Cultural Analytics, Information Aesthetics, and Distant Readings

Cultural Analytics, Information Aesthetics, and Distant Readings

Organisatoren
Martin Warnke / Anneke Janssen / Isabell Schrickel, DFG-Kollegforschergruppe "Media Cultures of Computer Simulation" (MECS), Leuphana Universität Lüneburg
Ort
Lüneburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
04.07.2014 - 05.07.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Till Straube, Institut für Humangeographie, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Bei diesem zweitägigen englischsprachigen Workshop der DFG-Kollegforschergruppe Media Cultures of Computer Simulation (MECS) an der Leuphana Universität Lüneburg standen neben neueren Trends der automatisierten Analyse und Darstellung digitalisierter Bilddaten auch deren Einordnung in die historische Entwicklung des Spannungsfelds zwischen Ästhetik und elektronischer Datenverarbeitung im Mittelpunkt.

Nach einleitenden Grußworten der Veranstaltenden hatte zuerst FRIEDER NAKE (Bremen) das Wort. Der Mathematiker und Pionier der Computerkunst beschrieb eine Debatte der späten 1960er-Jahre, die unter dem Namen Informationsästhetik geführt wurde. Ihre zentralen Antagonisten Max Bense und Abraham Moles hätten sich jedoch auf ein Projekt der mathematischen Formulierung von Ästhetik versteift, das wegen seiner Abstraktheit und letztendlichen Blindheit für Bedeutung zum Scheitern verurteilt gewesen wäre. Semiotische Untersuchungsansätze nach Charles S. Peirce seien schließlich besser geeignet, um Subjektivitäten und Relationalitäten des ästhetischen Zeichens zu greifen.

Ebenfalls Ende der 1960er-Jahre ermöglichten neue Techniken digitale 3D-Grafiken und verwandelten den Computer in ein visuelles Medium. Diese waren zentrales Thema im Vortrag von JACOB GABOURY (Lüneburg/New York), der sein Projekt der Genealogie des Unsichtbaren in der Computergrafik vorstellte. Sein besonderes Augenmerk galt dabei dem Problem der verdeckten, also nicht gerenderten Flächen. Die konkreten technischen Methoden (von Langzeitbelichtung über Drahtmodelle zu Grundformen und Z-Buffering) analysierte Gaboury anhand medientheoretischer Konzepte, die die Situiertheit von visueller Wahrnehmung sowie die Materialität des Mediums in den Vordergrund stellen.

Ganz aktuelle Trends hingegen standen bei der Medienanalystin IVANA USPENSKI (Düsseldorf) im Vordergrund, die aus der Werbebranche berichtete. So sei das storytelling als dominantes Paradigma der Werbewelt symptomatisch für einen Wandel der Marke weg vom produktbezogenen Qualitätsmerkmal und hin zum Zeichen für allgemeine Wertvorstellungen, die durch Werbung narrativ unterfüttert würden. In der Vermarktung von Film- und Serienproduktionen ließe sich eine parallele Entwicklung beobachten, im Zuge derer man sich zunehmend vom Fokus auf einzelne Charaktere abkehre und stattdessen der Gestaltung ganzer Welten zuwende. Schließlich deutete Uspenski an, welche Analysetools (z.B. zum Mapping von sozialen Netzwerken) in der Werbebranche zum Einsatz kommen und sprach sich für einen intensiveren Dialog zwischen Wirtschaft und Wissenschaft aus.

Auch LEV MANOVICH (New York) legte den Fokus auf gegenwärtige Entwicklungen in den neuen Medien. Er umriss sein derzeitiges Interessengebiet, das er als „Cultural Analytics“ bezeichnet. Darunter versteht er ein computergestütztes close reading großer Mengen von kulturellen Artefakten anhand von kalkulierbaren Charakteristika, das nach dem social web der 2000er-Jahre als jüngster breiter Trend des kommerziellen Internets zu verstehen sei. Manovich zitierte diesbezüglich aktuelle Entwicklungen in der Medieninformatik, die in Projekten wie „Webzeitgeist“ oder „Curalate“ zunehmend Anwendung fänden. In seiner Konzeptualisierung des Phänomens stützte sich Manovich maßgeblich auf formalistische Strömungen der Filmwissenschaft und wies auf die Notwendigkeit hin, geeignete Visualisierungstechniken für diese neuen Analyseformen zu entwickeln.

Mit „Selfiecity“ präsentierte TARA ZEPEL (San Diego) ein solches Projekt, das im Kern aus einer interaktiven Oberfläche zur vergleichenden Visualisierung von 3.200 Selbstaufnahmen von Instagram-Usern aus fünf Großstädten besteht. Der Fokus von Zepels Vortrag lag dabei auf der Sichtbarmachung des Forschungsprozesses im Namen der digital literacy: Das Projektteam um Lev Manovich habe den Bildkorpus aus den Instagram-Feeds für bestimmte Hashtags extrahiert und jedem selfie (teils computergestützt) Vektorwerte wie Geschlecht, Alter, oder Grad der Kopfneigung zugewiesen. Die öffentlich zugängliche Benutzeroberfläche wird von einer Zusammenfassung der Untersuchungsergebnisse sowie drei theoretischen Essays begleitet.

Anwendungsbezogen war auch der Vortrag von HERMANN PFLÜGER (Stuttgart), der den Prototyp einer eigens entwickelten Software vorführte. Ziel des Projektes sei es, große Mengen von digitalisierten Kunstwerken automatisiert zu ordnen. Ohne auf Metadaten zurückzugreifen erkenne der Algorithmus anhand von lokalen Histogrammen markante Punkte der Bitmaps und könne so Ähnlichkeiten zwischen Bildern feststellen und in einem Bildraster visualisieren, Kunstwerke kategorisieren und Dopplungen finden. Für die Demonstration stand ein kleines Beispielarchiv zur Verfügung.

Auch RUTH REICHE (Darmstadt) und DANIEL KURZAWE (Göttingen) setzten sich mit dem Problem der Ähnlichkeit von Bildern auseinander. Sie stellten zwei experimentelle Projekte vor, die den diesbezüglichen Unterschied zwischen menschlicher Wahrnehmung und automatisierter Berechnung thematisierten. Ausführlich wurde die Operationalisierung einer Forschungsfrage betreffend der Ähnlichkeit zweier Versionen einer Videoinstallation der Künstlerin Eija-Liisa Ahtila besprochen. Hierbei sei die computergestützte Analyse in einem interessanten Detail von der intuitiven Einschätzung des Forschungsteams abgewichen und habe so eine tiefergehende Problematik des Konzepts von Ähnlichkeit aufgezeigt.

THOMAS BJØRNSTEN (Aarhus) widmete sich in seinem Vortrag künstlerischen Auseinandersetzungen mit Daten und ihrer Verarbeitung. Hierbei setzte er die unkritische Ästhetisierung von Daten durch Künstler*innen wie Ryoji Ikeda in Kontrast zu den politischen Visualisierungsprojekten des Kunstkollektivs YoHa. Noch provokanter seien schließlich die Projekte von Martin House, die auf eine tiefergreifende Dekonstruktion der Computerarchitektur abzielten. Bjørnsten stellte der dominanten Debatte über die Berechenbarkeit von Ästhetik so eine künstlerische Auseinandersetzung mit kalkulativen Methoden gegenüber und sprach sich überzeugend dafür aus, grundsätzliche Annahmen der Datenverarbeitung zu hinterfragen und die Grenzen der Visualisierung und Tonalisierung von Daten experimentell auszureizen.

Im wohl politischsten Beitrag zum Workshop setzte sich die Philosophin INGRID M. HOOFD (Singapur) entschieden kritisch mit den akademischen Praktiken der digital humanities auseinander. Hoofd attestierte dieser jungen Teildisziplin eine schizophrene Spaltung in kulturpessimistische Technologiekritik einerseits und selbstbezogene Anwendung digital gestützter Methoden andererseits. Letzterer warf sie prägende Züge eines Geschwindigkeitselitismus vor, der sich von Reflexion und Wahrheitsfindung abwende und durch fragwürdige Effizienz die Sicherung von Forschungsgeldern anstrebe. In Ihrem Beitrag verknüpfte Hoofd die Technologiekritik Heideggers, Virilios oder Baudrillards überzeugend mit linguistischer Feinfühligkeit und feministischer Theorie. Sie rief die Anwesenden dazu auf, bei ihren informationstechnischen Projekten und Überlegungen deren sozio-politischen Kontext nicht aus den Augen zu verlieren.

Der abschließende Roundtable, in dem INGE HINTERWALDNER, MARTIN WARNKE (beide Lüneburg), Lev Manovich und Frieder Nake mit anderen Teilnehmenden diskutierten, griff mit den Spannungsfeldern zwischen Ästhetik und Berechenbarkeit, Komplexität und Struktur oder Wirtschaft und Wissenschaft die prägenden Themenkomplexe der Veranstaltung auf und reflektierte die Bedeutung gegenwärtiger Kalkulations- und Visualisierungstechniken für eine mögliche neue Epistemologie in Zeiten kaum überschaubarer Datenmengen.

Trotz seiner starken medienwissenschaftlichen Prägung wurde der Workshop seinem interdisziplinären Anspruch insofern gerecht, als dass die Vortragenden mit vielfältigen Ansätzen argumentierten und in den Diskussionen eine gegenseitige Bereicherung dieser Betrachtungsweisen zum Ausdruck kam. Workshops wie dieser sind wertvolle Beiträge, um disziplinarische Abgrenzungen am Gegenstand der digitalen Medien konsequent aufzuweichen und diese für unsere Zeit so wichtigen Problematiken aus verschiedenen Perspektiven nachzuzeichnen.

Konferenzübersicht:

Frieder Nake (Hochschule für Künste Bremen), Once there was Information Aesthetics, ...

Jacob Gaboury (Leuphana Universität Lüneburg/New York University), Toward a Genealogy of the Invisible in Computer Graphics

Hermann Pflüger (Universität Stuttgart), Analytical Aesthetics Applied to a Large Collections of Works of Visual Arts

Lev Manovich (City University of New York), Cultural Analytics and Multi-scale Reading

Ruth Reiche (Technische Universität Darmstadt) / Daniel Kurzawe (Georg-August Universität Göttingen), Visual Data Gain Semantics and Research Becomes Visual

Tara Zepel (University of California, San Diego), Visualization as Process, Not Product

Ivana Uspenski (Mindshare, Düsseldorf), Brand Atlas – Mapping Out the Economy of Contemporary Mythologies

Thomas Bjørnsten (Aarhus Universitet), Making Sense of Data

Ingrid M. Hoofd (National University of Singapore), From Representation to Algorithm: the Acceleration of the Humanist Spirit

Roundtable
Inge Hinterwaldner (Leuphana Universität Lüneburg) / Lev Manovich (City University of New York) / Martin Warnke (Leuphana Universität Lüneburg) / Frieder Nake (Hochschule für Künste Bremen)


Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger