HT 2014: Close Reading and Distant Reading. Methoden der Altertumswissenschaften in der Gegenwart

HT 2014: Close Reading and Distant Reading. Methoden der Altertumswissenschaften in der Gegenwart

Organisatoren
Veranstalter: Verband der Historiker und Historikerinnen Deutschlands (VHD); Verband der Geschichtslehrer Deutschlands (VGD)
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.09.2014 - 26.09.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Charlotte Schubert, Historisches Seminar, Universität Leipzig

Alle Beiträge der gut besuchten Sektion, die auch in den Social Media ein lebhaftes Echo fand, stellten verschiedene Ansätze aus den Bereichen der Altertumswissenschaften vor, die sich mit Methoden der Digital Humanities beschäftigen. Sie gehören zu der Arbeitsgemeinschaft „Digital Humanities in den Altertumswissenschaften“ der Mommsen-Gesellschaft e.V. und greifen, wie Tanja Scheer (Göttingen) und Charlotte Schubert (Leipzig) in der Einführung betonten, spezifisch altertumswissenschaftliche Zusammenhänge auf. Aktuelle Methodendiskussionen aus diesem neuen Feld thematisieren neue Repräsentationsformen von Texten und Objekten, deren praktische und epistemische Auswirkungen in den Altertumswissenschaften noch wenig diskutiert worden sind.

Ausgangspunkt können die von Franco Moretti so eindrücklich als ‚distant reading’ beschriebenen Auswirkungen von quantitativen Analysemodellen in Verbindung mit graphischen Visualisierungen sein. Unter dem Schlagwort ‚distant reading’ sind neue Möglichkeiten diskutiert worden, aus der schieren Menge von Daten durch die Anwendung algorithmenbasierter Auswertung mit den Methoden etwa des Textmining, des Clusterings oder des Topic Modeling neue Zusammenhänge aus sehr großen Text- und Datenmengen zu erkennen.1 Komplexitätsreduktion, Visualisierung und exploratives Experimentieren haben aber auch auf ganz neue Fragen geführt, von denen nicht zuletzt die Qualität der zugrunde gelegten Daten eine wesentliche ist. Diese prägnanten Ausführungen zur Taxonomie der Formen in Morettis Graphs, Maps, Trees lassen sich verallgemeinern und auch auf ganz andere Visualisierungsformen übertragen, die nicht nur für das neue Feld der Digital Humanities aufgrund ihrer Verbindung ganz unterschiedlicher disziplinärer Traditionen von Bedeutung sind. Die Frage, die dabei im Vordergrund steht, ist: welche Art von Information wird verwendet, wie wird sie verarbeitet, welche Formalisierungen werden eingesetzt und vor allem, welche impliziten Bedeutungen werden mitgetragen sowie schließlich, wie verhält sich dieser Ansatz zu dem close reading, wie es sich bspw. in der traditionellen, historisch-philologischen Textanalyse etabliert hat?

Mit distant reading, Komplexitätsreduktion, Visualisierung, Vernetzung und explorativem Experimentieren sind die wichtigsten methodischen Bausteine beschrieben, die die Vorträge der Sektion verbinden.

CHRISTOPH SCHÄFER (Trier) und WOLFGANG SPICKERMANN (Graz) haben in ihrem Beitrag speziell die Visualisierung von räumlichen und zeitlichen Veränderungen von „Objekten“ und „Vorgängen“ und die Möglichkeit, historische Prozesse und Entwicklungen abzubilden thematisiert und am Beispiel des Adaptiven Interaktiven Dynamischen Atlas der Geschichte (AIDA) vorgestellt. AIDA ist ein seit 2008 bestehendes Projekt mit dem Ziel der Entwicklung eines datenbankgenerierten, dynamischen und adaptiven Atlas zur Geschichte Europas und des Mittelmeerraumes für Bildung und Forschung. Dynamische Karten ermöglichen die Visualisierung von räumlichen und zeitlichen Veränderungen von „Objekten“ und „Vorgängen“ und vermitteln damit historische Prozesse und Entwicklungen. Hierfür wurden unter Anderem große Datenbestände zur Infrastruktur in den germanischen Provinzen Roms erschlossen, welche als die Grundlage für eine Studie zur Rekonstruktion des vernetzten Alltagslebens an der Grenze des römischen Reiches dienen, zum Vergleich aber auch mit vorhandenen Datenbanken aus der mittelalterlichen und neueren Geschichte experimentiert. Mit Hilfe der Webble-Technologie (WEB-Based Life-like Entities) ist es möglich diese mit öffentlich zugänglichen (z.B. den großen Münz- und Inschriftendatenbanken) sowie weiteren lokalen Datenbanken (z.B. der Datenbank zu Heiligtümern in den Nordwestprovinzen) zu verbinden. Auf dieser Datenbasis kann nun ein detailliertes Bild des Alltags am germanischen Limes, der Beziehungen der unterschiedlichen diesen bedingenden Systeme, sowie deren Transformationen erarbeitet werden. Durch den Einsatz von Webble ist nicht nur die Integration unterschiedlichster verteilter Datenquellen möglich, sondern auch die dynamische Nutzung verschiedener Werkzeuge zur Geo- und Netzwerkanalyse. Durch diese Kombination bestehender, jedoch bis dato noch nicht verknüpfter digitaler Analyseverfahren können neue Fragestellungen und Perspektiven generiert werden. Dabei geht es vor allem um neue Arten der Hypothesenbildung, Perspektivenverschiebung durch die Genese explorativer Räume sowie die Visualisierung komplexer Räume, die rein textuell nicht in gleichem Maße umsetzbar sind.

MARTIN LANGNER (Göttingen) zeigte, wie eine digitale Benutzerführung durch Virtualisierung ermöglicht wird. Er schlägt am Beispiel archäologischer Datenbanken vor, diese Daten durch verstärkte Anstrengungen zur Kontextualisierung und Vernetzung in der Art eines Virtuellen Museums zu präsentieren. Große archäologische Datenbanken wie ARACHNE oder die Vasendatenbank des Beazley-Archives versammeln eine unüberschaubare Zahl an Monumenten. Der digitale Zettelkasten ist aber so angewachsen, dass eigentlich nur gefunden werden kann, was explizit gesucht wird. Große Ergebnismengen sind hingegen abschreckend. Daher sind verstärkte Anstrengungen zur Kontextualisierung und Vernetzung der Daten vonnöten. Neue Methoden der Userführung (wie faszettierte Suche, Methoden der Individualisierung und Interaktion etc.) könnten einen Ausweg aus dem Dilemma bilden. Sein Vorschlag wäre daher, durch die Rekonstruktion einer Biografie der Objekte in Zeit, Raum und Materialität / Körperlichkeit den Datenbanken Narrative zu verschaffen. Am Beispiel des Projekts „EsteVirtuell: Die Skulpturensammlung Obizzi / Este und Franz Ferdinands von Habsburg als Virtuelles Museum“, einem Kooperationsprojekt mit dem Kunsthistorischen Museum Wien, wurde dies anschaulich vorgeführt. Die 494 bislang weitgehend unpublizierten Skulpturen sollen nicht nur in einer Katalogdatenbank aufbereitet, sondern auch als 3D Scans in einem Virtuellen Museum präsentiert werden, das die Aufstellungen von 1803 im Palazzo Catajo bei Padua und von 1904 im Palais Modena in Wien rekonstruiert und so zwei für ihre Zeit typische Präsentationen antiker Skulptur in ihrer Wirkung erfahrbar macht. Zugleich wird versucht, durch Formen des creative browsing in der Art eines Museumsbesuchs eine stärkere Bindung des Users an die Datenbank zu erreichen.

DIETA-FRAUKE SVOBODA (Tübingen) erläuterte am Beispiel der Reisen des Orientalisten Julius Euting, wie Raum, Zeit und Objekt in einem gemeinsamen Interface ohne Medienbruch visualisiert werden können und so einen vielfältigen Zugriff auf die Tagebücher des Forschers zulassen. Ende des 19. Jahrhunderts bereiste Euting mehrmals den Vorderen Orient, um sich der Erforschung und Aufzeichnung vorislamischer Denkmäler und Inschriften zu widmen. In seinen Tagebüchern finden sich zahllose Beschreibungen, Skizzen, Aquarelle und Karten, der von ihm besuchten Orte und Monumente. Sämtliche handschriftlichen Aufzeichnungen Eutings befinden sich in der Tübinger Universitätsbibliothek und wurden 2013 anlässlich seines 100. Todestages digitalisiert und der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Ziel des vorgestellten Projektes des Tübinger eScience-Centers ist es, sämtliche Quellen und Objekte über einen gemeinsamen Einstieg digital erfahrbar zu machen. Als technische Basis dient das an der Universität von Virginia entwickelte „Neatline“, das ein komplexes Content-Management-System zur Verwaltung und Anzeige von Texten, Karten und Bildern aus geisteswissenschaftlichen Kontexten darstellt. Dem Nutzer ist es so möglich, parallel zur Handschrift und dem transkribierten Text den Weg Eutings auf der Karte zu visualisieren. Als Kartenmaterial stehen neben den herkömmlichen Kartendiensten wie Google-Maps auch historisches Kartenmaterial sowie die georeferenzierten Karten aus den Tagebüchern zur Verfügung. So lassen sich neben der Reiseroute auch die topographischen Veränderungen der letzten 150 Jahre anschaulich aufzeigen. Sowohl mit Text als auch mit den räumlichen Informationen sind die Zeichnungen der von Euting beschriebenen archäologischen Monumente und Inschriften verbunden. Diese werden durch aktuelle Fotografien und Literaturangaben ergänzt. Die Reise Eutings lässt sich aber nicht nur über Text und Karte sondern auch über einen Zeitstrahl verfolgen, der es dem Nutzer ermöglicht, sich datumsgenau der Route zu nähern. Somit stehen drei unterschiedliche Zugriffsmöglichkeiten auf die Aufzeichnungen zur Verfügung.

WERNER RIESS (Hamburg) stellte das Hamburger Informationssystem zur Gewalt in der griechisch-römischen Antike (ERIS) vor. Verschiedenartigste Facetten der Gewaltausübung, die antiken Textstellen entnommen werden können, werden in Form von Objekten, Kategorien und „Informationen“ multirelational so miteinander vernetzt, dass sich Semantiken der Gewalt epochen- und genreübergreifend erkennen und zum ersten Mal visuell darstellen lassen. In einem ersten Schritt des Projekts soll das Material mit Hilfe soziologischer Parameter erschlossen werden. Interpersonelle Gewalt in all ihren Ausprägungen ist als Forschungsfeld verschiedener Wissenschaftszweige hochaktuell. Trotz des Reichtums an Quellen für jede historische Epoche sind übergreifende Strukturen der Gewaltausübung nur begrenzt erkennbar, die bislang vorliegenden Forschungsergebnisse diachron und regional disparat. In der griechisch-römischen Kultur war Gewalt ubiquitär. Um den Zugang zur Antike zu erleichtern, entsteht an der Universität Hamburg derzeit das MyCore-basierte Informationssystem ERIS: Hamburg Information System on Greek and Roman Violence. Darin sollen alle Gewaltbeschreibungen, die sich in den Werken griechischer und lateinischer Autoren finden, aufgenommen und mit spezifischen Kriterien versehen werden. Alle Passagen, die interpersonelle Gewalt beschreiben, sollen einer einfachen wie einer erweiterten Suche zugänglich gemacht werden. Neben den offensichtlichen Merkmalen wie Autor, chronologischer Einordnung von Werk und Inhalt, werden viele weitere Eigenschaften von Gewaltakten erfasst. Diese betreffen unter anderem die Kontexte, Motive, geographischen Verortungen, den sozioökonomischen Status und das Alter der jeweiligen Akteure sowie die Folgen eines Gewaltaktes im weitesten Sinne von unmittelbaren Gegenreaktionen bis hin zu gesetzgeberischen Maßnahmen. Durch eine feine Aufgliederung dieser Merkmale von Gewaltakten wird eine zielgerichtete Suche bei größtmöglicher Benutzerfreundlichkeit ermöglicht. Die zweisprachige Präsentation jeder Quellenstelle auf Griechisch bzw. Latein sowie auf Englisch macht die Datenbank für ein breites Publikum nutzbar: während die altsprachlichen Texte für Fachwissenschaftler unverzichtbar sind, öffnen die englischen Übersetzungen die antiken Quellen der internationalen Forschergemeinde. Die Suchkriterien sollen neben den Geschichtswissenschaften und den Philologien vor allem die Politik- und Sozialwissenschaften ansprechen. Die freie Zugänglichkeit der Inhalte (open access) sowie das breite Spektrum der verfügbaren Informationen sollen außerdem dazu beitragen, die Antike verstärkt ins Blickfeld anderer Disziplinen zu rücken.

ANDREAS HARTMANN (Augsburg) und SABINE THÄNERT (Berlin) gingen in ihrem Beitrag auf den methodischen Aspekt semantischer Vernetzung von genreübergreifenden, multirelationalen Datenbanken ein. Sie stellten Visualisierungsmöglichkeiten vor (Graphen bzw. Tag Clouds), die einen neuartigen Zugriff des Benutzers auf bibliographische Informationen ermöglichen. In einem gemeinsamen Projekt wurden die Datenbestände der „Gnomon Bibliographischen Datenbank“ (GBD) und des ZENON (Deutsches Archäologisches Institut) zusammengeführt und ausgewertet. Dabei werden insbesondere die in Thesauri und Schlagwortketten enthaltenen strukturierten Informationen zur Visualisierung von Wissenskontexten durch Graphen bzw. Tag Clouds genutzt, die wiederum einen neuartigen Zugriff des Anwenders auf bibliographische Informationen ermöglichen. Die Vernetzung mit der Objektdatenbank ARACHNE zeigt außerdem Potentiale einer Vernetzung von Literatur und Quellendatenbanken auf. Die Erstellung eines semantischen Netzes führt zu einer multirelationalen Erschließung des Fachvokabulars (im Gegensatz zur selektiv-hierarchischen Gliederung in Thesauri), die auch für die computergestützte Auswertung unstrukturierter Daten (z.B. Volltexte) nutzbar gemacht werden könnte (Identifizierung genannter Personen, Orte und Konzepte aufgrund bekannter semantischer Zusammenhänge). Da das semantische Netz aus dem jeweils aktuellen Datenbestand neu errechnet wird, passt es sich zudem dynamisch an veränderte Fragestellungen und Themenschwerpunkte der Forschung an. Damit kann es besser als klassische Thesauri, die weitgehend statische Wissenstopologien darstellen, den Erfordernissen einer forschungsorientierten Fachinformation entsprechen. Schließlich soll reflektiert werden, warum ein solcher Ansatz dennoch die traditionelle Sacherschließung nur zu ergänzen, aber nicht zu ersetzen vermag.

Der Vortrag von ALEXANDER WEISS (Leipzig) zeigte, welche Möglichkeiten sich aus der graphischen Visualisierung quantitativer Auswertungen mit Hilfe der Methoden aus dem Information Retrieval (insbesondere des Textmining wie es mit Hilfe der Tools des Leipziger Portals eAQUA2 für die antiken Textcorpora etabliert worden ist) sowie aus den damit verbundenen Änderungen der Wissensrepräsentation ergeben. Das Ziel der vorgestellten Analyse ist es, Einsatzmöglichkeiten der automatischen Zitationsanalyse für Autoren mit umfänglichen Werken – hier die „Stromateis“ des Clemens Alexandrinus und die „Moralia“ des Plutarch – zu testen, um anhand des Vergleichs der Arbeitsweise deren Verankerung in kulturellen Praktiken zu erschließen; das Vorgehen basiert auf der Hypothese, dass es spezifische Muster des Zitierens gibt und diese Ausdruck einer zeitgenössisch geprägten Praxis sind. Auf dieser Basis zeigte Alexander Weiß, dass Werke wie eben die „Stromateis“, die man bisher eher der sogenannten Buntschriftstellerei zugeordnet hatte als einem regel- und konzeptbasierten Genre, mehr zu den enzyklopädischen, als Ausdruck einer Wissensordnung angelegten Gattungen gerechnet werden sollten. Daran anknüpfend lässt sich die These formulieren, dass sowohl Plutarch als auch – und dies vor allem ist bislang noch nicht erwogen worden – der christliche Autor Clemens von Alexandrien in den Kontext der Literatur der sogenannten Zweiten Sophistik zu stellen sind. In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn die beiden Autoren hier als ‚Sophisten’ bezeichnet werden.

Als Fazit läßt sich festhalten, dass die altertumswissenschaftlichen Digital Humanities-Projekte nicht nur ganz grundsätzliche Aspekte wie Selektion und Komposition von Informationen sowie die Frage nach den Auswirkungen von Schematisierung und Reduktion thematisieren, auch wesentliche Beiträge zu den drängenden Fragen leisten, die sich aus den unterschiedlichsten Standards und Datenformaten oder der digitalen Repräsentationsform von Texten und Objekten ergeben und schließlich darüber hinaus neue Perspektiven für altertumswissenschaftliche Fragestellungen erschließen.

Sektionsübersicht:

Sektionsleitung: Tanja Scheer (Göttingen) / Charlotte Schubert (Leipzig)

Christoph Schäfer (Trier) / Wolfgang Spickermann (Graz), Vernetzter Alltag in den Germanischen Provinzen - Ein AIDA Projekt

Martin Langner (Göttingen), Archäologische Datenbanken als virtuelle Museen

Dieta-Frauke Svoboda (Tübingen), Ein Schwabe im Orient – auf den Spuren von Julius Euting

Werner Rieß (Hamburg), Eris. Hamburger Informationssystem zur Gewalt in der griechisch-römischen Antike

Andreas Hartmann (Augsburg) / Sabine Thänert (Berlin), Vom Thesaurus zum semantischen Netz: Potentiale von Data Mining in bibliographischen Datensätzen

Alexander Weiß (Leipzig), Clemens von Alexandria: Textmining-gestützte Beobachtungen zur Arbeitsweise eines „Sophisten“

Anmerkungen:
1 Franco Moretti, Graphs, Maps, Trees, London/New York 2007.
2 Siehe die Homepage: <www.eaqua.net>.


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