Heraus aus der Vergessenheit. „Unfreiwillige“ Ökumene in Niederschlesien nach 1945

Heraus aus der Vergessenheit. „Unfreiwillige“ Ökumene in Niederschlesien nach 1945

Organisatoren
Haus Schlesien, Dokumentations- und Informationszentrum für schlesische Landeskunde, Königswinter
Ort
Königswinter
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.07.2014 - 05.07.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Nicola Remig, Haus Schlesien, Königswinter / Inge Steinsträßer, Bonn

Im Rahmen der Reformationsdekade hat Haus Schlesien in diesem Jahr eine Fachtagung über die religiöse und konfessionelle Situation im südlichen Niederschlesien der Nachkriegszeit durchgeführt. Bereits im Vorfeld war das Interesse an dem Thema groß und so konnte die Leiterin des Dokumentations- und Informationszentrums von Haus Schlesien, Nicola Remig, zu dem zweitägigen Seminar mehr als 40 Teilnehmer begrüßen.

Seit 2007 läuft die Reformationsdekade, die im Lutherjahr 2017 ihren Höhepunkt finden wird. Das Jahr 2014 mit seinem Motto „Reformation und Politik“ gab den Ausschlag, die historische, politische und konfessionelle Situation im Niederschlesien der Nachkriegszeit näher zu betrachten, die von gewaltigen politischen Umbrüchen bestimmt war. Inge Steinsträßer hatte angeregt, die Zeit nach 1945 speziell im Waldenburger Bergland zu untersuchen, da diese noch nie umfassend und als Ganzes behandelt worden war.

In den Kreisen Waldenburg und Landeshut wurde nach Kriegsende eine nahezu geschlossene Gruppe von etwa 20.000 deutschen Facharbeitern aus Bergbau und Textilindustrie von der polnischen Regierung zurück gehalten. Davon gehörten etwa 2/3 der evangelischen Kirche an, 1/3 war katholischer Konfession. Ein Großteil der Bevölkerung, unter denen auch die meisten katholischen und evangelischen Geistlichen waren, wurde dagegen nach 1945/46 aus ihrer Heimat vertrieben.

Aus der Notlage entstand in vielen Fällen über die Konfessionsgrenzen hinaus ein ganz pragmatischer Umgang mit der Seelsorge an den verbliebenen deutschen Christen. Der Tagung kam zugute, dass noch viele Zeitzeugen dieser Nachkriegsjahre leben, die aus ihrem eigenen Erleben als Kinder und Jugendliche zum Gesamtbild dieser Situation beitragen können.

Dank der Zusammenarbeit mit dem Katholischen Bildungswerk Rhein-Sieg-Kreis, der Kulturreferentin für Schlesien, Annemarie Franke, der Evangelischen Erwachsenenbildung im Kirchenkreis an Rhein und Sieg, dem Evangelischen Forum Bonn und der VHS Siebengebirge konnte die Tagung finanziert und an einen breiten Interessentenkreis gestreut werden. Vertreter der Erlebnisgeneration reisten zum Teil von weit her an. Das Thema zog auch zwei junge Wissenschaftlerinnen aus Hannover und Straßburg an, die sich in ihrer Dissertation bzw. Magisterarbeit mit dem Themenspektrum bzw. der Region befassen, sowie eine Kuratorin der Bundesstiftung Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Zuvor hatten sich mehrere Zeitzeugen, die sehr bedauerten, aus Altersgründen nicht mehr selbst an der Tagung teilnehmen zu können, mit Beiträgen und Foto-Zusendungen an Haus Schlesien zu Wort gemeldet.

Der erste Tag war den theologischen Grundlagen und der historischen Einordnung des Wirkens der evangelischen und katholischen Geistlichen im Waldenburger Bergland gewidmet. Nach Inge Steinsträßers zeitgeschichtlicher Einordnung der allgemeinen Situation bei Kriegsende in Niederschlesien schloss sich von evangelischer Seite der Vortrag von Pfarrer ULRICH HUTTER-WOLANDT (Berlin), über die Situation der deutschen evangelischen Kirche in Schlesien bei Kriegsende und in den Jahren danach an. Er nahm auch Stellung zum Kirchenkampf in Schlesien während des Nationalsozialismus und stellte einen unmittelbaren Bezug her zu den schwierigen Bedingungen der evangelischen Seelsorge nach 1945. Dabei spielten auch die kirchenpolitischen Interessen der Evangelisch-Augsburgischen Kirche in Polen eine Rolle.

MICHAEL HIRSCHFELD (Vechta) blickte in seinem Parallelvortrag auf die katholische Kirche. Er stellte den enormen Krafteinsatz der an der Seelsorge für Deutsche beteiligten Geistlichen in den Mittelpunkt und verwies auf deren Verdienste in der unmittelbaren Pastoral. Auf katholischer Seite waren nach der letzten großen Vertreibungswelle 1948 noch etwa sechs in Niederschlesien verbliebene deutsche Geistliche in die Deutschenseelsorge eingebunden. Zu nennen wären hier für das Waldenburger Bergland vor allem P. Johannes Blümel SJ (1890-1951) und Pfarrer Johannes Liebelt (1889-1963), unterstützt von dem in Breslau wirkenden letzten deutschen Domkapitular Franz Niedzballa (1897-1952) und dem im Diözesanarchiv tätigen Dr. Alfred Sabisch (1906-1977).
Hirschfeld machte auch auf die Probleme aufmerksam, die sich in Bezug auf die Pastoral mit den nach Schlesien hereinströmenden polnischen Katholiken ergaben und ging auf das spannungsgeladene Verhältnis zur neuen polnischen Diözesanleitung in Breslau ein.

JOACHIM KÖHLER (Tübingen) übernahm eine Einordnung der ökumenischen Entwicklungen aus theologischer bzw. kirchenhistorischer Sicht. Er verwies auf Carl Seltmann (1842-1911), Bernhard Strehler (1872-1945) und Hermann Hoffmann (1878-1972), drei engagierte Vorkämpfer im 19. und 20. Jahrhundert, deren ökumenische Ansätze bei den damaligen Kirchenoberen allerdings auf wenig Resonanz gestoßen waren. Köhler warf in diesem Zusammenhang auch die Frage nach Hindernissen und Chancen der heutigen Ökumene auf.

Nach einer Führung von Manfred Richter aus Gottesberg zu seiner bereits an mehreren Stationen in Deutschland und Polen mit großer Resonanz präsentierten zweisprachigen Wanderausstellung „Wir wollen nicht vergessen sein“ klang der Abend mit angeregten Gesprächen im sommerlich angenehmen Innenhof von Haus Schlesien aus.

Der zweite Tag galt Zeitzeugenberichten und beispielhaften Einzelbiographien schlesischer Seelsorger. INGE STEINSTRÄSSER (Bonn) referierte über das Wirken des letzten deutschen Priors der Benediktinerabtei Grüssau, P. Nikolaus von Lutterotti OSB (1892-1955), als Deutschenseelsorger im oberen Waldenburger Bergland. Lutterotti erwarb sich neben der Betreuung der katholischen deutschen Restgemeinden große Verdienste um eine pragmatisch gelebte Ökumene in seinem Sprengel zwischen Grüssau, Friedland und Gottesberg. Er war darüber hinaus auch um eine kontinuierliche Annäherung zwischen deutschen und polnischen Christen bemüht.

MANFRED RICHTER (Hildesheim) stellte die nur Wenigen bekannte Arbeit der evangelischen Laien in der Nachkriegsseelsorge vor, deren helfender Einsatz als Lektoren und in der Diakonie es ermöglichte, dass kirchliches Leben in einer großen Region auch mit nur sehr wenigen Pfarrern aufrecht erhalten werden konnte.

PETER BÖRNER (Siegburg) veranschaulichte das Leben des katholischen Stadtpfarrers in Bunzlau, Erzpriester Paul Sauer (1892-1946), dem es in seinem Engagement für die Verbliebenen um ein „situationsgemäßes, von Gottes- und Menschenliebe bestimmtes mutiges ökumenisches Handeln“ ging. Ungeachtet der konfessionellen und nationalen Zugehörigkeit kümmerte er sich um die Gläubigen in Bunzlau und betreute als katholischer Stadtpfarrer von Bunzlau selbstlos die verwaiste evangelische Gemeinde. Er starb dort im Juni 1946 nach Misshandlungen in der Gefängnishaft. Seit Jahren bemüht sich die Bundesheimatgruppe um eine Gedenktafel für Pfarrer Sauer in Bunzlau – im Herbst könnte ihre Einweihung Wirklichkeit werden.

Zur Lebenssituation zwischen 1945 und 1957/58 in den Kreisen Landeshut und Waldenburg hatten die Zeitzeugen Manfred Richter und BERNHARD GRUND (Rheinbach) aus eigenem Erleben viele Einzelheiten der religiösen, schulischen und kulturellen Lage beizutragen. Anschaulich verdeutlichten sie dem Publikum die damals unter schwierigsten Umständen erworbene Bildung der noch sehr jungen Männer, ihre beruflichen Perspektiven – unter anderem die Lehrtätigkeit in einer der 1950 vom polnischen Staat neu zugelassenen deutschen Schulen – und ihr eigenes großes Engagement, diese Zeit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen.

In ihrem Resümee äußerten sich die Tagungsteilnehmer/innen anerkennend zu der von Inge Steinsträßer konzipierten Konzeption und zur Durchführung der Tagung. Bemerkenswert war der Austausch zwischen denjenigen Teilnehmern, die am Kriegsende Schlesien verlassen mussten, und den Gleichaltrigen, die ihre Kindheit und Jugend im polnisch gewordenen Schlesien verbracht hatten. Übereinstimmend stellten sie fest, dass die beiden christlichen Kirchen in der Nachkriegszeit in Niederschlesien wesentlicher Faktor für den Zusammenhalt der deutschen Restbevölkerung unter-einander waren. Die Kirchen boten eine nicht zu unterschätzende Hilfestellung bei der Bewältigung der Lebensumstände, als Deutsche im „Fremden ungewollt daheim“ zu sein. Dabei stellte die jeweils andere Konfession nichts Trennendes dar, sondern trat unter den Bedingungen des gemeinsamen Schicksals in den Hintergrund. Die ökumenischen Ansätze in der Pastoral entsprangen keinen strukturierten Überlegungen, sondern waren aus der Not geboren und hatten pragmatischen Charakter. Ob solche oder ähnliche Notsituationen Impulsgeber für die heutige ökumenische Diskussion sein können, bleibt abzuwarten.

Eine Fortsetzung zum gleichen Thema in Niederschlesien ist für das Jahr 2015 als Kooperationsprojekt der Kulturreferentin für Schlesien, Annemarie Franke, dem Haus Schlesien und Inge Steinsträßer in Planung. Dabei soll auch das Zusammenleben zwischen deutschen und polnischen Christen in der Zeit nach 1945 zur Sprache kommen.

Konferenzübersicht:

Nicola Remig (Königswinter), Eröffnung und Begrüßung

Inge Steinsträßer (Bonn), Zur Situation der deutschen Restbevölkerung in Schlesien 1945 und in den Jahren danach

Ulrich Hutter-Wolandt (Berlin), Kirche ohne Pastoren. Zur Situation der deutschen evangelischen Kirche in Niederschlesien nach 1945

Michael Hirschfeld (Vechta), Wandernde „Hirten“ und „pilgernde“ Herde. Die deutschen katholischen Restgemeinden in Niederschlesien nach 1945

Joachim Köhler (Tübingen), Entwicklung ökumenischer Ansätze in Schlesien im 19. und 20. Jahrhundert. Theologische und kirchenhistorische Fragen

Manfred Richter (Hildesheim), Führung durch die zweisprachige Wanderausstellung „Wir wollen nicht vergessen sein“

Manfred Richter (Hildesheim), Laien in der Seelsorge. Arbeitsbedingungen und -schwerpunkte in der evangelischen Pastoral

Inge Steinsträßer (Bonn), P. Nikolaus von Lutterotti OSB (1892-1955) - unter Katholiken, evangelischen Diakonissen und gemischt-konfessionellen Chorsängern. Als Deutschenseelsorger im oberen Waldenburger Bergland

Peter Börner (Siegburg), Erzpriester Paul Sauer (1892-1946), Katholischer Stadtpfarrer in Bunzlau und Betreuer der verwaisten evangelischen Gemeinde.

Zeitzeugen im Gespräch. Zur Situation in den Kreisen Landeshut und Waldenburg von 1945 bis 1957/58. Gespräch mit Manfred Richter (Hildesheim) und Bernhard Grund (Rheinbach) unter Leitung von Inge Steinsträßer (Bonn)

Abschlussdiskussion unter Leitung von Inge Steinsträßer (Bonn)


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