Erstes Internationales Doktorandenforum Kunstgeschichte des östlichen Europas

Erstes Internationales Doktorandenforum Kunstgeschichte des östlichen Europas

Organisatoren
Lehrstuhl für Kunstgeschichte Osteuropas, Humboldt-Universität zu Berlin
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.05.2014 -
Url der Konferenzwebsite
Von
Natalia Anna Olszewska / Orsolya Szender, Berlin

In Zeiten von Online-Communities, E-Learning und E-Publishing entstehen merkwürdige Bedürfnisse: zum Beispiel das nach persönlichem Kennenlernen und mündlichem Austausch unter Nachwuchswissenschaftlern, die an verschiedenen Enden der Welt über ähnliche Themen nachdenken. Am 9. Mai 2014 lud der Lehrstuhl für Kunstgeschichte Osteuropas am Institut für Kunst- und Bildgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin in die Humboldt Graduate School zu einem Ersten Internationalen Doktorandenforum ein. Die Veranstaltung schaffte eine bisher nicht existierende Plattform für wissenschaftlichen Nachwuchs, der sich mit Fragen der Kunstgeschichte, der visuellen Kultur und verwandter Themenfelder speziell in Bezug auf das östliche Europa beschäftigt, genauer: Ostmittel-, Südost- und Osteuropa. Gerade Berlin bietet sich als Dreh- und Angelpunkt kulturellen Austauschs zwischen Ost und West für ein solches Unterfangen an. Diese allererste Veranstaltung mit ihren erfrischenden, abwechslungsreichen Debatten über Konzeptions- und Methodenfragen zu den vielgestaltigen Problemfeldern, die im Rahmen kunsthistorischer Area Studies in Bezug auf das östliche Europa bearbeitet werden, bestätigte die Veranstalterinnen (Michaela Marek und Katja Bernhardt) in dem Vorhaben, künftig jährlich zu einem solchen Treffen einzuladen. Das Hauptziel war, Promovenden zusammen zu bringen, die sich sonst vermutlich nicht ohne weiteres begegnen würden, und ihnen ein zwangloses Diskussionsforum zu bieten. Es kamen rund 70 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus unterschiedlichen Ländern von Kanada und den USA bis Georgien – und das, obwohl die meisten die Kosten dafür selbst tragen mussten. Das Präsidium der Humboldt-Universität würdigte die Initiative, indem der Vizepräsident für Bildung und Internationales die Teilnehmer willkommen hieß.

Die Veranstalterinnen hatten aus den zahlreichen eingesandten Exposés eine Auswahl für das Programm des Tages getroffen. Leitend war dabei die Absicht, die Vielfalt von Gegenstandsbereichen, Fragestellungen und methodischen Zugriffen sichtbar werden zu lassen, und auch einen Eindruck davon zu vermitteln, wie sich osteuropabezogene Forschung in der Kunstgeschichte konzeptionell zu anderen Themengebieten des Faches verhält und wie sich unterschiedliche Wissenschaftskulturen darin niederschlagen. Teil des Programms war neben acht Vorträgen auch eine Sektion von Kurzpräsentationen, in der alle Anwesenden ihre Projekte in wenigen Sätzen vorstellen konnten. Alle etwa 70 vorliegenden Exposés, versehen mit den Kontaktdaten, lagen zudem vervielfältigt aus und sie sind auf der Homepage des Lehrstuhls zum Download verfügbar, so dass Recherche und Kontaktaufnahme jederzeit möglich bleiben.1

Die Vorträge führten vor Augen, dass die Kunstgeschichte Osteuropas im globalen Vergleich einerseits von beeindruckender Breite der Erkenntnisinteressen und der Wissenschaftskulturen geprägt ist, sich aber andererseits in der Verteilung der Schwerpunkte in nichts von der kunstgeschichtlichen (Nachwuchs-)Forschung insgesamt unterscheidet: Auch hier dominieren jüngste Geschichte und Gegenwart, während Themen aus dem Mittelalter und der Frühen Neuzeit deutlich weniger Anhänger finden. Gleiches gilt auch für die Methoden, welche mit den Interessenfeldern einhergehen: Klassischen kunsthistorischen Erfassungs- und Analyseinstrumenten werden adaptierte Anleihen aus Nachbarfächern und kreative Kombinationen verschiedenartiger Methoden an die Seite gestellt.

In einem ersten Block zeigte TOMASZ GRUSIECKI (Montréal) unter dem Titel „Vertiginous Carpets: The Unstable Confluence of Nationality and Textiles in Early Modern Europe“ am Beispiel von Teppichen aus dem 16. und 17. Jahrhundert, wie sich die Wahrnehmung und Zuschreibung der Objekte an den verschiedenen Stationen ihrer „Migration“ zwischen Mittlerem Osten, Polen-Litauen und Westeuropa verschob. Formale und technische Unterschiede spielten in der europäischen Frühen Neuzeit keine Rolle, die Herkunftsbestimmung folgte aktuellen Repräsentationsinteressen. Teppiche, deren Herkunft sich heute mit wissenschaftlichen Mitteln auf Polen-Litauen zurückführen lässt, gelangten als orientalische Teppiche in westeuropäische Sammlungen – und stehen damit als eines von vielen möglichen Beispielen für die Kontingenz von Bedeutungsproduktion im transkulturellen Kulturtransfer.

DÁNIEL VÉRI (Budapest) setzte sich in seinem Vortrag „The Tiszaeszlár Blood Libel. Image and Propaganda“ mit der ungarischen Ritualmordlegende von Tiszaeszlár (1882-1883) und ihrer bis heute reichenden Aktualität in verschiedensten künstlerischen und Alltagsmedien auseinander. Die beeindruckend dichte Reihe der Beispiele veranschaulichte Argumentations- und Inszenierungsmuster einer antisemitistischen Bildpropaganda, die Véri überzeugend als „Barometer“ für Konjunkturen des politischen und sozialen Klimas in Ungarn sowie für die dabei zur Anwendung gebrachten Rechtfertigungsmuster deutete.

GIORGI PAPASHVILI (Tbilisi) gab einen Einblick in die Bildkultur Georgiens und ihre Rahmenkoordinaten. Am Beispiel von „Formal Portraits in Georgian Photography around 1900“ zeigte er, wie die Fotografie als in dieser Zeit neu eingeführtes Medium den hergebrachten Bildformeln unterworfen wurde: Grabsteinfiguren, Stifterdarstellungen in Wandmalereien und Porträts in der neuzeitlichen Tafelmalerei gaben die Typologie auch für fotografisch produzierte Bildnisse vor, die erst durch die Anwendung dieses zeichenhaft verfestigten Typus den Status von repräsentativen Porträts beanspruchen konnten.

Der zweite Block führte zwei unterschiedliche Blickweisen auf die Kunstgeschichte der 1930er- und 1940er-Jahre in Polen zusammen. JAGODA ZAŁĘSKA-KACZKO (Gdańsk) erforscht „Architektur und Stadtplanung in Danzig in den Jahren 1933–1945“, wobei sie im Sinne einer Grundlagenforschung bisher ungehobenes Material zur Stadtplanungspolitik des nationalsozialistischen Besatzungsregimes in der „Freien Stadt Danzig“, die zur Hauptstadt des neuen Reichsgaus Danzig-Westpreußen gestaltet werden sollte, sammelt und beschreibt und – perspektivisch – vergleichend auswertet.

AGATA PIETRASIK (Berlin) diskutierte in ihrem thesengesättigten Beitrag „Art in Crisis – Artistic Practice from Poland in the Decade of 1939–1949“ die Frage nach der ethischen, ja im Sinne von Giorgio Agamben Humanität erst konstituierenden Dimension von Kunst. Sie untersuchte diese Frage einerseits anhand von Werken, die während des Zweiten Weltkrieges in Konzentrationslagern auf polnischem Territorium entstanden sind (und heute gemeinhin eher als Zeitzeugnisse denn als Kunst betrachtet werden) und andererseits entlang der zeitgenössischen Reflexion von Zerstörungen kultureller Sachwerte im Zuge des Krieges. Sie zeigte die ungebrochene Kontinuität der unter Kriegs- und Terrorbedingungen entstandenen Kunst mit Leitlinien der Vorkriegsavantgarde und bis in die Nachkriegsmoderne, wobei die Agambensche These auch gerade für diese letztere zu gelten habe.

Der letzte Block zollte dem verstärkten Interesse an zeitgeschichtlich relevanten Formen der künstlerischen Intervention Tribut. SERAINA RENZ (Zürich) stellte in ihrem Vortrag „Performance- und Konzeptkunst in Belgrad 1970-1980“ das in der Folge von Studentenprotesten gegründete Studentische Kulturzentrum (Studentski kulturni centar, SKC) und die von den Initiatoren veranstaltete Ausstellung „Drangilarijum“ vor. Diese bestand anstelle deklarierter Kunstwerke aus mitgebrachten Objekten, die Erinnerungen und Fantasien des jeweiligen Künstlers gleichsam mit sich trugen. Anders als beispielsweise bei Ready-Mades war hier die Rückkopplung an das Individuum konstitutiv. Auf diesem Umweg konnte, so Renz‘ These, der Künstler als Subjekt thematisiert werden, worin – mehr noch als in den Alltagsobjekten selbst – eine Herausforderung an die kulturpolitisch sanktionierte Auffassung von Kunst und ihrer Rolle in der Gesellschaft formuliert war.

MARINA GERBER (Hamburg/Berlin) diskutierte in ihrem Beitrag „Collective Actions since 1976: The Tension Between Labour and Free Time in the Dissolution of Soviet Art and Aesthetics“ die Aktivitäten der gleichnamigen Moskauer Künstler/innengruppe. Von 1976 bis heute führte diese Gruppe über 130 Aktionen im öffentlichen und im privaten Raum durch. Die Aktionen – einschließlich ihrer stets dichten Dokumentation – kreisten durchweg um die Frage nach der Grenzziehung zwischen „produktiver Arbeit“ und Freizeitbeschäftigung bzw. nach der Beschaffenheit von Produktion und Produktivität. Gerber interpretierte dies im Kontext entsprechender philosophischer Debatten als eine grundlegende Auseinandersetzung mit dem konstitutiven Stellenwert von Arbeit und Produktion für den Menschen unter den Bedingungen des Sowjetregimes sowie mit Perspektiven der Emanzipation davon.

Eine dieser Strategie geradezu entgegengesetzte Form des künstlerischen Diskurses um die gesellschaftliche Stellung und Rolle von Kunst untersuchte schließlich MICHELLE MAYDANCHIK (Chicago) in ihrem Beitrag „The Origins of Moscow Actionism, 1991–1996“. Die provokanten öffentlichen Performances, die um Sex, Gewalt, Religion und Leid kreisten, bettete sie ein in das von den Aktionisten aufgespannte Kritikfeld zwischen einerseits der Auflösung des staatlich sanktionierten Normengefüges für Kunst im postsowjetischen Russland, die auch den Wegfall der institutionellen Strukturen der Kunstförderung mit sich brachte, und andererseits der dominanten Rolle kommerzieller Medien und Institutionen, die auf dem globalen Markt über Status und Wert von Kunst entscheiden.

Das Treffen war innerhalb wie außerhalb des Programms von lebhaften, neugierigen und unbefangenen Diskussionen geprägt; von Sprachbarrieren war nichts zu spüren, obwohl die Teilnehmer aus insgesamt 13 Ländern kamen. Der Forumscharakter bewährte sich bestens. Dazu trug auch der abendliche Ausklang in der ifa-Galerie bei einer Ausstellung der estnischen Fotografin Liina Siib bei. Beim „Zweiten Internationalen Doktorandenforum Kunstgeschichte des östlichen Europas“ im Frühjahr 2015 werden sicher schon „alte Bekannte“ zusammenkommen und hoffentlich viele Neue hinzu stoßen.
Konferenzübersicht:

Begrüßung / Welcome

Tomasz Grusiecki (Montréal, McGill University): Vertiginous Carpets: The Unstable Confluence of Nationality and Textiles in Early Modern Europe
Daniel Véri (Budapest, Eötvös Loránd University, ELTE): The Tiszaeszlár Blood Libel. Image and Propaganda
Giorgi Papashvili (Tbilisi, State Academy of Arts): Formal Portraits in Georgian Photography around 1900

Jagoda Załęska-Kaczko (Gdańsk, Uniwersytet): Architektur und Stadtplanung in Danzig in den Jahren 1933-1945
Agata Pietrasik (Berlin, Freie Universität): Art in Crisis – Artistic Practice from Poland in the Decade of 1939-1949

Kurzpräsentationen / Short Presentations

Seraina Renz (Zürich, Universität): Performance- und Konzeptkunst in Belgrad 1970-1980
Marina Gerber (Berlin, Universität der Künste): Collective Actions since 1976. The Tension between Labour and Free Time in the Dissolution of Soviet Art and Aesthetics
Michelle Maydanchik (Chicago, University): The Origins of Moscow Actionism, 1991-1996

Anmerkung:
1 <http://www.kunstgeschichte.hu-berlin.de/institut/lehrstuehle/lehrstuhl-fuer-kunstgeschichte-osteuropas/doktorandenforum/> (25.11.2014).


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Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch
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