Lobbying – die Vorräume der Macht. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Lobbying – die Vorräume der Macht. Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte

Organisatoren
Gisela Hürlimann, Zürich; Anja-Rahmann-Lutz, Basel; André Mach, Lausanne; Janick Marina Schaufelbuehl, Lausanne; Schweizerische Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Ort
Bern
Land
Deutschland
Vom - Bis
06.06.2014 -
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Von
Marcel Brengard, Universität Zürich

Im Zuge der Debatte um die Transparenz der Schweizer Demokratie steht Lobbying zunehmend in der Kritik und wird mit einer einseitigen und dementsprechend undemokratischen Einflussnahme mächtiger Wirtschaftsverbände assoziiert. An der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Wirtschafts- und Sozialgeschichte (SGWSG) nahm man sich diesem Thema an und versuchte die populäre Zuschreibung zu hinterfragen, indem man neben den klassischen Wirtschaftsverbänden auch eher neuere Interessensvertretungen, wie jene der Homosexuellen oder der Umweltschützer, in den Fokus nahm. Ziel war es, die ganze Breite der Forschung von Historiker/innen und Politikwissenschaftler/innen zum Lobbying in der Schweiz abzubilden, von kulturwissenschaftlichen Ansätzen bis hin zu quantitativen Studien.

In der einleitenden Keynote Lecture widmete sich der Politologe PEPPER CULPEPPER (Florenz) dem klassischen Lobbying von Unternehmen und fragte, wann und wie Firmen und Verbände Einfluss auf die Politik ausüben können. Entscheidend ist laut Culpepper, dass die Öffentlichkeit bei vielen Fragen wegschaut. Sobald ein Gegenstand Publizität erhält und öffentlich diskutiert wird, müssen sich die politischen Parteien positionieren und dementsprechend wird auch bei ihnen die Entscheidung gefällt. Bei weniger salienten Themen halten sich die Parteien zurück, da sie sich damit kaum profilieren können. Das wiederum lässt Platz für andere Akteure wie Verbände und Unternehmen, welche die relevanten Akteure mit ihren Informationen versorgen und Druck ausüben können.

Wirtschaftsverbänden und Unternehmen gelingt es im Vergleich mit anderen Lobbys allerdings besonders gut, sich im politischen Prozess Gehör zu verschaffen. Culpepper führt dies einerseits auf die Komplexität der Ökonomie zurück und andererseits darauf, dass sich die Politiker/innen davor fürchten, Entscheidungen zu treffen die den Interessen dieser Wirtschaftsakteure zuwiderlaufen. Denn die Unternehmen schaffen Arbeitsplätze und deren Verlust ginge mit einer sinkenden Popularität der verantwortlichen Politiker einher. Gerade in der vielschichtigen und unberechenbaren Wirtschaft übernehmen Politiker deshalb nur zu gerne die Position der Wirtschaftsverbände, um so die Verantwortung für eine allfällige ökonomische Misere von sich weisen zu können.

Der Politologe konstatierte weiter, dass die Interessen von Unternehmen nicht deckungsgleich mit jenen ihrer Verbände seien, sondern sich stark von diesen unterscheiden können. Zudem nehmen die Unternehmen nicht nur über die Interessensverbände Einfluss in die Politik, sondern auch direkt als unabhängige Akteure. Insbesondere multinationale Großunternehmen üben neben instrumenteller Einflussnahme in Form von Lobbying auch zunehmend strukturelle Macht aus. Denn diese Firmen sind in vielen Ländern Motoren des Wirtschaftswachstums, das heißt sie bringen Arbeit und Steuereinnahmen. Global aufgestellte Unternehmen sind allerdings kaum an nationale Grenzen gebunden und können ihre Produktionsstätten und Zentralen mit relativ geringen Kosten in andere Länder verlagern. Mit dieser „outside option“ haben Firmen ein mächtiges Drohinstrument zur Hand um unliebsame Gesetze, Steuern und Beschränkungen zu verhindern. Denn die wenigsten Politiker wollen für den Wegzug von großen Arbeitgebern verantwortlich gemacht werden und lenken dementsprechend zu Gunsten der Unternehmer ein. Strukturelle Macht ist zudem nicht mehr an die Salienz von Themen gebunden, denn sie bleibt auch bei zunehmender Öffentlichkeit bestehen. Culpepper demonstrierte dies eindrücklich anhand der unterschiedlichen Bail-outs bei amerikanischen und britischen Großbanken. Denn während britische Banken aufgrund des begrenzten einheimischen Marktes internationaler aufgestellt sind, sind die US-Geldinstitute viel stärker vom amerikanischen Markt abhängig. Dementsprechend hatten die englischen Banker mehr strukturelle Macht und konnten eine staatliche Intervention weitgehend abwenden.

Im Anschluss präsentierten sowohl arrivierte Forscher/innen als auch Doktorand/innen ihre laufenden Arbeiten in sechs separaten Panels. Im ersten Panel widmete man sich dem Lobbying in der Vormoderne, womit sich zugleich die Frage stellte, was man überhaupt unter Lobbying zu verstehen hat. Die Herangehensweisen über Personenkonstellationen und Medien stellten sich als besonders fruchtbar heraus, wenn auch die Gleichsetzung von ‚Freundschaft’ und ‚Verwandtschaft’ mit Lobbying kritisch hinterfragt wurde. Denn man läuft dadurch Gefahr, nur zu schnell in ein Narrativ von „vormodernen Zuständen“ in der Gegenwart zurückzufallen, das die methodischen Anregungen verdecken würde, welche die Vormodernehistoriker/innen der Zeitgeschichte zu bieten haben.

Im zweiten Panel wurden anhand von verschiedenen Beispielen die Lobbyingstrategien von Wirtschaftsverbänden unter die Lupe genommen. An der Sozialen Käuferliga der Schweiz (SKL) wurde beispielsweise aufgezeigt, wie sich mit dem Betreten der Handlungsebene der Legislative, und somit mit dem Beginn der eigentlichen Lobbying-Tätigkeit, ein Wandel in der Zielsetzung der Liga feststellen lässt. Beschränkte man sich anfangs auf ‚Käufererziehung’, rückte man nun vom ursprünglichen Freiwilligkeitspostulat ab und versuchte stattdessen durch Gesetze auf die Konsument/innen einzuwirken. Sehr interessant war auch der Ansatz von ROMAN WILD (Zürich), die „kommunikativen Vorräume der Macht“ anhand der komplexen Aushandlungen unter Einbezug der Verbandssekretäre – den Archetypen moderner Lobbyisten – zu untersuchen und damit wirtschaftliche und diskursive Praktiken zu verbinden.

Nicht alle Beiträge hatten die methodischen und theoretischen Fragen der Tagung gleichermaßen im Blick. Insbesondere im dritten und vierten Panel zeugten zwar diverse Vorträge wie zum Beispiel zum Hochwasserschutz, dem öffentlichen Verkehr oder den Frauen- und Invalidenbewegungen von genauer Quellenkenntnis, ließen sich aber kaum auf kontroverse Thesen hinaus.

Im fünften Panel wurde der Weg von der Interessensgruppe zum Gesetz beleuchtet. MANUEL DUER (Zürich) befasste mit dem Effekt der Referendumsdrohung in der direkten Demokratie auf das Patentgesetz in der Schweiz. Er konnte zeigen, wie die Drohung einer Volksabstimmung zerstrittene Akteure zurück an den Verhandlungstisch bringen kann. Im Gegensatz zu der gut vernetzten und organisierten Pharmalobby war es für die Aktivisten der Homosexuellenbewegung ungleich schwieriger ihre Interessen in den Gesetzgebungsprozess einzubringen. THIERRY DELESSERT (Lausanne) verwies in seiner Präsentation auch auf die Bedeutung von landesweiten Kundgebungen, ohne die es wohl kaum gelungen wäre, die Brücke zu Politikern mit Entscheidungsbefugnissen zu schlagen und damit den gleichgeschlechtlichen Akt vollständig zu legalisieren.

Im sechsten Panel präsentierten die Politologen um STEVEN EICHENBERGER (Lausanne) ihr empirisch hervorragend fundiertes Paper über die Veränderung des Einflusses von Interessengruppen seit der formellen Stärkung des schweizerischen Parlaments zu Beginn der 1990er-Jahre. Sie konnten dabei nicht nur eine Stärkung der parlamentarischen im Gegenzug zur vorparlamentarischen Phase aufzeigen, sondern auch eine wachsende Bedeutung von Parteien auf Kosten der Interessensgruppen. Diese Verschiebung sei allerdings nur eine vordergründige, nehmen die Interessensgruppen heute doch verstärkt über die Parteien Einfluss in den Gesetzgebungsprozess. Darüber hinaus zeige sich eine Pluralisierung der Interessensgruppen, weg von klassischen Wirtschaftsverbänden hin zu „postmaterialistischen“ Gruppen, welche öffentliche statt Partikularinteressen vertreten. Diese und andere Interpretationen der empirischen Ergebnisse wurden anschließend zusammen mit den beiden anderen Präsentationen über zwei der mächtigsten Akteure in der Schweizer Wirtschaftspolitik diskutiert.

Was der Tagung vielleicht fehlte war eine Historisierung des Begriffs ‚Lobbying’ und dessen zunehmend pejorativer Konnotation. Dennoch zeigte sie eindrücklich, wie vielschichtig das Phänomen der politischen Interessensvertretung ist, aus welch unterschiedlichen Perspektiven man es erforschen kann und machte deutlich, dass Lobbying ein essentieller Bestandteil der Schweizer Demokratie ist. Während Wirtschaftsverbände und Unternehmen traditionell gut vernetzt sind und ihre Anliegen schon seit langem in die Politik einbringen konnten, war der Weg bis hin in die Vorräume der Macht für andere Gruppierungen und Bewegungen jedoch immer wieder mit Hindernissen gespickt. Wie Eichenberger et al. aber aufzeigten, haben es in der Schweiz immer mehr Interessensgruppen geschafft, sich Gehör zu verschaffen und sich in den politischen Prozess einzubringen. Lobbying wird dementsprechend von nahezu allen organisierten Interessensgruppen betrieben und nicht mehr nur von den Wirtschaftsverbänden. Im Gegensatz dazu dürfte die im Keynote beschriebene strukturelle Macht multinationaler Unternehmen die Demokratien vor ganz neue Herausforderungen stellen.

Konferenzübersicht:

Keynote
Pepper D. Culpepper (Florenz), BEYOND LOBBYING: INSTRUMENTAL AND STRUCTURAL POWER OF BUSINESS IN DEMOCRACY

PANEL 1: LOBBYING IN DER VORMODERNE
Chair: Anja Rathmann-Lutz (Basel)

Isabelle Schürch (Zürich), Familie, Fürsprache, Frieden? Überlegungen zum Verhältnis von Verwandtschaft, Gütern und Interessensvertretung in der spätmittelalterlichen Herrschaft der Basler Bischöfe

Philippe Rogger (Bern), Solvente Kriegsherren, vernetzte Wirte, empfängliche Politiker – Interessenspolitik auf den eidgenössischen Gewaltmärkten um 1500

Andreas Würger (Bern): Wie beeinflusst man Ratsentscheidungen, ohne im Rat zu sitzen? Familien-Lobbying im Bern des 17. Jahrhunderts

PANEL 2: LOBBYINGSTRATEGIEN VON WIRTSCHAFTSVERBÄNDEN
Chair: André Mach (Lausanne)

Anina Eigenmann (Bern), Die Geister, die wir riefen...: Gelungene und misslungene Lobby-Versuche der Sozialen Käuferliga der Schweiz (Heimarbeit und Bäckergehilfen)

Roman Wild (Zürich), Kommunikative Vorräume der Macht. Das Beispiel der schweizerischen Schuhwirtschaft in den 1930er-Jahren

Pierre Eichenberger (Lausanne), Entre lobbying et coordination du patronat sur le marché du travail: L’Union centrale des associations patronales suisses entre 1908 et 1960

PANEL 3: UMWELT, VERKEHR UND KONJUNKTUR / ENVIRONNEMENT, TRANSPORTS ET CONJONCTURE – LOBBYING 1850-1965
Chair: Gisela Hürlimann (Zürich)

Melanie Salvisberg (Bern), Der Hochwasserschutz an der Gürbe – Interessensgruppen und ihre Anliegen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts

Gérard Duc / Olivier Perroux (Genf), Le lobby des usagers de la route. Une comparaison des agglomérations de Bâle et de Genève (1945-1965)

Marion Ronca (Zürich), Streitpunkt Konjunktur. Die Sicht der Schweizer Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften auf die Nachkriegsprosperität und -Inflation

PANEL 4: SOZIALE BEWEGUNGEN & LOBBYING
Chair: Brigitte Studer (Bern)

Brigitte Ruckstuhl / Elisabeth Ryter (Zürich), „Die Förderung gemeinsamer Interessen“. Interessenvertretung eines kantonalen Dachverbandes am Beispiel der Zürcher Frauenzentrale

Renata Latala (Fribourg), « Faire partie de la société » : l’action et le combat de la SGIPA en faveur de l’intégration socio-professionnelle des personnes en situation d’handicap mental

Flavia Grossmann (Basel), Der Einfluss italienischer AkteurInnen auf die Migrationspolitiken des Kantons Basel-Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts

Mariama Kaba (Lausanne), « D’autant plus déterminées qu’elles défendent les plus vulnérables de tous. » Les associations en faveur des personnes en situation de handicap à Genève (1950 à nos jours)

PANEL 5: VON DER INTERESSENSGRUPPE ZUM GESETZ
Chair: Matthieu Leimgruber (Genf)

Drew Keeling (Zürich), Von der offenen zur geschlossenen Grenze: Interessengruppen,Lobbies und die Politik der Migrationsgesetze in der Schweiz und in den Vereinigten Staaten, 1880-1914

Manuel Duer (Zürich), „So kommt das Referendum auf den Hund...“ Die Pharmalobby und ihr Kampf um die Patentgesetzrevision von 1954: Argumente–Strategien–Folgen

Thierry Delessert (Lausanne), Révision du droit pénal suisse: les débuts d'un lobbysme homosexuel en 1974

PANEL 6: SCHNITTSTELLEN ZWISCHEN POLITIK UND WIRTSCHAFT
Chair : Janick Marina Schaufelbuehl (Lausanne)

Steven Eichenberger / Andrea Pilotti / André Mach et Frédéric Varone (Lausanne / Genf), Parlement de milice et groupes d’intérêt: de l’imbrication à la professionnalisation?

Marc Perrenoud (Bern), Une antichambre du pouvoir politique : la Ständige Wirtschaftsdelegation (1939-1972)

Andrea Franc (Basel), Wie der Vorort zum Agrarlobbyisten wurde: Die Abstimmungskampagne für das „Schoggigesetz“ im Herbst 1975


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