Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit

Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit

Organisatoren
Institut für Europäische Geschichte Mainz, Abteilung für Universalgeschichte Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz
Ort
Mainz
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.09.2004 - 02.10.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Ulrike Plath, Mainz

Eine Bilanz der nationalen Historiographien im »kurzen« 20. Jahrhundert und ihres europäischen Potentials zu ziehen, war Anspruch und Impetus der Konferenz »Nationale Geschichtskulturen – Bilanz, Ausstrahlung, Europabezogenheit«, die das Institut für Europäische Geschichte in Zusammenarbeit mit der Akademie der Wissenschaften und der Literatur in Mainz ausrichtete. Gefördert wurde die Konferenz, die vom 30. September bis 2. Oktober 2004 in den Räumlichkeiten der Akademie und des Landtags Rheinland-Pfalz stattfand, von der Volkswagen-Stiftung Hannover.

Heinz Duchhardt, Direktor der Abteilung Universalgeschichte im Mainzer Institut für Europäische Geschichte, hatte für diese ambitionierte Fragestellung hochrangige Historiker aus neun Ländern Europas als Teilnehmer gewinnen können. Nach bewährtem Muster wurden die Sektionen zu Italien, Ungarn, Polen, den Niederlanden, Großbritannien und Frankreich von je einem Historiker aus dem betreffenden Land und einem deutschen Co-Referenten bestritten. Diese direkte Konfrontation der nationalen Innen- und der distanzierten Außenperspektive erwies sich aufgrund der unterschiedlichen Fragestellungen und Akzentuierungen als ausgesprochen anregend und ergab insgesamt ein breitgefächertes Bild der jeweiligen Geschichtskultur.

Im Unterschied zu dem von der European Science Foundation geförderten Projekt »Representations of the Past: National Histories in Europe« 1 richtete die Konferenz ihren Blick weniger auf die Entstehungsbedingungen und Interdependenzen der nationalen Geschichtsschreibungen, sondern fragte nach dem Übergang von den nationalen »Meistererzählungen« zu Formen der übernationalen Geschichtsschreibung und damit nach den Voraussetzungen und Zukunftsperspektiven einer europäischen Geschichtsschreibung. Die Vortragenden hatten damit Zweierlei zu leisten: die eigene Nationalhistoriographie unter neuen Fragestellungen zu betrachten und zugleich Zukunftsperspektiven für die historische Forschung zu entwickeln.

1. Italien
Das erste »transnationale Pärchen« bildeten Pierangelo Schiera/Trient und Wolfgang Schieder/Köln, die der italienischen Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts und ihrer Bewertung der beiden nationalen Kulminationspunkte – des Risorgimento und des Faschismus – nachgingen. Neben der Bedeutung der deutschen Historiographie für den nationalen Einigungsprozess skizzierte Schiera die Kontinuitäten und Brüche im italienischen Nationalbewusstsein bis hin zur Internationalisierung der italienischen Geschichtsschreibung nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Seiner These, Antifaschismus und Marxismus hätten die nationalen Denkmuster überwunden, widersprach Schieder vehement. Zwar sah er in den Gramsci-Thesen 2, in denen die gescheiterte Modernisierung Italiens nach der Einheit und das Versagen des egoistischen Bürgertums als Wegbereiter für den Faschismus entlarvt wurden, tatsächlich eine Möglichkeit, den italienischen Geschichtsdiskurs zu internationalisieren. Allerdings werde die notwendige Öffnung der Nationalhistoriographie nach wie vor durch die fehlende Bereitschaft der Historiker blockiert, den italienischen Faschismus nach europäischen Vorbildern aufzuarbeiten. Diese Angst vor dem Vergleich lasse die italienische Geschichtsschreibung am Ende des 20. Jahrhunderts nur wenig europäisch wirken.

2. Ungarn
Der europäische, genauer deutsche und französische Einfluss auf die Nationalgeschichtsschreibung war auch im Fall Ungarns, wie Ignác Romsics/Budapest aufzeigte, bis in die Zwischenkriegszeit hinein von großer Bedeutung. Doch nahm dieser historiographische Kulturtransfer mit der Expansion des Marxismus-Leninismus und seiner deutsch- und habsburgfeindlichen Ausrichtung ein jähes Ende. Nach 50 Jahren »Umweg« sei die ungarische Geschichtsschreibung nun wieder auf dem Weg der Normalisierung, wie Romsics die neuerliche Europabezogenheit der ungarischen Historiographie bezeichnete. Dagegen verwies Árpád von Klimó/Berlin auf die widersprüchliche Europabezogenheit der ungarischen Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, wie sie in der in ganz Ostmitteleuropa geführten Debatte um die Zugehörigkeit der Nation zum europäischen Westen oder ihrer Herkunft aus dem eurasischen Osten deutlich werde. In einem Vergleich der von Bálint Hóman und Gyula Szekfű in der Zwischenkriegszeit herausgegebenen »Geschichte Ungarns«3 mit dem marxistisch-leninistischen Großwerk »Geschichte Ungarns in zehn Bänden«4 erkannte von Klimó, im ersten Fall eine national-ungarische antifranzösische Abstiegserzählung und im zweiten Fall eine marxistische und dennoch grundlegend nationale Aufstiegserzählung, die sich mit der Perestrojka zunehmend transnationalen Vorstellungen öffnete. Am Fall Hóman-Szekfűs werde in europäischer Perspektive das »Paradox des Internationalismus des nationalen Geschichtsbewusstseins« deutlich. Die Multikulturalität des ungarischen Nationalstaates, die von außen immer wahrgenommen wurde, spiegelte sich in der Historiographie, wie die Diskussion verdeutlichte, allein in der ohnehin wenig national ausgerichteten Regionalgeschichte.

3. Polen
In die komplexe und heterogene polnische Geschichtsschreibung führten Jerzy Centkowski/Rzeszów und Klaus Zernack/Berlin ein. Beide Referenten verwiesen auf die innere Spaltung der Historiographie, die vor 1918 durch das Gegeneinander der positiven Warschauer und der pessimistisch-konservativen Krakauer Schule und nach der Unabhängigkeit des Staates durch den »piastischen« nach Westen und den »jagiellonischen« nach Osten blickenden Forschungsansatz bewirkt wurde. So heterogen sich die polnische Geschichtsforschung auch präsentierte, so produktiv war sie, gerade auch in der Adaption westlicher Vorbilder, wie etwa in der zeitgleich zu den Annales erfolgten Gründung der bis heute erscheinenden Zeitschrift »Jahrbücher für Sozial und Wirtschaftsgeschichte«.5 Trotz dieser europäischen Dimension war die Ausrichtung der polnischen Geschichtsschreibung, laut Zernack, dennoch eindeutig national, auch wenn sie im europäischen Vergleich eher den demokratischen und methodologischen offenen Historiographien zuzurechnen sei. Diese produktive Geschichtskultur erlebte mit dem Zweiten Weltkrieg und der sowjetischen Okkupation bittere personelle Verluste und methodische Einschränkungen. Unerwartet schnell konnte sich jedoch nach der Überwindung des Stalinismus Ende der 1950er Jahre erneut eine nationale Geschichtsschreibung mit einer »unpropagandistisch marxistischen« Note und erstaunlichem methodologischen Pluralismus etablieren. Im Gegensatz zu Centkowski sah Zernack die eigentliche Besonderheit der polnischen Geschichtsschreibung von der Zäsur der Sowjetzeit ungebrochen: Sie liege in ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der Geschichte der westlichen und östlichen Nachbarstaaten, durch die Polen zu einem wahrhaft europäischen Mittler werde.

4. Niederlande
Grundsätzlich anders als im Fall der wenig beachteten historiographischen Leistung Polens war die Lage in den Niederlanden. Hier begann man, wie Arnold Labrie/Maastricht herausarbeitete, nach dem Ersten Weltkrieg in einer eigenartigen Mischung aus Nationalstolz und Unsicherheit, die eigene europäische Mittellage nicht nur geographisch, sondern auch als mentale Grundgegebenheit zu betonen. Diese Selbststilisierung der Niederlande kann als Schutzreaktion der als gefährdet betrachteten Nation vor dem expandierenden Deutschland gedeutet werden. Auch wenn Ernst H. Kossmann in jüngster Zeit eine neue, selbstironische Sicht auf die niederländische Geschichte vorlegte 6, sieht Labrie den Mythos von den Niederlanden als Land der Mitte bis heute fortbestehen. Eingehend beschrieb Horst Lademacher/Münster diese nationale Fiktion anhand des fünfbändigen Werks »Nederlandse cultuur in Europese context« 7, das trotz seines Titels den europäischen Kontext vermissen lasse. Der Hang zur Harmonisierung der eigenen Geschichte wurde in der Diskussion mit Blick auf die fehlende Aufarbeitung der niederländische Kolonialgeschichte besonders deutlich. Die Voraussetzungen für diese diskursive Selbststilisierung bildeten, so Lademacher, eine gewisse Rückständigkeit gegenüber den angrenzenden Ländern und ein latentes historisches Schuldgefühl.

5. Großbritannien
Wie Robert Evans/Oxford deutlich machte, wurde in Großbritannien das Interesse an europäischen Themen zwar mit dem Ersten Weltkrieg geweckt 8, doch erfuhr die europäische Perspektive erst mit dem Ende des britischen Empires einen allgemeinen Aufschwung, der sich unter anderem in der Gründung der Zeitschrift »Past and Present« manifestierte. Seit dem Ende des 20. Jahrhunderts könne die britische Geschichtsschreibung einige wesentliche Studien zu (Ost)Europa vorweisen, doch zeige die in vier Nationalgeschichten aufgespaltene Geschichtsschreibung der Insel immer noch einen relativ geringen Europabezug auf. Peter Wende/Frankfurt unterstrich die Transformation der englischen Historiographie vor dem Hintergrund des niedergehenden Empires. Im historiographischen Revisionismus der Thatcher-Ära sei trotz gewisser Kontinuitäten der englischen sozialhistorischen Forschung die Thematisierung der sozialen Kosten der englischen nationalen Erfolgsgeschichte in den Hintergrund gerückt. Ausführlich diskutiert wurde die neue identitätsstiftende Negativfolie "Nazideutschland", welche die britische Historiographie nach dem Niedergang des Kommunismus konstruierte. Ob hinter dieser speziellen Form der englischen Europadistanz über die Abgrenzung von Deutschland ein für ganz Europa konstitutiv wirkender Gründungsmythos entstehe, blieb vorerst offen.

6. Deutschland
Einen Einblick in die deutsche nationale Geschichtsschreibung gab Winfried Schulze/München in seinem öffentlichen Abendvortrag im Wappensaal des Landtags Rheinland-Pfalz. Der Euphorie, mit der die deutschen Historiker nach dem Zweiten Weltkrieg aus der deutschen in die europäische Geschichte strebten und mit der 1959 die »planetarische Zukunft der übernationalen Geschichte« begrüßt wurde, stellte Schulze die Schwierigkeiten gegenüber, mit denen Historiker auf dem nach wie vor »verminten Gelände« zwischen Politik und Geschichte rechnen müssen. Die Geschichtswissenschaft bewege sich auf einem schmalen Grat zwischen politischer Verstrickung und dem Vorwurf, sich in den akademischen Elfenbeinturm zurückzuziehen. Nach Schulze ist der historische Europadiskurs bislang trotz aller Forderung und Förderung einer europäischen Öffentlichkeit eine rein akademische Übung, es fehle nach wie vor ein tragender europäischer »Gründungsmythos«, ein europäisches »Urereignis«. So könne der schwachbrüstige Europagedanke der nationalen Grundlagenforschung bislang keine Konkurrenz machen – ein vorschneller Ab- und Umbau der nationalen Strukturen zur Förderung der Geschichtswissenschaft in Hinblick auf Europa könne für das Fach schwerwiegende Folgen haben. Entgegen der Befürchtung, der Europadiskurs könne bereits längst von der Universalgeschichte überlagert worden sein, appellierte Schulze an die Pflicht der Historiker, den politischen Konsolidierungsprozess Europas historiographisch zu begleiten. Christoph Conrad/Genf gab zu bedenken, dass die Konstruktion Europas analytisch nicht mit den Konstruktionen der Nationalstaaten im 19. Jahrhundert gleichgesetzt werden dürfe, könnten solche Analogien doch schnell zur Konstruktion einer europäischen Identität durch die Ausgrenzung des Islams, Amerikas oder Asiens führen. Als bisher einzigen tragenden Faktor der europäischen Geschichte könne er das gemeinsame Negativbild des Holocaust erkennen.

7. Frankreich
In der letzten Sektion der Tagung wurde die nationale Geschichtskultur Frankreichs betrachtet. Gérald Chaix/Straßburg hob hervor, dass auch in Frankreich die Weltkriege zu einer neuen Methodendiskussion und zu einem verstärkten Interesse an der Geschichte der Nachbarländer führten. Dabei lag das Hauptinteresse weniger auf der Zeitgeschichte als auf der Untersuchung sozialer Phänomene, wie die Gründung der Annales und die Blüte der historischen Demographie nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen. Mit der Hinwendung von der Sozial- zur Kulturgeschichte verlor die pluralistische französische Geschichtsschreibung immer mehr ihren nationalen Ausgangspunkt und wurde europäischer, wobei Chaix in letzter Zeit einen gewissen Verlust an Wissenschaftlichkeit zu erkennen meint. Die Besonderheit der französischen Geschichtsschreibung zeichnete Rolf E. Reichardt/Mainz am Fall der Mentalitätsgeschichte nach, die mit ihrer Hinwendung zu quantifizierenden Methoden die Bastionen der marxistischen Geschichtsschreibung erstürmte und bis zum Ende der 1980er Jahre überaus populär war. Trotz ihrer Überwindung durch eine neue science sociale, die sich den Formen der Vergesellschaftung zuwendet, bleibe das quantitative Vorgehen nach wie vor eine wichtige Stütze methodenbewusster Kulturgeschichte, die jedoch keinesfalls auf qualifizierende Interpretationen repräsentativer Einzelstudien verzichten könne.

Abschließend betonte Ernst Schulin/Freiburg in einem Impulsreferat die Bedeutung der marxistisch-leninistischen Philosophie für die europäische Geschichtsschreibung und drängte auf eine stärkere Reflexion der Geschichtspolitik. Obwohl die europäische Geschichtsschreibung die Nationalgeschichte nicht ersetzen könne, sollte letztere sich doch weiter um eine verstärkte Einbeziehung der europäischen Perspektive bemühen. In der Abschlussdiskussion wurde gefordert, die Diskussion um die außerhalb der Geschichtswissenschaft befindlichen Momente der nationalen Geschichtskulturen, etwa um die historischen Kongresse, zu erweitern, und andere historische Teildisziplinen, wie Mediävistik und Wirtschafts- und Sozialgeschichte, einzubeziehen. Nur durch diese Erweiterung könne die ideengeschichtlich-nationalstaatliche Ausrichtung der bisherigen Diskussion überwunden werden. Nach Zernack könnte über eine Untersuchung der Regionen die in bislang ungerechtfertigter Weise gemiedene Zusammenschau von mediävistischer und moderner Nationenforschung erfolgen. Weiterhin wurde der methodische Apparat zur Diskussion gestellt. Genau möge zwischen historischem Vergleich, der das Nationale geradezu betone, und den Ansätzen der transnationalen Geschichtsforschung unterschieden und ihre jeweiligen Möglichkeiten und Grenzen ausgelotet werden. Wichtig erschien auch die Suche nach neuen, transnationalen Fragestellungen, wobei sich etwa die Untersuchung der Toleranz in Europa anböte. Gerade die Übergänge zwischen der nationalen, der europäischen und der Globalgeschichte müssten noch näher untersucht werden, wie Benedikt Stuchtey/London und Conrad mit Blick auf die Kolonialgeschichte hervorhoben. Zugleich dürfe man nicht verpassen, das jeweils Nationale hinter vordergründig übernationalen Geschichtskonzepten zu suchen. Zuletzt wurde die Frage nach der Verknüpfung von Geschichtsschreibung und den in ihr manifesten moralischen Wertvorstellungen aufgeworfen, die gerade für die neuzuschaffende europäische Geschichtsschreibung reflektiert werden müsse.

Die Konferenz zeigte einmal mehr, wie groß die spezifische Bandbreite der jeweiligen nationalen Geschichtsschreibungen ist. Die Diskussion um eine europäische Geschichtsschreibung steht freilich trotz diverser Ansätze erst am Anfang. Wie angekündigt, sollen die Beiträge der Konferenz in überarbeiteter Form bereits im nächsten Jahr in der Schriftenreihe der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur veröffentlicht werden.

Anmerkungen:
1 vgl. http://www.uni-leipzig.de/zhs/esf-nhist.
2 vgl. etwa Harald Neubert: Antonio Gramsci: Hegemonie – Zivilgesellschaft – Partei, Hamburg 2001.
3 Magyar történet [Geschichte Ungarns], hg. v. Bálint Hóman, Gyula Szekfű, Bd. 1-8 Budapest 1928-1933.
4 Magyaroszág története tíz kötetben [Geschichte Ungarns in zehn Bänden], Editionsleitung Zsigmond Pál Pach, Budapest 1978–1988.
5 Roczniki Dziejów Spolecznynch i Gospodarczych.
6 Ernst H. Kossmann: De Lage Landen, 1780-1980, Bd. 1–2, Amsterdam-Brussel 1976–1986.
7 Nederlandse cultuur in Europese context, Bd. 1–5, Den Haag 1999–2001.
8 Herbert Albert Laurens Fisher: A History of Europe, Bd. 1–3, Boston 1935–1936; Christopher Dawson: The Making of Europe: An introduction to the history of European unity, London 1932; ders.: Understanding Europe, London, New York 1952; Dennys Hay: Europe: The Emergence of an Idea, Edinburgh 1957.