Sprache(n) im Exil

Organisatoren
Doerte Bischoff / Christoph Gabriel / Esther Kilchmann, Universität Hamburg
Ort
Hamburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
19.02.2014 - 20.02.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Anne Benteler / Sonja Dickow / Sandra Narloch / Sarah Steidl / Philipp Wulf, Walter A. Berendsohn, Forschungsstelle für deutsche Exilliteratur, Universität Hamburg

Exilerfahrungen sind wesentlich durch Prozesse von Sprachverlust und Spracherwerb geprägt, sie lösen Reflexionen über die Einzigartigkeit der Muttersprache oder die Austauschbarkeit von Sprachen aus und bringen nicht selten Phänomene wie Mehrsprachigkeit, Sprachwechsel und Sprachmischungen hervor. Die vielfältigen Dimensionen der „Sprache(n) im Exil“ aus literaturwissenschaftlicher und linguistischer Perspektive zu untersuchen, hatte sich der gleichnamige Workshop zur Aufgabe gemacht, der zur Vorbereitung des Jahrbuchs Exilforschung 32 (2014) vom 19. bis 20. Februar 2014 im Senatssaal der Universität Hamburg stattfand.

In ihrem Eröffnungsvortrag formulierte DOERTE BISCHOFF, die die zweitägige Veranstaltung gemeinsam mit Christoph Gabriel und Esther Kilchmann (alle Hamburg) ausrichtete, als Ziel des Workshops, die Forschungsinteressen und Fragestellungen von Sprach- und Literaturwissenschaften miteinander zu verknüpfen und zu ergänzen, um mit dem Hauptfokus auf das Exil 1933-45 (bzw. seinem Nachleben) Phänomene von Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit zu diskutieren.

Eröffnet wurde die Veranstaltung mit einem Vortrag von MARK GELBER (Beer Sheva), der anhand biografischer Texte von Stefan Zweig, Fanya Gottesfeld Heller und Ruth Klüger der spezifischen Bedeutung jiddischer Lexeme in der ‚Literatur des Überlebens‘ nachging und diese auf die Möglichkeit bzw. Unmöglichkeit ihrer Übersetzung hin befragte.

Mit Wissenschaftssprachen (Philosophie, Politikwissenschaften, Psychoanalyse) und literarischen Sprachkonzepten im Exil befasste sich im Anschluss das erste von den insgesamt fünf Panels des Workshops. Im Hinblick auf Epistemologie und Differenz von Sprachen beschrieb BIRGIT ERDLE (Jerusalem) Adornos Sprachdenken im Exil zwischen dem Motiv des Festhaltens an der deutschen Sprache und der Notwendigkeit der Übersetzung von Kategorien und Begriffen. DANIEL WEIDNER (Berlin) setzte sich mit der Exilerfahrung der ‚political scholars‘ Franz Neumann und Ernst Fraenkel auseinander und thematisierte zwei zentrale Aspekte: einerseits das politische Moment der Sprache als repräsentatives Sprechen und andererseits die Wissenschaftssprache als eine Form von Sondersprache. JENNY WILLNER (Berlin) widmete sich Georges-Arthur Goldschmidts essayistischer Beschreibung der deutschen Sprache auf Französisch in „Als Freud das Meer sah“. Aus der anderssprachigen Exilperspektive auf Heimat und Muttersprache lese Goldschmidt die deutsche Sprache gegen den Strich und führe performativ vor, dass jenes, was der Nationalsozialismus ausschließen und vernichten wollte, bereits in Struktur, Grammatik und Wortschatz der deutschen Sprache selbst verkörpert sei.

Das zweite Panel des Workshops versammelte zwei Vorträge, die sich mit den Besonderheiten des Judenspanischen auseinandersetzten. ELISABETH GÜDE (München) untersuchte in ihrem Beitrag sephardische Mehrsprachigkeit in literarischen Texten aus dem türkisch-sephardischen Kontext und ging dabei der Frage nach, welche Bedeutung in diesem Zusammenhang dem Judenspanischen als Exilsprache zukommt und auf welche Weise literarische Texte das trianguläre Verhältnis von Judezmo, Französisch und Türkisch reflektieren und bearbeiten. CHRISTOPH GABRIEL und ELENA KIREVA (beide Hamburg) stellten die Ergebnisse ihrer empirischen Untersuchung zu syntaktischen und prosodischen Aspekten des Judenspanischen in Bulgarien vor. Anhand von Interviews mit bilingualen Muttersprachlerinnen des Judenspanischen suchte die Studie zu ermitteln, welche sprachlichen Domänen im Exil stabil, das heißt von der Kontaktsprache weitgehend unbeeinflusst bleiben und welche eher zu einer Annäherung an die Kontaktsprache neigen.

Mit Aspekten der kognitiven Linguistik befasste sich das dritte Panel des Workshops. SIMONA LEONARDI (Neapel) analysierte biografische Interviews mit Israelis deutschsprachiger Herkunft aus dem Korpus „Emigrantendeutsch in Israel“ von Anne Betten. Anhand von Äußerungen über Sprache(n) und das Verhältnis von Sprachen in den Interviews zeichnete sie die komplexe Beziehung der Sprecher zur deutschen Sprache nach. Mit einem speziellen Fokus auf die Sprachmetaphorik zeigte sie, wie metaphorische Formulierungen als Spuren kognitiver und kulturell verankerter Sinnstrukturen funktionieren.

Im abschließenden Plenarvortrag des ersten Workshoptages präsentierte MONIKA SCHMID (Essex) die Ergebnisse ihrer Studie über den Verlust der Erstsprache und die Aneignung des Englischen als neuer Lebenssprache bei ExilantInnen. Untersuchungsgrundlage bildeten Interviews mit zwischen 1933-1945 aus Deutschland geflohenen Juden. Neben dem Alter der Exilierten zum Zeitpunkt ihrer Flucht und dem regelmäßigen Gebrauch der deutschen Sprache benannte Schmid dabei auch traumatische Erlebnisse als ausschlaggebend für die Aufrechterhaltung oder Verdrängung der Erstsprache.

Mit einer Sektion zu Muttersprachkonzepten, Sprachwechsel und Mehrsprachigkeit begann der zweite Tag des Workshops. EVA DURAN EPPLER (London) befasste sich in ihrem Beitrag mit dem exilbedingten Sprachwechsel als Auslöser für intergenerationelle Konflikte. Inwiefern die Muttersprache der Eltern von den im Exilland aufgewachsenen Kindern als ein ‚Störfaktor‘ betrachtet wird und der Verweis auf die ihnen fremde Kultur auch als Differenzmarker zwischen den Generationen fungieren kann, zeigte Eppler anhand verschiedener Beispiele aus ihrer Untersuchung von Interviews mit Exilierten zweier Generationen auf. Der nachfolgende Beitrag von SUSANNE UTSCH (Berlin), der wegen krankheitsbedingter Abwesenheit verlesen wurde, stellte zur Diskussion, dass sich die germanistische Exilforschung in ihren Interpretationen zumeist einseitig und holzschnittartig auf das in vielen biografischen Exilzeugnissen beschriebene ‚Sprachdilemma‘ beziehe und überwiegend dieselben Beispiele aufgreife. Aus soziohistorischer Perspektive könne der von einigen Exilintellektuellen formulierte ‚unerbittliche Zwang zur Sprachgemeinschaft‘ mit Utsch jedoch als das Resultat einer während der Weimarer Republik programmatisch und prominent verbreiteten Muttersprachenideologie beschrieben werden. ESTHER KILCHMANN (Hamburg) widmete sich in ihrem Vortrag der Psychoanalyse des Exils und arbeitete heraus, dass die Disziplin als vertriebene Wissenschaft dabei nicht nur in kulturhistorischer, sondern auch theoretischer Hinsicht für die Exilforschung von Interesse ist. So zeigte sie auf, inwiefern sich gerade über die Auseinandersetzung mit dem Sprachwechsel im Exil, der oft auch als Rückfall in eine infantile Stellung erlebt und beschrieben wurde, bemerkenswerte Erkenntnisse zur Sprache und Sprachsymbolik gewinnen lassen.

Das letzte Panel des Workshops richtete sich auf Sprach(en)konstellationen in literarischen Texten von Autorinnen und Autoren, die die Erfahrung des Sprachexils thematisieren. FRIEDERIKE HEIMANN (Hamburg) fokussierte in ihrem Vortrag das Verhältnis von ,Muttersprache’ und ,Vätersprache’ in den Gedichten von Gertrud Kolmar und Paul Celan und arbeitete heraus, wie sich das Ausloten von Gebrochenheiten und Aporien der Muttersprache Deutsch als zentral erweist: Die eigene Sprache ist zu einer Sprache des ,Anderen’ geworden. Dies führt zu der Frage, wie in der von dem Nationalsozialismus geprägten und vereinnahmten deutschen Sprache die Artikulation der jüdischen Identität noch möglich sein kann. Die Muttersprache birgt nun ein Moment des Nichtmitteilbaren und evoziert zugleich die poetische ,Sprachsuche‘ nach einem Ort für das Jüdische in der Dichtung. Die heteroglossalen Gedichte von Ludwig Strauss, die durch einen ironischen und parodistischen Duktus gekennzeichnet sind, standen im Zentrum des Vortrags von LINA BAROUCH (Jerusalem). Über den vielfältig konnotierten Motivkomplex ‚Nacht’, der unter anderem als Achse zwischen der Zeit in Deutschland und jener in Palästina gelesen werden kann, wurden die Position und hybride Identität des ,Nachtwächter-Poeten‘ Strauss als einem deutsch-jüdischen Dichter verhandelt. In dem abschließenden Beitrag des Workshops widmete sich JUSTUS FETSCHER (Mannheim) der Lektüre von Peter Weiss’ „Die Ästhetik des Widerstands“ und identifizierte signifikante Sprachfiguren und -merkmale als ‚Deaktivierung des Deutschen‘, darunter Aufzählungen, Abstraktionen, Passivkonstruktionen, die Absatzlosigkeit des Textes und die vermeintlich a-personale Schilderung von Erlebnissen. Dadurch werde nicht nur die traumatische Erfahrung des Exils im Text virulent, sondern in diesen ‚Sprach-Widerständen‘ artikuliere sich auch der ‚Widerstand‘ gegen eine Komplizenschaft mit der Sprache der Täter.

In der Abschlussdiskussion wurden die Ergebnisse der linguistischen und literaturwissenschaftlichen Beiträge miteinander in Verbindung gesetzt. Der Ertrag dieser interdisziplinären Verknüpfung zeigte sich unter anderem darin, dass durch linguistische Differenzierungen (z.B. L1/L2) und Untersuchungen des Sprachverhaltens im Exil auch prominente Topoi und Phänomene der Exilliteratur, z.B. die Vorstellung von Sprachverlust als existenzielle Dimension der Sprachberaubung oder ein programmatisches Festhalten an der Muttersprache, als solche erneut reflektiert und teilweise anders kontextualisiert werden können. Die sprachwissenschaftlichen Analysen zum Verhältnis von Muttersprache, language attrition und Mehrsprachigkeit bei SprecherInnen in der Exilsituation eröffnen neue Perspektiven auch auf im Exilzusammenhang entstandene literarische Texte und darin entwickelten Sprachkonzepte.

Konferenzübersicht:

Doerte Bischoff (Hamburg), Eröffnung und Einführung in die Thematik

Plenarvortrag:
Mark Gelber (Beer Sheva), Mehrsprachigkeit und Stationen des Exils in der Literatur des Überlebens

Sektion 1:

Birgit Erdle (Jerusalem), Adornos Sprachdenken im Exil

Daniel Weidner (Berlin), Politisierung des Sprechens. Die Exilerfahrung und die frühe Totalitarismustheorie

Jenny Willner (Berlin), Sprache, Sexualität, Nazismus. Georges-Arthur Goldschmidt und die deutsche Sprache

Sektion 2:

Elisabeth Güde (München), Judezmo, Türkisch, Judéo-Fragnol. Sephardische Mehrsprachigkeit in literarischen Texten

Christoph Gabriel / Susann Fischer / Elena Kireva (alle Hamburg), Sprache im Exil zwischen Konvergenz und Stabilität: Syntaktischen und prosodische Aspekte des Judenspanischen in Bulgarien

Sektion 3:

Simona Leonardi (Neapel), Sprachmetaphorik in biografischen Interviews mit Israelis deutschsprachiger Herkunft

Plenarvortrag:
Monika S. Schmid / Cornelia Lahmann / Rasmus Steinkrauss (alle Essex), “I always thought I was a German – it was Hitler who taught me I was a Jew.” National-socialist persecution, identity, and the German language

Sektion 4:

Eva Duran Eppler (London), Language shift and culture loss as factors in inter-generational conflict between two generations of female Holocaust refugees

Susanne Utsch (Berlin), „Der unerbittliche Zwang zur Sprachgemeinschaft“: Der Einfluss der Muttersprachkonzepte von Johannes Leo Weisgerber und Georg Schmidt-Rohr auf das Sprachverhalten der Exilintellektuellen

Esther Kilchmann (Hamburg), Inneres Babel und äußeres Babel. Mehrsprachigkeit und Sprachwechsel in der Psychoanalyse des Exils

Sektion 5:

Friederike Heimann (Hamburg), Sprachexil. Zum Verhältnis von Muttersprache und „Vätersprache“ bei Gertrud Kolmar und Paul Celan

Lina Barouch (Jerusalem), Anti-Purismus und Parodie. Die mehrsprachigen Gedichte von Ludwig Strauss in Palästina 1936-37

Justus Fetscher (Mannheim), Das deaktivierte Deutsche. Sprach-Widerstände bei Peter Weiss

Schlusswort und Abschlussdiskussion
Doerte Bischoff / Esther Kilchmann / Christoph Gabriel (alle Hamburg)


Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Klassifikation
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Englisch, Deutsch
Sprache des Berichts