen markiert einen Wendepunkt: Mit dem Ruf nach einer Widerlegung "aus dem wahren inneren Christentum" bezieht die Schrift eine unorthodoxe Position. Thormann stand vermutlich pietistischen Strömungen der Berner Kirche nahe. Jecker bestätigte abschließend eine erhebliche Mitverantwortung Bullingers an der oft grausamen Verfolgung der Täufer. Sein Täufertraktat habe geradezu als "Handbuch" dafür gedient. Zwar müsse man kirchenstrategische Motive dahinter annehmen. Nichtsdestotrotz blieben die weitreichenden Folgen moralisch problematisch.

Der Politiker

In einem weiteren Schlüsselreferat beschrieb André Holenstein (Bern) Bullingers Instrumente, Möglichkeiten und Grenzen seiner politischen Einflußnahme auf Zürcher, auf eidgenössischer und schließlich auf europäischer Ebene. Er zeichnete zunächst die schwierige Ausgangslage nach der Niederlage von Kappel im Jahr 1531 nach, als Bullinger den gefallenen Zwingli ersetzte. Bullingers Verständnis der Prädikantenrolle sei, so Holenstein, darauf angelegt gewesen, die Konfrontation mit der Zürcher Obrigkeit zu suchen und Kompromisse einzugehen. Die Rolle der Pfarrer mußte zunächst ausgehandelt werden. Anlaß dafür bot eine Predigt Leo Juds vom 24. Juni 1532 mit ihrer Kritik am Baptistalrat, der den Frieden von Kappel geschlossen hatte. Jud sah seine Kritik am unvorteilhaften Friedensschluß durch das Wächteramt des Predigers legitimiert, der eben "bellen" müsse wie ein Hund, wenn er die Herde der Schafe in Gefahr wähne. Der Rat monierte, das Anliegen hätte zunächst intern vor dem Rat vorgebracht und nicht gleich öffentlich gemacht werden sollen. So entstand die Institution der "Fürträge" vor dem Rat, von denen Bullinger und die anderen Großmünsterpfarrer in der Folge reichlich Gebrauch machten. Der Rat redete auch auf den halbjährlichen Synoden der Zürcher reformierten Kirche mit. Hier trafen sich Zentrum und Peripherie, Stadt und Land. Versammlungsort der Pfarrerschaft war bezeichnenderweise das Zürcher Rathaus. Holenstein erkannte hier ein institutionalisiertes Einverständnis über gemeinsame Interessen zwischen Prädikanten und Rat. Offenbar konnte und wollte die weltliche Herrschaft zum Zweck der Herrschaftsausübung nicht auf die "Deutungsgewalt" der Pfarrer verzichten.

Auf eidgenössischer Ebene waren die Spielräume für eine expansive Kirchenpolitik nach dem Scheitern Zwinglis und dem Zweiten Kappeler Landfrieden von 1531 nicht mehr gegeben. Das zeigte sich etwa im Mandatsstreit von 1532/3 Das Schmähverbot im Zweiten Landfrieden erwies sich für die Fünf katholischen Orte als Instrument zur Intervention in hoheitliche Angelegenheiten Zürichs. Bullingers "Ratschlag" vom Sommer 1532, sich von solchen Fesseln zu befreien (der Begriff "Tyrannei" fällt darin) und die Bünde mit den Fünf Orten aufzulösen, blieb folgenlos. Man mußte sich arrangieren und die Zürcher Interessen auf den Eidgenössischen Tagsatzungen so gut wie möglich vertreten. Wie sich dabei die Kooperation zwischen Rat und Prädikanten Zürichs gestaltete, wurde bisher nicht eingehend untersucht.

In noch engeren Grenzen bewegte sich die Kirchenpolitik Zürichs auf dem europäischen Schauplatz. René Hauswirth diagnostizierte vor dreißig Jahren einen Widerspruch zwischen außenpolitischer Macht und dem reformatorischen Einfluß Zürichs. Selbst Erfolge der Reformation in Europa konnten nur passiv hingenommen werden. Die Entscheidung zum "Stillesitzen" im Schmalkaldischen Konflikt schränkte Zürichs politische Rolle auf die Aufnahme von Flüchtlingen ein. Die außenpolitische Passivität, so Holenstein, verlieh der Kirchenpolitik Bullingers jedoch ein besonderes Gewicht, wie Andreas Mühling jüngst festgestellt habe. Die Beschränkung erwies sich hier als Möglichkeit zur Selbständigkeit und längerfristig als Vorteil. Bullingers umfangreicher Briefwechsel erwies sich als wichtigstes Instrument. Holenstein sprach von "pastoralem Networking".

Kommunikator und Networker

Heinrich Bullinger war ein Kommunikationsgenie. Mehr als 12.000 überlieferte Briefe zeugen davon. Damit übertrifft er alle übrigen Reformatoren und Humanisten. Dabei machen die von Bullinger an seine Korrespondenten verfaßten Briefe nur etwa ein Drittel des überlieferten Corpus' aus. Vieles ist hier verloren. Es läßt sich nicht einmal genau sagen was. Der Zürcher Antistes führte leider nicht Buch über die von ihm abgeschickten Schreiben.

Rainer Henrich (Zürich), seit vielen Jahren einer der Bearbeiter der Briefwechsel-Edition und somit ein profunder Kenner der Materie, nahm Bullinger als Korrespondenten unter die Lupe. Beispielhaft griff er den Briefwechsel mit Johannes Haller heraus, um daran grundsätzliche editorische Probleme zu thematisieren und Bullingers epistolographischen Stil zu beleuchten. Bullinger beherrschte verschiedene Stillagen, die von den Briefstellern seiner Zeit für verschiedene Situationen empfohlen wurden. Freundschaftliche Briefwechsel sind vom genus familiare geprägt. Bullingers Schreibstil sei allgemein von einem Verzicht auf decorum gekennzeichnet. Die Sätze fielen kurz aus und würden in ihrer Klarheit dem Anspruch der perspicuitas (Durchsichtigkeit) gerecht, führte Henrich aus. Vergeblich suche man ein Beispiel für die epistola iocosa, den scherzhaften Brief, der von Humanisten für freundschaftliche Kontakte durchaus als angemessen betrachtet wurde. Sarkasmus und Ironie sind hingegen häufiger zu beobachten. Henrich zitierte einen Brief an Haller vom 29. August 1564, in dem Bullinger rückblickend über einen Besuch Capitos und Bucers in Wittenberg im Jahre 1536 bemerkte, sie hätten mühsam erreicht, vom Herrn Papst (Luther) empfangen zu werden. Weitere Stilmittel wie die rhetorische Frage, die Anpassung der Stilhöhe an den oder die Adressaten, der Sprachwechsel vom Lateinischen ins Deutsche, wenn Mitteilungen - Nachrichten zum Beispiel - auch für Ratsherren am Ort des Briefpartners gedacht waren, ein differenziertes Spektrum an Grußformeln und andere Kennzeichen zeugen von Bullingers sprachlicher, kommunikativer und letztlich sozialer Kompetenz. Bullingers Korrespondenz mit Johannes Haller, resümierte Henrich, sei ein "Werkzeug im Dienst seiner großen Aufgabe" gewesen, "vorrangig darauf ausgerichtet, den Kollegen bei der Gestaltung und Sicherung eines evangelischen Kirchenwesens reformierter Prägung zu unterstützen und sich gemeinsam mit ihm auch überregional für das Wohl der protestantischen Kirchen einzusetzen." Das ließe sich in gewissem Sinne auch für Bullingers Korrespondenz überhaupt sagen.

Daß Bullingers Briefwechsel mittlerweile zu einer wichtigen Quelle der Forschung geworden ist, dafür lieferten viele Referate des Kongresses Beispiele. Albrecht Thiel (Dortmund) zeichnete das Verhältnis Bullingers zum Landgrafen Philipp von Hessen anhand des Briefwechsels nach. Andreas Mühling (Luzern) sprach über "Bullinger als Seelsorger im Spiegel seiner Korrespondenz". Géza Sógor (Klausenburg) und Jan-Andrea Bernhard (Castrisch) berichteten über Bullingers Korrespondenz mit siebenbürgischen Studenten und Pfarrern. Auch Erich Bryner (Zürich) wies auf die Bedeutung von Briefen für Bullingers Einfluß in Ungarn hin. Die Aufzählung ließe sich fortsetzen.

Geschichte als Argument

Melanchthon vielleicht ausgenommen, sind Reformatoren, die ähnlich intensiv historisch dachten wie Bullinger, schwer zu finden. Bullinger hinterließ ein umfangreiches historiographisches Werk. Das meiste davon blieb ungedruckt, war als Vermächtnis zur Nachahmung für das Chorherrenstift und die Zürcher Hohe Schule gedacht, nicht für das breite Publikum. Bullinger arbeitete aber nicht nur am kulturellen Gedächtnis, an Traditionsbildung und konfessioneller Identität seiner Heimatstadt, er griff auch für seine Politik auf Geschichte zurück. So argumentierte er gegen Säkularisierungsbestrebungen des Großmünsterstifts historisch, wie Hans Ulrich Bächtold (Zürich) ausführte. Die Kriegsschulden nach der Katastrophe von 1532 hatten Begehrlichkeiten an den reichen Stiftsgütern geweckt, so daß sich der neu eingesetzte Antistes gleich gegen deren "Verstaatlichung" wehren mußte. Er führte an, das Stift sei von Beginn als "Kollegium" eingesetzt gewesen. Vorbilder für diese Organisationsform erkannte er in der Bibel und im frühen Christentum. Das Stift sei zur Zeit Chlodwigs III. vom schwäbischen Fürsten Ruprecht gegründet worden - in einer Zeit, die für Bullinger vor den Verfehlungen des mittelalterlichen Papsttums lag. Und das war entscheidend. Offenbar kannte er bereits 1532, als er dies vor dem Rat darlegte, den Luzerner "Chartenbrief", aus dem er vier Jahrzehnte später in seiner "Tigurinerchronik" die Gründungsgeschichte des Großmünsterstifts herleitete. Tatsächlich betrieb Bullinger schon in Bremgarten Archivstudien, die er dann fortsetzte, um den "rechten Grund aller Sachen" ausfindig zu machen. Das legte Christian Sieber (Zürich) in einem weiteren Kurzreferat dar. Das gewichtigste Zeugnis der archivalischen Nachforschungen Bullingers sind rund dreihundert Urkundenregesten und einige Abschriften von Bundesbriefen.

Mit Bezug auf den Luzerner "Chartenbrief" wies Bächtold darauf hin, daß Bullingers Datierung der Stiftsgründung auf das Jahr 680 der modernen Urkundenkritik nicht standhalte. Die Ruprechtsche Stiftung ist zwischen 853 und 876 anzusetzen - aus reformatorischer Sicht bereits eine Zeit der Verfälschung der frühchristlichen Urkirche durch "menschliche Satzungen". Es ist eine Urkunde Karls des Großen, die folglich zum frühesten Beleg für die Existenz des bereits bestehenden Stifts avanciert. Bei Deutung dieser Urkunde nun, so Bächtold, überdehnte Bullinger seinen "Interpretationsspielraum fast mutwillig", als er den in dieser zweiten (chronologisch ersten) Urkunde enthaltenen Hinweis, die "Chorherren" würden "nach ordentlicher Regel leben und Tag und Nacht unaufhörlich sieben Mal den Herrn loben", als Leben nach der Regel des göttlichen Wortes und die Siebenzahl schlicht als Hinweis verstand, daß "stets und mit allem Fleiß" gebetet werden sollte. Auf diese Art deutete Bullinger den offenkundigen Hinweis auf die sieben Gebetszeiten einfach weg. Solche Geschichtsklitterung gründete letztlich in der gut reformatorischen Ablehnung des äußeren Zwangs vorgeschriebener Zeiten, der das Beten zur Lippenübung degradierte.

Bullinger betrieb für seine historischen Nachforschungen auch die trockene und mühsame Grundlagenarbeit der Chronologie. Und auch sie lieferte Argumente - etwa im Streit um die Kalenderreform oder für die Verknüpfung von biblischer Geschichte und römisch-griechischer Antike, wie Anthony Grafton (Princeton) darlegte. Chronologien würden visuelle Geschichten erzählen und erkennen lassen, was sich dem unmittelbaren Zugriff entziehe. Schlüssel zum Verständnis chronologischer Übersichten sei der Vergleich. Darum ging Grafton auf Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen Bullingers Chronologien (besonders im Daniel-Kommentar) und denen seines älteren Zürcher Kollegen Theodor Bibliander (1504-1564) ein. Zu den signifikantesten Unterschieden gehörte Bullingers Verzicht auf die kosmologische Dimension, die Bibliander beispielsweise durch eine Parallelisierung des Lebens Jesu mit astrologischen Konstellationen ins Spiel brachte. Bullinger verzichtete darauf. Grafton bezeichnete die Chronologie auch als "inter-confessional meeting place". Hier ragt das Phänomen des Fälschers Giovanni Annio da Viterbo (1437-1502) heraus. Bei allen berechtigten Klagen über die mangelnde Glaubwürdigkeit blieb dieser Autor aus dem 15. Jahrhundert auch während des 16. Jahrhunderts eine kaum zu ignorierende Autorität. Bullinger und manch anderer bezogen sich vielfach auf ihn. Grafton würdigte Bullinger abschließend als einen der bedeutendsten Gestalten reformierter Chronologie in seiner Zeit.

Auch Christian Moser (Zürich) ging in seinem Vortrag über "Heinrich Bullinger und die Universalgeschichte" auf die Chronologie ein. Bullingers universalhistorisches Hauptwerk, die "Epitome temporum", erschien 1565 gemeinsam mit einem Daniel-Kommentar. Vorstudien reichten über zwanzig Jahre zurück, wie ein Eintrag in Bullingers "Diarium" zum Jahr 1544 belegt. Moser konnte dazu ein bisher völlig übergangenes Manuskript Bullingers mit dem Titel "Continua temporum annorumque" präsentieren. Unter den Motiven für die universalhistorischen Forschungen des Zürcher Antistes nannte Moser die Vorstellung vom "Alten Glauben" und seiner ununterbrochenen Überlieferung seit Adam. So sollte der christliche als ältester Glaube ausgewiesen werden. Moser erkannte in den "Epitome temporum" letztlich eine "bundesgeschichtliche Dokumentation auf universalgeschichtlicher Ebene", denn Geschichte sei für Bullinger nichts anderes als "das gnädige Heilshandeln Gottes mit der Menschheit im Rahmen des mit Adam geschlossenen und in der Folgezeit vielfach erneuerten einen Bundes".

Irena Backus (Genf) wies in ihrem Vortrag über "Bullinger and Humanism" auf die besondere Bedeutung des Zürcher Reformators für das Verhältnis von Reformation und Humanismus hin. Er habe in seinem eschatologischen Geschichtsverständnis den "studia humanitatis" als erster eine Vorreiterrolle zugesprochen, die für den christlichen Glauben in Richtung auf die reformatorische Wahrheit vorausgewiesen hätte. So wurde - konkret: in Bullingers Apokalypsepredigten - der Humanismus erstmals in einer letztlich heilsgeschichtlichen Konzeption in Kontinuität mit der Reformation gesehen. Auch Bullingers Haltung zu den Kirchenvätern, die während des Kongresses mehrfach - unter anderem von David Wright (Edinburgh) - angesprochen wurde, hat historische Konnotationen, die wiederum mit Bullingers Vorstellung vom Bund Gottes mit dem Menschen und einem darauf beruhenden "consensus perpetuus" verknüpft sind.

Bullinger als Historiker, der Quellenstudien betrieb, der nicht nur eine Reformationsgeschichte verfaßte, sondern auch die Vorgeschichte - und das war für Bullinger: die gesamte Geschichte bis auf seine Zeit - neu interpretierte, ihr einen heilsgeschichtlich auf die Reformation zulaufenden Sinn gab, der aus seinen Forschungen aber auch historische Argumente entwickelte und sie in seiner Tagespolitik einsetzte - das war sicher eine der wichtigsten Neuentdeckungen dieses Kongresses. Bullingers Geschichtsdenken war ein wiederkehrendes Leitmotiv, das die Forschungen der kommenden Jahre sicher weiter beschäftigen wird. Kein Zweifel, daß die Zürcher Großversammlung überhaupt, wenn die Beiträge schließlich in gedruckter Form vorliegen, die Erforschung von Leben und Werk Heinrich Bullingers auf einen neuen Stand heben wird.

In der Abschlußdiskussion wies vor allem Andrew Pettegree auf Forschungslücken hin. Unklar seien nach wie vor Bullingers Auswirkungen auf die lokale Wirtschaft Zürichs im allgemeinen und die der Druckereien im besonderen. Letzteres sei im Falle Luthers und Wittenbergs gut untersucht. Während Calvin persönlich und brieflich, aber auch durch Predigten in ständigem Kontakt zum "gemeinen Mann" gestanden habe, sei dessen Rolle für Bullinger nicht geklärt. Und schließlich warf Pettegree noch die Frage auf, weshalb es keine katholische Polemik gegen Bullinger gegeben habe. André Holenstein vermißte grundsätzlich sozialhistorische Herangehensweisen. Schon Emidio Campi hatte in seinem Einleitungsreferat eine Reihe von Forschungsdesideraten benannt: das Bullingerbild der Neuzeit, die eidgenössische Kirchenpolitik des Zwinglinachfolgers, das lokale Beziehungsgeflecht, in das Bullinger am Ort Zürich verstrickt war, an dem er aber auch mitstrickte, Bullinger als Berater der Obrigkeit oder seine Wirkung als Schulpolitiker. Auf dem Kongreß blieben viele dieser Fragen offen. In manchem brachte er Neues, bei anderem Synthesen auf der Grundlage von Bekanntem. ´

Anmerkungen:

1 Ulrich Gabler/ Erland Herkenrath, Heinrich Bullinger 1504-1575. Gesammelte Aufsatze zum 400. Todestag. Zurich 1975.
2 Fritz Büsser, Heinrich Bullinger. Leben, Werk und Wirkung. Zürich 2004.
3 Heinrich Bullinger, Werke. 2. Abteilung: Briefe. Bd. 1-10 und Ergänzungsband A. Zürich 1974ff.
4 Heinrich Bullinger, Studiorum ratio - Studienanleitung, hg. und aus dem Lat. v. Peter Stotz, 2 Bde. Zürich 1987.
5 Hier und im folgenden werden Kurztitel für die Werke Bullingers verwendet. Für ausführliche Bibliographische Angaben siehe das Werkverzeichnis: Heinrich Bullinger, Werke. 1. Abteilung: Bibliographie. Bd. 1: Beschreibendes Verzeichnis der gedruckten Werke von Heinrich Bullinger, hg. v. Joachim Staedtke. Zürich 1972.
6 Heinrich Bullinger, Ausgewählte Schriften, hg. v. Emidio Campi, Detlef Roth u. Peter Stotz, Bd. 1. Zürich 2004.
7 Diarmaid MacCulloch, Reformation: Europe's House Divided 1490-1700. London 2004.

Kontakt

Franz Mauelshagen, Dr. phil.
Universität Zürich
Historisches Seminar
Karl Schmid-Str. 4
8006 Zürich
Tel.: 01 63 43862
Email: f.mauelshagen@access.unizh.ch


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