Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah

Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah

Organisatoren
Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebrew University in Jerusalem (SICSA); Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft der Universität Tübingen
Ort
Tübingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.10.2004 - 11.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Martin Ulmer, Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft, Uni Tuebingen

Das Ludwig-Uhland-Institut für Empirische Kulturwissenschaft an der Universität Tübingen hat im Oktober 2004 zu der Internationalen Tagung „Die kulturelle Seite des Antisemitismus zwischen Aufklärung und Shoah“ eingeladen, die in Zusammenarbeit mit dem Vidal Sassoon International Center for the Study of Antisemitism an der Hebrew Universität Jerusalem veranstaltet wurde. Die Tagung finanzierte die Fritz-Thyssen-Stiftung.

Zu den beiden kulturwissenschaftlichen Feldern „Tradition und Wirkungsmacht judenfeindlicher Bilder und Codes“ und „Alltäglicher Antisemitismus und jüdische Reaktionen“ wurde interdisziplinär der Forschungsstand diskutiert und Blickweisen im internationalen Austausch erweitert. Es sind diese kulturellen „Ein-Blicke“, auf die viele Untersuchungen zum modernen Antisemitismus in Deutschland zwar immer wieder stoßen, doch angesichts ihrer "klassischen" historiografischen Zugänge häufig nicht weiter nachgehen können. Erkenntnisleitende Fragen waren:
- Welchen Stellenwert hat der Antisemitismus in der deutschen Kultur?
- Was kennzeichnet antisemitische Mentalitäten und Ressentiments der Alltagskultur und wie korrespondieren sie mit der Geschichte der Judenfeindschaft?
- Inwiefern sind Stereotypen vom Juden konstitutiv für eine Alltagsgeschichte des Zusammenspieles von Juden und Nichtjuden? Welchen Einfluss haben solche visuellen und sprachlichen Bilder auf die Dynamisierung des Antisemitismus? Wie werden Stereotypen medialisiert und rezipiert?

Zu Beginn der gut besuchten Tagung betonte der Instituts-Direktor Reinhard Johler die wissenschaftliche Bedeutung, welche den Jüdischen Studien und Untersuchungen zum Antisemitismus als relevantem Fachbereich der Empirischen Kulturwissenschaft bzw. der Europäischen Ethnologie zukommt. Ihre Zugänge ermöglichen ein verändertes und vertiefendes Erkennen antisemitischer Phänomene im europäischen Kontext. Den programmatischen Rahmen konkretisierte der Einleitungsvortrag “Culture, the Jews and Antisemitism in Central Europe: From the Enlightenment to the Shoah“ des Historikers und Leiters des israelischen Forschungscenters Robert Wistrich. Neben dem universellen Antijudaismus in Europa hätte sich Antisemitismus in Deutschland im Zusammenhang mit der deutschen Romantik und ihren spezifischen Folgen wie der Homogenisierung einer völkisch-deutschen Kultur in Abgrenzung zur Zivilisation als ‚Unkultur’ anderer europäischer Länder entwickelt. Die nationalistische Dichotomie ‚Nationalkultur versus Judentum’ (Deutschtum gegen Judentum) sei durch die einflussreiche völkische Bewegung seit dem Kaiserreich ungleich radikaler und stärker als in anderen europäischen Ländern gewesen.

Im Anschluss standen Fragen nach den Traditionen, den Formen und der Inszenierung antijüdischer Bilder sowie ihre vielfältigen Rezeptionsweisen im Mittelpunkt. Nach dem Referat des Berliner Soziologen Rainer Erb über den Forschungstand zum Antisemitismus boten die nachfolgenden Beiträge Einblicke in Einzelstudien, z.B. wie die Untersuchung der Triade von Ahasver, Moloch und Mammon als Ausdruck deutscher Ideologie bis in die Gegenwart vom Berliner Politologen Clemens Heni oder der Vortrag der Tübinger Kulturwissenschaftlerin Gudrun König zum Warenhaus als antijüdischem Stereotyp. Dabei wurde deutlich, wie wirkungsvoll sich antikapitalistische Affekte mit Stereotypisierungen des ‚Jüdischen’ verbinden konnten. Allerdings zeichneten sich bei den ersten Vorträgen bereits deutliche Kontroversen in der Bewertung der Bedeutung des Antisemitismus in der Gegenwart ab.

Stärker historisch blieb der Jerusalemer Religionswissenschaftler Schaul Baumann bei der Darstellung der dichotomen Stereotype einer ‚arischen und jüdischen Rasse’ bei den beiden völkischen Intellektuellen Max Wundt und Ernst von Reventlow. Der Tübinger Religionswissenschafter Horst Junginger knüpfte mit dem Bild des Juden in der nationalsozialistischen Judenforschung an die aufgezeigten völkischen Bilder an und beleuchtete diesen Bereich der Wissenschaftsgeschichte der NS-Zeit. Der Begriff der NS-Judenforschung als „wissenschaftlicher Antisemitismus“ blieb in der Diskussion aufgrund unterschiedlicher Wissenschaftsverständnisse strittig.

Einen anderen Blickwinkel bot der Philosoph Jacob Golomb (Jerusalem) mit seinem Vortrag „Antisemitism and Self-hatred among the German speaking marginal Jews“, der den ‚Selbsthass’ der intellektuell und sozial am Rande der bürgerlichen Gesellschaft stehenden deutschsprachigen Juden detailliert unter Zuhilfenahme Freud’scher Psychoanalyse untersuchte. Dabei ging er in seiner philosophischen Analyse über die von Sander Gilman für die Literaturwissenschaft entwickelten wegweisenden Thesen hinaus und berief sich stark auf die Nietzsche-Rezeption. Der Kunsthistoriker Peter Klein (Marburg) führte in einem Diavortrag über antisemitische Karikaturen im Kaiserreich in die ebenso bunte wie in ihrem Hass und ihrer Feindschaft erschreckende Welt der sogenannten „Judenspottkarten“ ein und zeigte ihre Verbreitung in allen Teilen der Gesellschaft sowie die Kritik an dieser Form des Antisemitismus. Der Beitrag der Münchner Volkskundlerin und Kunsthistorikerin Michaela Haibl zur Rezeption und Inszenierung judenfeindlicher Bilder musste wegen Erkrankung leider ausfallen.

Im zweiten Themenfeld standen Formen des alltäglichen Antisemitismus sowie fremde und eigene Zuschreibungsmuster auf Seiten der Juden im Mittelpunkt. Denn jenseits von Ideologie, Organisation und Propaganda sahen sich Juden in ihrem täglichen Leben mit Antisemitismus konfrontiert, der ihr Selbstbild und Selbstverständnis gleichermaßen prägte.

Als früher Erforscher des Landjudentums arbeitete der Tübinger Kulturwissenschaftler Utz Jeggle an dörflichen Beispielen den Begriff der rustikalen Judenfeindschaft heraus, die über Generationen tradiert wurde und sich auch zuweilen heute noch im kollektiven Gedächtnis widerspiegelt. Der Kulturwissenschaftler Martin Ulmer (Tübingen) zeigte am exemplarischen Fall von Württemberg den Zusammenhang von antisemitischem Diskurs über Skandale in der Weimarer Republik und ihren hohen mentalitätsbildenden Einfluß im Alltag auf. Er verknüpfte die Empirie mit Ansätzen des Habitus-Konzepts zur Analyse von judenfeindlichen Ausgrenzungs- und Distinktionsmustern sowie mit dem Modell der Kritischen Theorie zur Untersuchung antisemitischer Projektion. Die Kulturwissenschaftlerin Andrea Hoffmann (Tübingen) wies in einer mikroanalytischen Studie auf die Verhältnisse der Konfessionen in der oberschwäbischen katholischen Kleinstadt Buchau hin. Das Zusammenleben und die Situation der katholischen Minderheit im mehrheitlich protestantischen Württemberg hätten eine normgebende öffentliche Wahrnehmung geprägt, die bis 1933 den konfessionellen Frieden garantierte, so dass vorhandene judenfeindliche Spannungen eingedämmt wurden.

Die Reaktionen seitens der deutschen Juden auf die ihnen entgegenschlagende Feindschaft waren Schwerpunkte der Vorträge des Historikers Evyatar Friesel (Jerusalem) zu „Jewish socio-cultural Reactions to Antisemitism: The Way of the Central Verein“ und der Historikerin Cornelia Hecht (Stuttgart), die über die Reaktion der Juden auf den alltäglichen Antisemitismus sprach. Friesel beschrieb die verschiedenen Phasen und Argumentationsmuster des wachsenden und schlagkräftigen Centralvereins, der sich der Abwehr verschrieben hatte. Hecht legte ihren Schwerpunkt auf die nationaldeutschen Juden, die durch Anpassung eine Vermeidung der Feindschaft suchten. So kamen mehrere – auch sehr kontroverse – Umgangsformen mit dem Antisemitismus der Weimarer Republik zur Diskussion. Anschließend an die Untersuchung der Abwehr durch den Centralverein stellten die Thesen des Jerusalemer Historikers Simcha Epsteins eine interessante Ergänzung dar. Entgegen der vor allem im nicht-deutschsprachigen Forschungskontext noch häufig geäußerten These von der Passivität und damit einer gewissen ‚Mitschuld’ der europäischen Juden an der Shoah, stellte er den großen Organisationsgrad des Centralvereins und dessen Entschlossenheit dar, die jedoch an der großen Übermacht der Nationalsozialisten zwangsläufig scheitern musste. Hier zeigte sich erneut eine der Stärken einer internationalen Konferenz, dass neben unterschiedlichen Forschungsschwerpunkten auch unterschiedliche Ansätze aufgearbeitet und diskutiert werden konnten. Zum Abschluss erweiterte der ehemalige württembergische Landesrabbiner Joel Berger (Stuttgart) mit seinem Beitrag zum Antisemitismus in Ungarn in der Zwischenkriegszeit die deutsche Forschungsperspektive.

Mit dem Kulturwissenschaftler Klaus Schönberger (Tübingen), der den politischen Diskurs um die Rede des Bundestagsabgeordneten Martin Hohmann im Internet analysierte, wurde wieder der Bogen zum Tagungsbeginn und der abschließenden Diskussionsrunde unter Leitung des Tübinger Kulturwissenschaftlers Kaspar Maase geschlagen, in der die Auswirkungen und Dauerhaftigkeit der Bilder und Vorurteile von Feindschaft und Ablehnung zur Sprache kamen. Während die Mehrheit des Podiums sich in der Bewertung eines deutlichen Anstieges des gegenwärtigen Antisemitismus in Deutschland einig war, und dies mit sozialwissenschaftlichen Statistiken und medien- und diskursanalytischen Studien belegte, bezweifelte eine Minderheit diese Tendenz und hob auf veränderte Ausdrucksformen und Akteure ab.

Zuweilen waren die Diskussionen auf der Tagung von einem wissenschaftlich wie politisch verengten Antisemitismus-Begriff mitbestimmt, der Antisemitismus in Deutschland vor allem als völkische Weltanschauung (historisch: völkische Bewegung und NSDAP, heute: rechtsextreme Parteien) definiert, und damit alltägliche Stereotype, Ressentiments und codierte antijüdische Formen sowie ihre gesellschaftliche Verbreitung übergeht. Es wurde mehrfach angeregt, Shulamit Volkovs Konzept des Antisemitismus als kulturellen Code im Blick auf Bilder, Stereotype und Codes empirisch wie theoretisch-konzeptionell in Geschichte und Gegenwart weiter zu entwickeln.[1] Diese visuellen und sprachlichen Muster sind zentrale kulturelle Aspekte des Antisemitismus, weil sie nicht nur vielschichtige semantische und symbolhafte Zeichen sind, sondern auch im Sinne einer kulturellen Grammatik als Vermittlungs-, Kommunikations- und Tradierungsmedien von Judenfeindschaft im Alltag fungieren. Entsprechende Studien könnten zeigen, wie politische Ideologien und Mentalitäten auch über judenfeindliche Bilder miteinander korrespondieren.

Die internationale Tagung bot durch die unterschiedlichen kulturwissenschaftlichen Zugänge und Erkenntnisse der historischen und aktuellen Antisemitismus-Forschung neue Impulse. Eine Publikation bei der Tübinger Vereinigung für Volkskunde wird die Konferenzbeiträge in diesem Jahr dokumentieren.

Anmerkung:
[1.] Shulamit Volkov: Antisemitismus als kultureller Code. In: Diess: Jüdisches Leben und Antisemitismus im 19. und 20. Jahrhundert. München 1990, S.13-36; Shulamit Volkov: Das jüdische Projekt der Moderne. Zehn Essays. München 2001; Friedrich Battenberg: Antisemitismus als „kultureller Code“. In: Doron Kiesel, Leonore Siegele-Wenschkewitz (Hg.): Der Aufklärung zum Trotz. Antisemitismus in der politischen Kultur in Deutschland. Frankfurt 1998, S.15-51.


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