Risse im Gemäuer? Hochschulreformen, die Universität und die Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften

Risse im Gemäuer? Hochschulreformen, die Universität und die Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften

Organisatoren
Bildungswerk Weiterdenken in der Heinrich-Böll-Stiftung
Ort
Dresden
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.06.2004 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Roland Bloch, Wittenberg; Jens Hüttmann, Wittenberg und Nina Noeske, Weimar

Die Frage "Wozu Geisteswissenschaften?" hat Konjunktur. Sie wird heute auf Buchtiteln, in Feuilletons, von Hochschulreformern, in der Politischen Bildung, von Geistes- und Sozial- und nicht zuletzt auch von NaturwissenschaftlerInnen gestellt. 1 Auch für die vom Bildungswerk Weiterdenken in der Heinrich-Böll-Stiftung sorgfältig organisierte und an der TU Dresden veranstaltete Tagung "Risse im Gemäuer? Hochschulreformen, die Universität und die Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften" war dies eine der zentralen Fragen. 2 Zugleich sollten jedoch auch die Voraussetzungen dafür erkundet werden, wie eine solche Frage überhaupt gestellt werden kann: Inwiefern macht es überhaupt "Sinn", nach dem Zweck von Geistes- und Sozialwissenschaften zu fragen? Für den auch heutzutage immer wieder gern angeführten Wilhelm von Humboldt war die Sache eindeutig: Die Universität ist der Mikrokosmos der "moralische(n) Cultur der Nation". 3 Was immer man heutzutage davon auch halten mag - an Selbstbewusstsein mangelte es Humboldt jedenfalls nicht.

In der Defensive?

Genau hier lag der Ausgangspunkt der Dresdner Veranstaltung: Zur Zeit würden sich - so betonte eingangs der Veranstalter Jens Hommel (Dresden) - die Geistes- und Sozialwissenschaftler-Innen sehr defensiv verhalten: Zu beobachten sei entweder Anbiederung an die neuen Verhältnisse oder Totalverweigerung gegenüber der Debatte. Drei Panels, denen jeweils Leitfragen voran gestellt und den drei eingeladenen Referenten zur Hand gegeben worden waren, sollten helfen, die gegenwärtige Situation näher zu bestimmen:

Im ersten Panel "Alltagspraxis der Geistes- und Sozialwissenschaften im Spannungsfeld von "Humboldt" und Hochschulreform" sollte zunächst direkt gefragt werden: Was "treiben" Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen eigentlich so? Darüber scheinen Hochschulreformer ziemlich genau Bescheid zu wissen - mit einigen steuernden Eingriffen soll diese Alltagspraxis effizienter, dynamischer und transparenter organisiert werden. Geht das überhaupt? Welche Reformvorschläge gehen auf die Alltagspraxis von WissenschaftlerInnen ein, welche nicht? Wie werden die "Schattenseiten" des akademischen Alltags wahrgenommen: die Lehre vor "Studierendenbergen", das Verfassen von Anträgen, Gutachten und nicht zuletzt Artikeln, Vorträgen auf Tagungen oder auch die akademische Selbstverwaltung? 4

Das zweite Panel "Wissenschaften und Öffentlichkeit - eine gelungene Kommunikation?" ging davon aus, dass sich auch in der Öffentlichkeit ein Bild von Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen verfestigt zu haben scheint, das überspitzt so aussieht: "Faule Profs", wegen ihrer Reformresistenz gern auch "Humboldts letzte Krieger" genannt, verprassen öffentliche (knappe) Gelder, und keiner weiß wofür. Positiv wahrgenommen werden viel eher die Naturwissenschaften, etwa weil sich ihre Ergebnisse im Vergleich durch mehr "Marktfähigkeit" auszeichnen würden. Wie also können sich Geistes- und SozialwissenschaftlerInnen jenseits von Nachrichtenwert und wirtschaftlichem Nutzen öffentlich einmischen? Haben sie spezifische Kompetenzen für bestimmte Problemlagen?

Das dritte Panel schließlich war mit "Forschung - Lehre - Qualität? Reformperspektiven und Herausforderungen" überschrieben. Ausgangspunkt hierzu war der gegenwärtig zu beobachtende Einzug managerialistischer Methoden der Qualitätssicherung in die Hochschulen. Ziel solcher Reformen ist es, die Qualität wissenschaftlicher "Produkte" zu gewährleisten. Dafür muss der Output von Forschung und Lehre erfasst, gemessen und standardisiert werden. Dem entspricht ein regelrechtes Reformalphabet, das von A wie Akkreditierung bis zu Z wie Zielvereinbarungen reicht. 5 Welche besonderen Qualitäten kommen vor diesem Hintergrund den Geistes- und Sozialwissenschaften zu? Wie vertragen sie sich mit gegenwärtigen Reformkonzepten? Darüber hinaus stellt sich die Frage nach den Kriterien, anhand derer Qualität gemessen werden soll. Was messen Instrumente wie Rankings, Evaluationen und Akkreditierung?

Von Credit Point Systems und Workloads

Dass es längst der Sound der Hochschulreform ist, der die Debatte dominiert, wurde schon zu Beginn deutlich: Charlotte Schubert, Althistorikerin und Prorektorin für Lehre und Studium der Universität Leipzig vertrat das Herzstück derzeitiger Hochschulreformen: die Einführung von Bachelor- und Masterstudiengängen. In Leipzig habe man bereits die Komplettumstellung beschlossen, von der gravierende Änderungen der Alltagspraxis erwartet werden. Dass es sich dabei um einen wünschenswerten Reformprozess handelt, begründete Schubert mit der erhöhten Aufmerksamkeit für Studierende, konkreter: mit studentischen workloads, die endlich in den Mittelpunkt gestellt und in Credit Point Systeme umgerechnet würden. In anderen Ländern sei dies längst Normalität.

In der Tat seien die universitären Rahmenbedingungen etwa in den USA häufig viel besser, auch wenn nicht alles bruchlos übernommen werden könne, wie der Historiker Konrad Jarausch (Potsdam/Chapel Hill) aus eigener Erfahrung berichtete. Trotzdem fasste so mancher unter den Anwesenden die Rede von studentischen workloads als unverhohlene Drohung auf. Der Soziologe Dietrich Herrmann (Dresden) erinnerte an die Verantwortung, die WissenschaftlerInnen für "ihre" Studierenden haben. Die Vermittlung von Wissen dürfe nicht durch bloßes Abfragen erfolgen, sondern müsse sich kritisch angeeignet werden.

Anders herum betrachtet würden aber auch die workloads von WissenschaftlerInnen zur gegenwärtigen Misere beitragen: Jürgen Kaube (Frankfurt) berichtete von Wissenschaftlern, die in bis zu zwölf außeruniversitären Gremien mitarbeiten und an die sieben wissenschaftliche Buchreihen herausgeben. Problem an der Sache: Für die Lehre bleibt keine Zeit mehr, während die Publikationslisten wuchern und die Ausdifferenzierung von immer spezialisierteren Teildisziplinen exponentiell ansteigt.

Vom "Nutzen"

In der öffentliche Debatte über die Wissenschaften wird diese Entwicklung zum Teil ja auch gewünscht. Wenn es um Innovationen und Standortsicherung geht, werden aber gegenwärtig eher die naturwissenschaftlichen Disziplinen genannt. Ihnen wird die Lösung von Problemen zugetraut: Wer Krebsforschung betreibe, komme leichter an Fördermittel, hatte der Theologe Klaus Tanner (Halle) beobachtet. Die Geistes- und Sozialwissenschaften haben es da mit weniger konkreten Aufgaben zu tun. Als wichtigen Beitrag zur politischen Kultur betonte Jarausch seine Arbeit als Historiker, etwa wenn er sich um differenziertere Bilder über die DDR "jenseits von Nostalgie und Anklage" bemühe.

Und das ist nur die eine Seite, sei mit Humboldt zugefügt. Denn die Einheit von Forschung und Lehre beruhe auf der fruchtbaren Beziehung zwischen Lehrern UND Schülern: "Der erstere ist nicht für die letzteren, beide sind für die Wissenschaft da; sein Geschäft hängt mit an ihrer Gegenwart und würde, ohne sie, nicht gleich glücklich von statten gehen; er würde, wenn sie sich nicht von selbst um ihn versammelten, sie aufsuchen, um seinem Ziele näher zu kommen durch die Verbindung der geübten, aber eben darum auch leichter einseitigen und schon weniger lebhaften Kraft mit der schwächeren und noch parteiloser nach allen Richtungen muthig hinstrebenden." 6

Also warum dann nicht andersherum, fragte Kaube: mehr Lehre, dafür weniger Forschung? Zudem könnte die Lehre, so die Philosophin Heidrun Hesse (Tübingen), den Raum für kontemplative Wissensformen bieten - massenhafte Verbreitung "unnützen" Wissens wäre die Folge. Die Debatte hatte einen entscheidenden Punkt erreicht: Liegt hier widerständiges Potential, welches manches geistes- und sozialwissenschaftliche Fach sich zukünftig zu eigen machen könnte?

Wer (managt) wen?

Zusätzliche Hoffnung keimte auf, als Hesse feststellte: "Jedes Textverstehen ist für sich gesehen bereits innovativ." Jedoch sei, so fügte sie hinzu, die Verwendung von Begriffen wie "hermeneutische Kompetenz" oder auch "Orientierungswissen" immer auf den Nachweis ihrer Nützlichkeit aus - und könnte in der Rede von "Schlüsselqualifikationen" enden. Pirmin Stekeler-Weithofer (Leipzig), ebenfalls Philosoph, sah es deshalb als vorrangige Aufgabe an, rationales Argumentieren zu lehren statt vage Kompetenzen zu vermitteln.

Was sagt uns das Reformalphabet hierzu? Einer der zentralen Begriffe in der Debatte ist Qualität. Frei nach dem Konzept des New Public Management, könne man auch die Qualität von Forschung und Lehre "sichern". Vorausgesetzt wird damit, dass eine Verbesserung der Prozessqualität zu einer Verbesserung der Produktqualität führt. Der gesamte Prozess des Forschens und Lehrens muss also im Rahmen von Maßnahmen der Qualitätssicherung erfasst, gemessen und bewertet werden.

Solche Vorhaben stießen auf Kritik bei den betroffenen Anwesenden. Von allen geteilt wurde die Befürchtung, dass quantifizierende Messungen die Qualität wissenschaftlicher Arbeit, ihre Ergebnisse bzw. Produkte, nicht nur verbessern, sondern vor allem verschlechtern könnte. Die Bewertung wissenschaftlicher Arbeit könne zudem nur durch die Experten selbst, nämlich die scientific community, erfolgen. Mit den Reformvorhaben - wie etwa der leistungsbezogenen Mittelvergabe oder externen Evaluierungen - werden aber Entscheidungskompetenzen weg von autonomen Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verlagert. In diesem Kontext scheint es nur ein schwacher Trost, wenn das Centrum für Hochschulentwicklung für seine Rankings den Rat der jeweiligen Fachleute einholt, worauf Tassilo Schmitt (Gütersloh), Althistoriker und Referent am CHE, hinwies.

Man darf gespannt auf die hektische Betriebsamkeit nach der nächsten Hochschulreform sein. Schmitt empfahl den Geistes- und Sozialwissenschaften einfach eine optimistischere Grundhaltung. Der Hochschulforscher und ehemalige Wissenschaftsstaatssekretär des Landes Berlin Peer Pasternack (Wittenberg) appellierte an eine pragmatische Einstellung zu den anstehenden Reformen. Soll aber die Qualität von Lehre entscheidend für die Zukunft der Geistes- und Sozialwissenschaften sein, dürfe sie sich nicht zwischen Publikationslisten und Drittmittelbilanzen verlieren.

Wie Wissenschaft autonom sein und gleichzeitig gesellschaftlichen Nutzen produzieren kann, ist keine neue Herausforderung. Um Gelder von den Fürsten zu erlangen, musste Wissenschaft schon zu Zeiten eines Gottfried Wilhelm Leibniz ihren "nuzen" nachweisen. Dafür darf der Staat aber nur die Rahmenbedingungen für Wissenschaft schaffen. Nur so sind Innovationen und Synergieeffekte möglich, wie auch Humboldt nicht müde wurde zu betonen: "Da diese Anstalten ihren Zweck indes nur erreichen können, wenn jede, soviel als immer möglich, der reinen Idee der Wissenschaft gegenübersteht, so sind Einsamkeit und Freiheit die in ihrem Kreise vorwaltenden Principien. Da aber auch das geistige Wirken in der Menschheit nur als Zusammenwirken gedeiht, und zwar nicht bloss, damit Einer ersetze, was dem Anderen mangelt, sondern damit die gelingende Thätigkeit des Einen den Anderen begeistere und Allen die gemeine, ursprüngliche, in den Einzelnen nur einzeln oder abgeleitet hervorstrahlende Kraft sichtbar werde, so muss die innere Organisation dieser Anstalten ein ununterbrochenes, sich immer wieder selbst belebendes, aber ungezwungenes und absichtloses Zusammenwirken hervorbringen und unterhalten." 7 Wenn es den Geistes- und Sozialwissenschaften gelänge, sich endlich tatsächlich in diesem Sinne zu verhalten, könnten sie die Reforminitiative selbst übernehmen. Warum nur tun sie es hierzulande nicht? Hochschulreformer anderer Länder würden sagen: Humboldt lesen! 8

1 Der von Florian Keisinger herausgegebene und auf eine studentische Initiative zurückgehende Band "Wozu Geisteswissenschaften?" (Frankfurt a. M. 2003) versammelt etwa Perspektiven aus Wirtschaft, Medien und Wissenschaft. Außerdem startete die Süddeutsche Zeitung unlängst eine Artikelserie ebenfalls unter der Überschrift "Wozu Geisteswissenschaften?" (z.B. Gerhard Schulze: Willkommen in der Ankunftshalle. Sich selbst überlassen hocken die Naturwissenschaften in der ewigen Abflughalle einer antiquierten Moderne (9.3.04); Harald Welzer: Die Kavallerie kommt nicht (12.3.04); Stefan Rebenich: Ratlos in Ruinen (15.3.04); Barbara Stollberg-Rilinger/Gerd Althoff: Zeichen, nicht Wunder. Weshalb wir symbolische Kommunikationen erforschen (20./21.3.04). Auch DIE ZEIT hat sich der Geisteswissenschaften angenommen, etwa in der Ausgabe 18/2004 (Achatz von Müller: Selige Apathie. Welchen Nutzen haben Germanistik, Philosophie oder Kunstgeschichte. Die Geschichte einer falsch gestellten Frage, S. 47; Ulrich Greiner: Es ist die Kultur, ihr Trottel!, S. 46; Martin Seel: Weltverstrickt. Das Verstehen verstehen. Über den Sinn der Geisteswissenschaften, S. 48; Martin Spiewak: Rettet euch selbst, sonst tut es keiner, S. 45 [alle Artikel unter http://www.zeit.de/2004/18/public_files ]).
2 vgl. auch Jens Hüttmann/Nina Noeske: Der Geist in Zeiten der Unireformen.Taz-Sommerschule (1): Sink and Swim. Oder warum es Sinn macht, massenhaft unnützes Wissen zu verbreiten, in: Die Tageszeitung (TAZ), 14. Juli 2004, S.18, http://www.taz.de/pt/2004/07/14/a0241.nf/text
3 Wilhelm von Humboldt (1810): Über die innere und äußere Organisation der höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin. In: Werke in fünf Bänden. Band IV: Schriften zur Politik und zum Bildungswesen. Darmstadt 1982, S. 255
4 Siehe z.B. die von Albrecht Koschorke beschriebene aufreibende Praxis von Tagungen: "Eine wissenschaftliche Tagung laufe grundsätzlich nicht anders ab als ein Medizinmännertreffen, bei dem sich gewisse, mit dem Geheimwissen ihrer Kultur betraute Experten versammelten, um sich durch Drogen, Gesänge oder das Murmeln unverständlicher Wörter in eine spirituelle Erregung zu steigern, die sie dem Mysterium näher bringt (Albrecht Koschorke (2004): Wissenschaftsbetrieb als Wissenschaftsvernichtung. Einführung in die Paradoxologie des deutschen Hochschulwesens. In: Dorothee Kimmich/Alexander Thumfart (Hg.): Universität ohne Zukunft? Frankfurt a.M., S.142)). Siehe auch die ironische Betrachtung vonValentin Groebner: Stehend, am Pult, mit Wasserglas. Wie man einen akademischen Vortrag hält und wie man ihn als Hörer überlebt. Süddeutsche Zeitung vom 10.8.04, S. 12
5 Reinhard Kreckel (2000): Die Universität im Zeitalter ihrer ökonomischen Rationalisierung. In: hochschule ost 3-4/ 2000, S. 262
6 Humboldt, S. 256
7 ebd., S. 255f
8 so z.B. Richard Rorty, wenn er die Bedeutung Humboldts für die Entwicklung des US-amerikanischen Wissenschaftssystems unterstreicht (Richard Rorty: Wissen deutsche Politiker, wozu Universitäten da sind? Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 31.8.04, S. 35).


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts