Barock: ein Ort des Gedächtnisses - Interpretament der Moderne/Postmoderne / Barocco: un luogo della memoria - Riferimenti interpretativi nella Modernità e nel Postmoderno

Barock: ein Ort des Gedächtnisses - Interpretament der Moderne/Postmoderne / Barocco: un luogo della memoria - Riferimenti interpretativi nella Modernità e nel Postmoderno

Organisatoren
Kommission für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (Wien); Österreichisches Historisches Institut (Rom)
Ort
Rom
Land
Italy
Vom - Bis
23.09.2004 - 25.09.2004
Url der Konferenzwebsite
Von
Peter Stachel, Wien

Der Titel der in Rom veranstalteten Konferenz klingt auf den ersten Blick vielleicht überraschend: Barock als Gedächtnisort und als Interpretament der Postmoderne? Offenkundig geht es dabei nicht um das Barock als eine abgeschlossene historische und kunsthistorische Epoche, um einen bestimmten Stil und ein bestimmtes künstlerisches Vokabular einer vergangenen Zeit. Vielmehr bildete die Bezugnahme auf das Barock in diesem Fall den kulturwissenschaftlichen Ausgangspunkt einer Analyse individueller und kollektiver Erinnerungskulturen. In diesem Sinn wurde unter Barock ein metaphorischer "Gedächtnisort" verstanden, der - insbesondere in der zentraleuropäischen Region, aber beispielsweise auch in Lateinamerika - auch symbolische Bezüge zu Mentalitäten und Traditionen der politischen Kultur erschließt. So steht Barock in Zentral- und Südosteuropa unter anderem für die Gegenreformation und die katholische ecclesia militans et triumphans, für ein gleichermaßen kosmologisches wie politisches hierarchisches Ordnungsdenken und für Autoritätsgläubigkeit, die unter anderem in der Präferenz eines historistisch-neobarocken Baustils für öffentliche Gebäude in der Habsburgermonarchie im ausgehenden 19. Jahrhundert ihren Ausdruck fand. Aber auch in Lateinamerika wurde - unter gänzlich anderen Vorraussetzungen - in den vergangenen Jahrzehnten eine angeregte Diskussion um das Barock als identitätsstiftenden Faktor geführt.

Bemerkenswerterweise hat in neuerer Zeit das Interesse am Barock vor allem in Zusammenhängen mit Fragestellungen zur "postmodernen" Kultur der Gegenwart zugenommen. Die im Barock ausgedrückten oder freigelegten Ambivalenzen ähneln jenen Heteronomien, die zunehmend lineare Legitimationsstrategien unterlaufen und so das "Ende der großen Erzählungen" (Jean-François Lyotard) markieren. Die Allegorie - mit ihrer Verschmelzung von Schriftlichkeit und Bildlichkeit, von Konvention und Ausdruck eine typische Denk- und Stilfigur des Barock - wurde bereits von Walter Benjamin "als Schlüssel zum Bereich verborgenen Wissens" zum Verständnis spezifisch "moderner" Verhältnisse instrumentalisiert. Einige Jahrzehnte später bediente sich Gilles Deleuze einer Interpretation philosophisch-barocker Metaphysik Leibnizscher Prägung für eine Bestandsaufnahme der Gegenwart: Er verstand sie als "Multiplikation von Prinzipien". Für Deleuze stellt diese Form barocker Metaphysik einen Versuch dar, das Ideal der Vernunft zu erhalten oder wiederherzustellen, in dem sie Divergenzen als Trennlinien zwischen verschiedenen möglichen Welten markiert und damit Unvereinbares zugleich bestehen läßt und separiert; nämlich auf verschiedene "mögliche Welten" verteilt. Die Konzeption der Konferenz bestand darin, diese beiden Problembereiche zu thematisieren und zu analysieren, und - wenn möglich - Zusammenhänge zwischen beiden Fragestellungen aufzuzeigen.

Eröffnet wurde das Programm mit einem fulminanten Konzert der amerikanisch-deutschen Pianistin Sherri Jones, das unter dem Titel "Ins Spiel gebracht" der Rezeption des Barock in der Moderne gewidmet war, und dafür unter anderem Kompositionen von Erwin Schulhoff, Claude Debussy, Ernst Krenek, David Lidov und Paul Hindemith, aber auch die Bearbeitung eines Bachschen Choralvorspiels durch Ferrucio Busoni, einer interpretatorischen Ausdeutung unterzog.

Moritz Csáky (Wien) erläuterte in seiner Einführung die Zielsetzungen der Konferenz und ging dabei insbesondere auf die Funktion des Barock als "Folie" für Interpretationen der Gegenwart ein. Werner Oechslin (Zürich) analysierte im Einleitungsvortrag das Barock als Versuch, das "Unfaßbare" sinnlich und verständlich zu machen. In der Zufälligkeit der sogenannten "Realität", so Oechslins Interpretation, versuche das Barock gerade durch Inanspruchnahme des Reichtums aller vergänglichen Formen einen Schimmer des Göttlichen und Ewigen auszudrücken. Gerade im Versuch der sinnlichen Sichtbarmachung des Nichtsichbaren, der Faßbarmachung des Nichtfaßbaren, bestehe die spezifische Eigenheit barocker Kunst und Weltanschauung. Giuseppe Patella (Rom) widmete sich in seinem Referat der Philosophie Giambattista Vicos (1668-1744) als einer Art "Summe" barocker Kultur: Vicos "logische Poetik", die sich gezielt der Metapher, der Phantasie, der Poesie und des Mythos bediene, bewahre einerseits ältere Formen rhetorisch-poetischer Traditionen und schlage andererseits, von eben dieser Grundlage ausgehend, den Bogen zu einer spezifisch modernen Ästhetik; gerade mit dieser Zwischenposition verkörpere Vico paradigmatisch den geistigen Gehalt des Barock und eben dies mache ihn zu einem für die Gegenwart so besonders interessanten Denker.

Der Romanist Michael Rössner (München) verglich in seinem Vortrag die Instrumentalisierung des Barock als Gedächtnisort in Zentraleuropa und in Lateinamerika. In beiden Regionen, so Rössner, diene das Barock als zentraler Bestandteil historisierender Identitätskonstruktionen: Während es in Zentraleuropa insbesondere als Ausdruck des Katholizismus, der Gegenreformation und der vormaligen staatlichen Einheit der Region unter den Habsburgern diene, werde es in Lateinamerika als Ausdruck einer "Mestizisierung" der Kultur aufgefaßt. Als eine "rebellische Ästhetik" markiert "Barock" hier eine Form kultureller Vermischung und transkultureller Befruchtung: Der kubanische Autor Alejo Carpentier (1904-1980) ging sogar soweit zu postulieren, daß jede Form ethnischer Vermischung notwendig zu einer barocken Kultur führen müsse. Alena Janatková (Prag/Berlin) widmete sich in ihrem Referat insbesondere den zentraleuropäischen Bezügen des Barocks als Gedächtnisort: Ausgangspunkt ihrer Ausführungen war dabei die "Landesjubiläumsausstellung Böhmens" im Jahr 1891, die der einhundertsten Wiederkehr der Krönung Leopold II. zum böhmischen König gewidmet war. Anhand der historistisch-neobarocken Gestaltung des dort ausgestellten Krönungsbaldachins analysierte Janatková die Funktion des Neobarock als eines habsburgisch-gesamtstaatlichen Stils - so war das Barock von dem österreichischen Kunsthistoriker Albert Ilg (1847-1896) definiert und insbesondere von Erzherzog Franz Ferdinand politisch durchgesetzt worden. Ebenso prägendes wie pikantes Detail dieser Feierlichkeiten war der Umstand, daß der zur Zeit der Ausstellung regierende böhmische König, Kaiser Franz Joseph I., in seiner Funktion als Landesherr von Böhmen eben nicht gekrönt worden war.

Ein thematischer Schwerpunkt der Tagung war der Auseinandersetzung mit Walter Benjamin, insbesondere seinem Allegorie-Begriff, gewidmet. Heinz Drügh (Tübingen) analysierte die spezifische Bedeutung von Benjamins Buch über das deutsche Trauerspiel für postmoderne Diskussionen und hinterfragte davon ausgehend mit historischen und systematischen Argumenten den postmodernen Allegoriebegriff. Franz L. Fillafer (Wien) thematisierte Allegorie, Sprache und Geschichte bei Walter Benjamin, wobei er dessen Theorie der allegorischen Bilder als Sprach- und Geschichtstheorie interpretierte. Federico Celestini (Graz/Rom) ging gleichfalls von Benjamins Trauerspiel-Buch aus: Er analysierte Benjamins Allegorie-Begriff hinsichtlich seines Spannungsverhältnisses von Konvention und Ausdruck und versuchte, in Auseinandersetzung mit Adornos Benjamin-Rezeption, daraus Kategorien für eine Interpretation barocker wie moderner Musik abzuleiten. Abgeschlossen wurde dieser Tagungsteil mit einem ausführlichen Vortrag von Gabriele Perretta (Rom/Paris), der Benjamin einer Neuinterpretation aus Deleuzescher Perspektive unterzog.

Der dritte Halbtag war der Thematik "Barock als Interpretament" gewidmet und wurde mit einem Vortrag der Wiener Musikwissenschaftlerin Cornelia Szabó-Knotik eingeleitet, die sich mit dem Phänomen "barockisierender" Aneignungen musikalischer "Heroenfiguren" (konkret Mozart und Schubert) als Teil des Image Österreichs als eines "Musiklandes" auseinandersetzte: Ein enthistorisiertes Verständnis von "Barock", so die Referentin, werde dabei zum Teil bis heute als eine Konstante österreichischer Eigenart über historische Brüche hinweg imaginiert. Der Kunsthistoriker Andreas Nierhaus (Wien) konzentrierte sich gleichfalls auf Österreich und stellte dabei den neobarocken Baustil im Zeitalter des Historismus in den Mittelpunkt seiner Ausführungen, wobei sich einige inhaltliche Anknüpfungspunkte zu den Vorträgen von Cornelia Szabó-Knotik und Alena Janatková ergaben. Insbesondere als "supranationaler" Stil für staatliche Repäsentativbauten in der Habsburgermonarchie gewählt, diente das Neobarock dazu, so Nierhaus, am und mit dem Bauwerk "fiktive Historizität" zu konstruieren, historische und kulturelle Distanzen zu überbrücken und Zeit und Raum zu relativieren. Erreicht wurde dies durch Techniken des Zitierens und Kopierens, aber auch durch das Einbinden authentischer Relikte in die Bausubstanz, wobei durch Bezugnahmen auf konkrete Personen, Orte oder Ereignisse historische Kontinuität und Tradition bewußt konstruiert wurde.

Joseph Imorde (Zürich/Münster) stellte in seinem Referat die Barockrezeption des deutschen Kunstschriftstellers Wilhelm Hausenstein vor, der im Jahr 1919 eine Studie mit dem Titel "Vom Geist des Barock" veröffentlicht hatte, in der er Tempo, Nervosität und die Tendenz zur Selbstberauschung als gemeinsame Grundeigenschaften barocker und zeitgenössisch-expressionistischer Malerei postulierte. Ulrich Tragatschnig (Graz) widmete seine Ausführungen der Allegorie in moderner und postmoderner Kunst, wobei er den bildkünstlerischen Umgang mit abstraktem Sinn in Moderne und Postmoderne in vergleichender Perspektive analysierte; Ausgangspunkt war dabei die von Wolfgang Welsch angeregte Auffassung, daß postmoderne Elemente bereits in der Kunst der Moderne vorgeprägt seien. Den Abschluß der Vorträge bildete das Referat des Berliner Musikwissenschaftlers Albrecht Riethmüller zur Thematik "Barockmusik als (post)moderner Topos": Der Begriff "Barockmusik", so Riethmüller, werde heute weniger als Epochen-, denn vielmehr als Spartenbezeichnung aufgefaßt. Im Zuge einer kritischen Abgrenzung von den Traditionen des 19. Jahrhunderts sei das "klassische" Repertoire in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Richtung Barockmusik erweitert worden, wobei der Rückgriff auf diese als Ausdruck von Modernität interpretiert worden sei. Nach dem Zweiten Weltkrieg sei "Barockmusik" dann zum Ausgangspunkt der sogenannten historischen Aufführungspraxis und dabei praktisch zum Synonym für "alte Musik" geworden. In diesem Sinn sei "Barockmusik" zwar keine Erfindung, aber doch ein Interpretament des 20. Jahrhunderts.

Den Abschluß der Veranstaltung bildete eine kunst- und kulturhistorische Barockführung des Kunsthistorikers und Leiters des Österreichischen Historischen Instituts in Rom, Richard Bösel, durch ausgewählte römische Kirchenbauten.

Daß bei einer derart komplexen und vielseitigen Thematik, wie sie dieser Konferenz zugrunde lag, nicht alle Fragen erschöpfend beantwortet, ja einige Fragen überhaupt erst klarer formuliert werden konnten, ist nachvollziehbar und stellt keinen Makel dar. Insbesondere die Zusammenführung der beiden zentralen Themenbereiche - einerseits "Barock" als Gedächtnisort, andererseits Barock als Interpretament der Postmoderne - ist eine Aufgabe, die nicht von einer einzelnen Konferenz zu leisten ist. Gerade hier aber boten einige der Referate und insbesondere die intensiv geführten Diskussionen zahlreiche Anknüpfungspunkte für weiterführende Analysen: In diesem Sinn wird der aus der Tagung hervorgehende Sammelband zweifellos als Ausgangspunkt weiterführender Diskussionen dienen können.


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