Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts

Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts

Organisatoren
Janosch Steuwer / Rüdiger Graf, Ruhr-Universität Bochum
Ort
Bochum
Land
Deutschland
Vom - Bis
10.07.2014 - 12.07.2014
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Von
Hagen Stöckmann, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen

Die von Janosch Steuwer und Rüdiger Graf (beide Bochum) konzipierte Tagung „Selbstreflexionen und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts“ verfolgte eine doppelte Fragestellung. Einerseits nach dem Quellenwert von Tagebüchern für Historiker des 20. Jahrhunderts, andererseits nach der Genese und Entwicklung des Tagebuchschreibens selbst. Vom 10. bis 12. Juli 2014 versammelten sie HistorikerInnen und TagebuchforscherInnen an der Ruhr-Universität in Bochum um Tagebücher als wichtige Quelle der (zeit-)geschichtlichen Forschung näher zu untersuchen. Der Wandel – so Graf und Steuwer – des Tagebuchschreibens, vom schriftlichen Substrat eher formalisierter bürgerlicher Selbstreflektion eines vermeintlich kohärenten „Ichs“ hin zum Zeugnis klassenübergreifender multipler Perspektiven der eigenen Subjektivität verweist dabei auf einen tiefgreifenden Wandel von Subjektkulturen im 20. Jahrhundert. Gerade die Wahrnehmung einer als krisenhaft empfunden Gegenwart habe diaristisches Schreiben als Form der Kontigenzbewältigung aber auch Freizeitkultur im vergangenen Jahrhundert befördert. Während ältere Forschung Tagebücher – zumal „einfacher Leute“ – als zu subjektive Quellen abgelehnt habe, gerieten sie im Zug der kulturgeschichtlichen Wende seit den 1990er-Jahren vermehrt in den Blick. Welche Erkenntnisse und Einblicke die Erforschung von Diaristik als Gegenstand wie als Quelle für eine (Zeit-)Geschichte des 20. Jahrhunderts haben kann und wie die Geschichtsschreibung mit den Eigenheiten dieser Quelle zwischen Authentizitätsversprechen und Bruchstückhaftigkeit umgehen kann, waren dabei zentrale Fragen der Tagung.

Im ersten Panel loteten LI GERHALTER und BRIGITTE SEMANEK (beide Wien) die verschiedenen „Formen des Tagebuchs im 20. Jahrhundert“ aus. Gerhalter trat in ihrem Vortrag für eine offene Definition von Tagebüchern ein, die auch Kalender, Haushaltsbücher und weitere alltagsnahe Aufschreibesysteme umfasse. Zumal diese mit spezifischen Phasen der wahrgenommenen „Erlebnisdichte“ korrelierten, wie etwa Muttertagebücher oder Kriegstagebücher. Ein Beispiel für den Zusammenhang belastender Lebensphasen und dem Bedürfnis historischer Akteure, sich durch diaristisches Schreiben Erleichterung und Selbstvergewisserung in Phasen der Unsicherheit zu verschaffen, stellte Brigitte Semanek anhand von Tagebüchern der österreichischen Schriftstellerin Rosa Mayreder vor. Das Tagebuch diente Mayreder über weite Strecken als Stütze während der jahrelangen Pflege ihres kranken Ehemanns. In seinem Kommentar griff HABBO KNOCH (Köln) einige Aspekte heraus anhand derer man nach dem Quellenwert von Tagebüchern – über das rein Beschriebene hinaus – fragen könne. Inwiefern ist die angenommene Zunahme diaristischen Schreibens im 20. Jahrhundert etwa Symptom für das Bedürfnis nach Praxen der „self control“ und Selbstführungstechniken? Inwiefern hängt das Schreiben von Tagebüchern mit breiteren medialen Verschiebungen im 20. Jahrhundert zusammen und inwieweit handelt es sich bei der Diaristik um ein europäisches bzw. westliches Modell der Selbstkontemplation.

Das Vortragspapier von PETER FRITZSCHE (Urbana, Il) musste leider in dessen Abwesenheit verlesen werden. In seinem Kommentar ging MORITZ FÖLLMER (Amsterdam) auf die Besonderheiten der „selbstexplorativen Gattung“ Tagebuch ein. Göll - Teil der unteren Mittelschicht, Zeit seines Lebens alleinstehend und ohne Kinder – begriff sich selbst ob seiner geringen Größe und kompakten Körperlichkeit als „Kümmerform“ und beschreibt in seinen Tagebüchern den eigenen Lebensbogen als langsam aber stetig abfallende Kurve. Ein Vergleich mit Gölls Haushaltsbüchern zeigt jedoch, dass Göll durchaus an den Angeboten der Großstadt Berlin wie Theater und vor allem Kino, Freizeitkultur und Mode zu partizipieren verstand. Föllmer verwies auf die Multiperspektivität und Vielschichtigkeit diaristischen Schreibens und erkannte an dem Beispiel Gölls den Hang des Tagebuchsschreibers, schon selbst auf das eigene Leben eine Art Außenperspektive einzunehmen, die der Arbeit der HistorikerInnen in wertvoller Weise entgegenkomme.

In einem eigenen Panel mit Filmvorführung stellte der Autor und Regisseur JAN PETER (Leipzig / Berlin) seine international produzierte, achtteilige Serie „14 – Tagebücher des Ersten Weltkriegs“ vor, die auf Arte, weiteren öffentlich-rechtlichen Kanälen in Deutschland und Österreich sowie der BBC ausgestrahlt wurde. Im Gespräch mit Ulrike Weckel (Gießen) arbeitete Peter die Verweisstruktur des Programms heraus, das anhand von Tagebüchern zum Ersten Weltkrieg eine kontextualisierende Perspektive auf die Alltagswahrnehmung der Zeitzeugen einnehme. In der anschließenden Diskussion fand die Serie große Anerkennung, jedoch stieß das Nebeneinander aus fiktiven Spielszenen und aus dem Off vorgelesenem Tagebucheintrag auch auf Kritik. Gerade, wenn es um das Töten im Ersten Weltkrieg aber auch und vor allem um Kriegsverbrechen in Südosteuropa gehe, könne man sich als Zuschauer nicht des Eindrucks erwehren, dass das Medium angesichts dieser Gegenstände an seine Grenzen stoße, was auch die mitlaufende scheinbare Belegstruktur der Tagebucheinträge nicht überdecken könne.

Am zweiten Tag widmeten sich die TeilnehmerInnen einzelnen Fallbeispielen diaristischen Schreibens über die gesamte Spanne des 20. Jahrhunderts hinweg. JANOSCH STEUWER (Bochum) stellte sein Dissertationsprojekt zu Tagebüchern als Quelle für eine Geschichte des Nationalsozialismus vor und ging dabei insbesondere auf Strategien der Selbstaneignung der Schreibenden ein. Dabei sei festzuhalten, dass gerade die privaten Tagebücher eine fruchtbare Quelle für die Alltagsgeschichte des NS seien, während die Forschung bislang eher die – zumal mit propagandistischer Absicht geschriebenen – Tagebücher Goebbels‘ oder Speers im Blick gehabt habe. Gerade die Tagebücher aus Schulungslagern etwa böten Einblick in die Erfahrungswelten zeitgenössischer Akteure zwischen Aneignung, Überwältigung und Abgrenzung. SVEN DEPPISCH (München) arbeitete am Beispiel eines russischen Partisanentagebuchs heraus, wie Überlieferungen der bewaffneten Widerstandskämpfer im Zuge einer Art „Gegnerforschung“ durch SS und Polizei in der eigenen Schulungsarbeit als Anschauungsmaterial benutzt wurden. Dazu gab Deppisch zunächst einen Überblick über den Partisanenkrieg und die Besatzungspolitik in der Sowjetunion zwischen 1941 bis 1945 um daraufhin auf den Inhalt des Tagebuches selbst zu kommen. Der Schreiber nutzte das Tagebuch einerseits zur Selbstvergewisserung vor allem vor Angriffen auf deutsche Stellungen, allerdings auch als Medium der imaginären Kommunikation mit seinen Angehörigen in der Heimat. In seinem Kommentar ging BENJAMIN HERZOG (Bochum) auf die Hybridstruktur des Tagebuchs im Nationalsozialismus ein, das einerseits als Chronik der versuchten, tatsächlichen oder nur erhofften Gemeinschaftsbildung lesbar sei, aber auch Perspektiven auf Herrschaft eröffne oder – wie im Falle des Partisanentagebuchs – dieser Herrschaft selbst Perspektiven auf die Beherrschten ermöglicht habe.

Den Fokus auf den Krieg behielt das vierte Panel bei, in dem zunächst KATHRYN SEDERBERG (Ann Arbor, Mi) auf Brieftagebücher während und nach dem Zweiten Weltkrieg einging. Nachdem der Versand von Feldpost aus verschiedenen Gründen seit 1944/45 schwierig bis unmöglich geworden war, sei das Führen von Brieftagebüchern an Angehörige, deren Verbleib ungewiss war, ebenso verbreitet wie essenziell für die Trennungs- und Verlusterfahrungen vieler Deutscher gewesen. Dabei lasen die TagebuchschreiberInnen ihre eigenen Erfahrungen häufig in ein generationelles Narrativ des Verlusts, der Trennung und der gestörten (familiären) Kommunikation ein. KATJA HAPPE (Freiburg) richtete den Blick auf Tagebücher als Quelle über die Judenverfolgung in den Niederlanden zwischen 1940 und 1945. Nach den widersprüchlichen Kriterien der NS-Politik galten die Niederlande zwar als „germanisches Brudervolk“, doch entfaltete sich hier in den Jahren seit 1940 eine der mörderischsten Besatzungsdynamiken aller westeuropäischen Staaten. Happe fragte anhand bislang unbekannter Tagebücher nach dem Quellenwert dieses Mediums für die historische Arbeit und vertrat die These, dass sie allein sich nicht zur Formulierung allgemeiner Thesen eigneten, in der Konstellation mit anderen Quellen jedoch dabei helfen könnten, gängige Erklärungsmuster zu hinterfragen. In seinem Kommentar unterstrich DIRK VAN LAAK (Gießen) die Analysepotenziale von Tagebüchern, die eben nicht auf die Rekonstruktion der Ereignisgeschichte, sondern immer schon auf die Deutung dieser Ereignisse abzielten. Gleichzeitig verweise die anscheinende Zunahme von Tagebuchquellen über das 20. Jahrhundert auf die zeitgleiche Zunahme von Mitteilungsbedürfnissen in breiter Perspektive und die Zunahme von Synchronisationsversuchen zwischen Innen- und Außenwelt der DiaristInnen.

Mit „Neuen Arbeitswelten“ setzten sich JULIA SCHÜTTERLE (Berlin) und PETER-PAUL BÄNZIGER (Basel) auseinander. Anhand von Brigadetagebüchern beleuchtete Schütterle das Konzept des kollektivistischen Schreibens in Betrieben der DDR als Herrschaftstechnik des SED-Regimes. Aufgrund der mit der Zeit immer weiter zunehmenden Formelhaftigkeit eigneten sie sich zwar weniger als Quellen für die Alltagsgeschichte und den Eigensinn der DDR-Bürger gegenüber Erziehungszumutungen des Staates, erlaubten aber einen Einblick darin, wie sich das SED-Regime gelebte Kulturpolitik vorstellte. Dem Produktivitätsregime des Fordismus spürte Bänziger anhand ausgewählter Tagebücher nach und problematisierte dabei die These vom Tagebuch als genuin bürgerlichem Medium der Selbstreflexion. Vielmehr unterliege das Tagebuchschreiben selbst einem fundamentalen Wandel während des vergangenen Jahrhunderts. So nähmen beispielsweise Rekurse auf psychoanalytische, verhaltenstherapeutische und arbeitssoziologische Konzepte zum Zwecke der Selbstausdeutung zu und verwiesen auf die bislang nicht genügend beleuchtete starke Bedeutung sich verdichtender arbeitsökonomischer Strukturen für die Selbstidentifikation der historischen Akteure. WALTER SPERLING (Bochum) verwies in seinem Kommentar auf die fließende Grenze zwischen Herrschaft einerseits und dem Selbst der historischen Akteure andererseits, die auf die vielfältigen Ambivalenzen zwischen Aneignung und Abgrenzung im Alltag verweise.

Im sechsten Panel widmeten sich die Referenten „Alternativen Tagebüchern“ aus dem kulturellen Umfeld der 1968er-Bewegung. RÜDIGER GRAF (Bochum) konstatierte – ausgehend von dem Befund, dass Tagebücher bislang für die Geschichte von ’68 kaum herangezogen worden sind – eine Privatisierung des Poltischen. Neben Reflexionen über Politik und die Notwendigkeit der Veränderung nicht nur der Gesellschaft, sondern auch des eigenen Ichs verblüffe vor allem die Entschleunigung revolutionärer Praxen, die sich anhand der Tagebücher nachvollziehen lasse. Wenn man so will, vermittelten die diaristischen Zeugnisse einen ungewohnten Einblick in die „Langeweile der Revolution“, so Graf, die sich vor allem bei den Tagebüchern Che Guevaras feststellen lasse. Zudem unterschied Graf verschiedene Modi der Identifikation mit dem politischen Geschehen. So müsse etwa zwischen politischer Nähe der Akteure einerseits und habitueller Nähe andererseits unterschieden werden. Gerade im linken Milieu sei letztere ungleich einflussreicher bei der Gemeinschaftsbildung gewesen, als bloßer politischer Konsens. TILL KÖSSLER (Bochum) schlug analytische Schneisen für eine Geschichte der Schreibbewegungen und Schreibwerkstätten der 1980er-Jahre. Inspiriert von der Schreibbewegung in den USA und Konzepten des creative writings habe sich innerhalb des linken Milieus über Schreibwerkstätten eine selbstwahrgenommene Avantgarde revolutionärer Selbsterneuerung etabliert. Schreiben habe den Beteiligten in diesem Zusammenhang einerseits als „radikal utopische Selbstrevolutionierung“ gedient, gleichzeitig aber auch eine Form der Selbsttherapeutisierung gewesen mit der sich die Akteure im Modus der Selbstproblematisierung zeitweise mehr in persönliche Miseren hinein- als hinausgeschrieben hätten.

Das vorletzte Panel widmete sich drei Klassikern diaristischen Schreibens im 20. Jahrhundert. SYLKE KIRSCHNICK (Berlin) exemplifizierte anhand des Tagebuchs der Anne Frank ein grundsätzliches Dilemma der Tagebuchrezeption. Schon früh avancierte das Tagebuch der in Bergen-Belsen ermordeten 15-jährigen zu einer Art Stellvertreterzeugnis für Millionen getöteter europäischen Juden. Die Rezeption der Aufzeichnungen Anne Franks erlaube dem Leser zwar die Identifikation mit einer sympathischen Figur, verstelle aber dadurch zugleich den Blick auf unbekannte, unbequemere oder auch überlebende Opfern der Shoah. Anhand der Rezeptionsgeschichte des Tagebuchs in der DDR rekonstruierte Kirschnick verschiedene Konjunkturen der Thematisierung, Skandalisierung und Instrumentalisierung der Frankschen Aufzeichnungen über verschiedene Medien (Bühne, Kino, Fernsehen, graphic novel, Trickfilm) und Kanäle (Presse, Hörfunk, Internet) hinweg. WOLFGANG HARDTWIG (München) widmete sich den Tagebüchern Victor Klemperers und ging dabei insbesondere auch auf jene Bände ein, die gerade nicht aus der NS-Zeit stammen. Dabei konnte er zeigen, inwiefern Klemperers Erfahrungen im nationalsozialistischen Deutschland seine Wahrnehmungen der politischen Abschottung der DDR beeinflussten und inwiefern die Lektüre der Tagebücher nach 1945 unser Bild von Klemperer verändere. REINHARD MEHRING (Heidelberg) befasste sich mit den Tagebüchern Carl Schmitts. Schmitt, der zeitweise als sogenannter Kronjurist des „Dritten Reichs“ chargierte, gab sich in seinen Tagebüchern betont antibürgerlich und fasste dies unter der Chiffre des „Antiburibunkentums“ halb humoristisch, halb selbstexplorativ und folgte damit einer antibürgerlichen Dramatik des Selbstprotokolls, so Mehring. Gerade das eröffne den Blick auf das Tagebuchschreiben im 20. Jahrhundert in seiner Projekthaftigkeit einerseits, andererseits aber auch in seiner optativen und nicht in jedem Fall die „Realität“ abbildenden Funktion. CONSTANTIN GOSCHLER (Bochum) unterstrich in seinem Kommentar, dass es bei der Arbeit mit Tagebüchern weniger darum gehe, an eine etwaige Unmittelbarkeit der historischen Erfahrung heranzukommen, sondern vielmehr die Analyse von Konjunkturen der Selbstreflexion, der Selbstausdeutung und –rechtfertigung und deren Bedingungen im Mittelpunkt stehe.

MARCUS BÖICK und HANNE LESSAU (beide Bochum) schlossen die Tagung mit ihrem Panel zu Verhältnis zwischen „Tagebuch und Wissenschaft“. Böick stellte die sogenannte Umfragetagebücher als Medium und Quelle der soziologischen Transformationsforschung vor. Im Herbst 1990 hatte eine Forscherinnengruppe um Irene Dölling am Zentrum für Interdisziplinäre Frauenforschung der Humboldt-Universität zu Berlin diese Tagebücher über einen Zeitraum von drei Monaten von freiwilligen Schreiberinnen anfertigen lassen. Die Quellen zeigten, so Böick, einerseits die teilweise Spontanität rasanter individueller Anpassungsstrategien einzelner Akteurinnen, gäben aber auch Zeugnis ab quasi körperlich eingelesener Untergangswahrnehmungen. Lessau zeichnete die Entwicklung und Sammlungspolitik von Tagebucharchiven in den 1980er- und 1990er-Jahren nach. So führten mehrere und unabhängige Prozesse, wie etwa die Entwicklung der Alltagsgeschichte, private und individuelle Initiativen wie Kempowkis Sammlungsarbeit oder die Arbeiten Breloers zu einer Aufwertung der Perspektive der sogenannten „einfachen Leute“ und zur Zunahme auch des wissenschaftlichen Interesses an diaristischen Quellen, deren Ausdruck das Biographien-Archiv Kempowskis oder auch das Deutsche Tagebucharchiv in Emmendingen bei Freiburg sind. BENNO NIETZEL (Bielefeld) ging in seinem Kommentar ebenfalls auf den dringenden Historisierungsbedarf der Tagebuchproduktion im 20. Jahrhundert ein. Im Vergleich etwa zur Oral-history, bei der das exzeptionelle Ereignis und dessen Erinnerung dominierten, ermöglichten Tagebücher den Blick auf das „Normale“ des Alltäglichen.

Diaristisches Schreiben und Tagebuchproduktion sind gleich in zweifacher Hinsicht zentral für HistorikerInnen des 20. Jahrhunderts. Zum Einen als eine zentrale Quelle einer pluralen und durch Methodenvielfalt geprägten Geschichtswissenschaft nach der kulturwissenschaftlichen Wende, die in der Alltagsgeschichte sogenannter „einfacher Leute“ keinen nachgeordneten, sondern einen der wichtigsten Arbeitsgegenstände erkannt hat. Andererseits ist das Tagebuch, seine Verfertigung und deren Wandel selbst ein Phänomen, das in der Kulturgeschichte des 20. Jahrhundert verortet und hier kontextualisiert werden muss. Vor diesem Hintergrund war die Bochumer Tagung eine wichtige und überfällige, da sie die Produktion von Egodokumenten als ungeheuer wichtige Quelle der Geschichtswissenschaft immer als Praxis der Selbstveränderung interpretierte.

Konferenzübersicht:

Janosch Steuwer / Rüdiger Graf (Bochum), Begrüßung und Einführung

I. Formen des Tagebuchs im 20. Jahrhundert
Kommentar: Habbo Knoch (Köln)

Li Gerhalter (Wien), Variable Zusammenhänge. Materialitäten, Formen und Inhalte diaristischer Aufzeichnungen

Brigitte Semanek (Wien), Handschrift und Edition. Das Tagebuch der österreichischen Schriftstellerin Rosa Mayreder von 1918 bis 1934

II. Neue Tagebücher
Kommentar: Moritz Föllmer (Amsterdam)

Peter Fritzsche (Urbana, Il), Die multiplen Selbst des Franz Göll

Öffentliche Filmvorführung mit anschließender Diskussion
Erste Folge aus der ARD/ARTE-Filmreihe "14 Tagebücher des Ersten Weltkriegs" (2014)
Diskussion mit dem Regisseur Jan Peter
Leitung: Ulrike Weckel (Gießen)

III. Tagebuch und NS-Diktatur
Kommentar: Benjamin Herzog (Bochum)

Janosch Steuwer (Bochum), „Weltanschauung mit meinem Ich verbinden". Tagebücher im nationalsozialistischen Erziehungsprojekt

Sven Deppisch (München), Missbrauchte Erinnerung. Das Tagebuch eines Partisanen als Ausbildungsgegenstand für Hitlers Mordeinheiten

IV. Tagebücher im Krieg
Kommentar: Dirk van Laak (Gießen)

Kathryn Sederberg (Ann Arbor, Mi), Rubble Texts: Writing and Narrating Defeat, 1942-1949

Katja Happe (Freiburg), Tagebücher zur Judenverfolgung in den Niederlanden 1940-1945

V. Neue Arbeitswelten
Kommentar: Walter Sperling (Bochum)

Julia Schütterle (Berlin), Brigadetagebücher in der DDR

Peter-Paul Bänziger (Basel), Der betriebsame Mensch. Tagebuchschreiben im Fordismus.

VI. Alternative Tagebücher
Kommentar: Ulrike Schaper (Berlin)

Rüdiger Graf (Bochum), Die Privatisierung des Politischen. Tagebücher 1968

Till Kössler (Bochum), Die Schreibbewegung der 1980er-Jahre

VII. Tagebuchklassiker
Kommentar: Constantin Goschler (Bochum)

Sylke Kirschnick (Berlin), Anne Frank Rezeption in der DDR

Wolfgang Hardtwig (München), Der unbekannte Klemperer. Victor Klemperer in der Weimar Republik und DDR

Reinhard Mehring (Heidelberg), „Antiburibunkentum buribunkisch“. Der antibürgerliche Diarist Carl Schmitt in seinem Verhältnis zum Tagebuch: Bedenken, Antistrategien, formgeschichtliche Praxis

VIII. Tagebuch und Wissenschaft
Kommentar: Benno Nietzel (Bielefeld)

Marcus Böick (Bochum), Die Wende 1989/90, die Transformationsforschung und das Tagebuch

Hanne Lessau (Bochum), Sammlungsinstitutionen des Privaten. Die Entstehung von Tagebucharchiven in den 1980er- und 1990er-Jahren


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