Der Konflikt in Literatur und Recht der frühmodernen Romania - Zugriffe der romanistischen Literaturwissenschaft und der europäischen Rechtsgeschichte.

Der Konflikt in Literatur und Recht der frühmodernen Romania - Zugriffe der romanistischen Literaturwissenschaft und der europäischen Rechtsgeschichte.

Organisatoren
Deutscher Romanistenverband (DRV); Organisatoren: LOEWE-Schwerpunkt "Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung", Frankfurt am Main; Jessika Nowak, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau; Andreas Karg, Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt am Main
Ort
Frankfurt am Main
Land
Deutschland
Vom - Bis
25.08.2014 - 28.08.2014
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Von
Andreas Karg, LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“, Johann Wolfgang Goethe-Universität

„En composant la Chartreuse, pour prendre le ton je lisais chaque matin 2 ou 3 pages du code civil“ 1 - das populäre Bekenntnis des französischen Romanciers Stendhal, enthalten in einem Brief an Honoré de Balzac aus dem Jahr 1840, findet sich in vielen Abhandlungen zitiert, von denen vielleicht die Mehrzahl rechtshistorischer, nicht literaturwissenschaftlicher Provenienz ist. Ob Koketterie des Schriftstellers oder ehrliches Bekunden: Das Bonmot eignet sich in idealer Weise, um die epigrammatische, gemeinverständliche Sprache der napoleonischen Zivilrechtskodifikation hervorzuheben.

Zugleich aber erinnert es an ein nicht immer präsentes Gemeinsames: die Verwandtschaft zwischen Rechts- und Literaturwissenschaft als hermeneutische Wissenschaften.2 Hier wie da geht es um Texte und deren Bedeutung , hier wie da „menscheln“ die Texte, handeln vom Tun aneinander, vom Umgang miteinander, vom „Management“ oder eben „Missmanagement“ sozialer Beziehungen. Jacob Grimms Diktum, „[d]asz recht und poesie miteinander aus einem bette aufgestanden waren…“ 3, wird man daher, wissend um die romantische Färbung, erst einmal für sich annehmen können. Viel häufiger aber als umgekehrt entspinnt sich zwischen den Rechts- und den Literaturwissenschaften der Dialog auf Initiative der Juristen hin, die mit Fragen zum Recht, zum Recht als Literatur und zum Sozialen auf die Literatur zugehen. Und, sofern es die Rechtsgeschichte im Dialog mit historisch forschenden Literatur- und Sprachwissenschaften betrifft, so stehen da auf beiden Seiten häufig Germanisten: juristische Germanisten und germanistische Sprach- und Literaturwissenschaftler.

Überraschend ist das nicht: Die traditionelle deutsche Rechtsgeschichte interessiert sich für die historischen, auch literarischen Zeugnisse des sogenannten deutschen Rechts und des deutschen Rechtslebens; die philologisch-literaturwissenschaftliche Germanistik stößt mitunter auf dieselben Texte: den Meier Helmbrecht, das Nibelungenlied, den Reineke Fuchs usw. Die „Romanisten“ in beiden Wissenschaften haben demgegenüber ganz unterschiedliche Texte vor Augen: hier die literarischen Hervorbringungen der Romania, da das römische Recht der Antike. Geht man aber, aus guten Gründen, davon aus, dass die Rechtsgeschichte ihre nationale Perspektive zugunsten eines europäischen, vielleicht sogar irgendwann globalen Blickwinkels aufgibt, kann man dieses wechselseitige Schweigen der Fächer, also der Rechtsgeschichte und der historisch forschenden romanistischen Literaturwissenschaft, nicht auf ewig unwidersprochen stehen lassen.

An diesem Punkt setzte vom 25. bis zum 28. August 2014 die im Wesentlichen von Freiburger und von aktuell in Frankfurt am Main beschäftigten Wissenschaftlern/-innen und Nachwuchswissenschaftlern/-innen getragene, Interdisziplinäre Dr. Franz J. Vogel Sommerschule des Deutschen Romanistenverbands (DRV) 2014 an und machte es sich zur Aufgabe, unter dem Motto „Der Konflikt in Literatur und Recht der frühmodernen Romania – Zugriffe der romanistischen Literaturwissenschaft und der europäischen Rechtsgeschichte“ Studierende, Doktoranden/-innen und Postdoktoranden/-innen der Rechtsgeschichte, der Romanistik und auch der allgemeinen Geschichtswissenschaft miteinander ins Gespräch zu bringen: mit neun Lektionen in vier Sprachen, drei Abendvorträgen und – last, not least – den Vorträgen von fünf der dreizehn Stipendiatinnen und Stipendiaten, die die Chance ergriffen, ihre eigenen Arbeiten in einem weiteren personalen Kontext begutachten zu lassen. Gastgebende Einrichtung war der LOEWE-Schwerpunkt „Außergerichtliche und gerichtliche Konfliktlösung“ (Landes-Offensive zur Entwicklung Wissenschaftlich-ökonomischer Exzellenz), ein Forschungsverbund der Johann Wolfgang Goethe-Universität, des Max-Planck-Instituts für europäische Rechtsgeschichte und kleinerer regionaler Partner.

Die Präsentationen der Stipendiatinnen und Stipendiaten eröffneten die Sommerschule. Die Darstellung machtgieriger Händel im Todesjahr von Karl dem Kahlen in den Annales Bertiniani brachte MAX WOHLTMANN (Freiburg im Breisgau) in seinem Vortrag ans Licht. Elsässische Archivalien des Hoch- und Spätmittelalters wurden durch MARIA KAMMERLANDER (Freiburg im Breisgau) neu zum Sprechen gebracht. Sie referierte zu einem in Vergessenheit geratenen „Hauskloster“ eines Proto-Habsburgers, die elsässische Abtei Ottmarsheim. Die Rezeptionsgeschichte des Nibelungenlieds lud zum Vergleich mit anderen „Nationalepen“, namentlich mit Rolandslied und Artussage, ein, eingeleitet durch den Vortrag von ANNIKA SINDLINGER (Freiburg im Breisgau). Die longue durée der Specula seit der Vita Karoli Magni Einhards bis hin zum Fürstenbuch Niccolò Machiavellis offenbarte bislang ungeahnte Kontinuitäten, doch ebenso ein Bedürfnis nach neuer epochaler Gliederung, gemäß der Präsentation von ULRICH DENZER (Frankfurt am Main). Wie Dante im Inferno, im Angesicht der schlimmsten Verbrechen, den Kompromiss zwischen individuell angemessener und formal gleicher Behandlung des Missetäters findet, wurde in bemerkenswerter Stringenz und gedanklicher Klarheit vorgeführt durch ALESSIA LOIACONO (Bari).

Die als Dozierenden der Sommerschule auftretenden Wissenschaftler/-innen und Nachwuchswissenschafter/-innen schöpften aus dem weiteren Kontext ihrer Forschungsschwerpunkte und beschritten zuweilen auch Pfade neben ihrer üblichen gelehrten Tätigkeit: Der Facettenreichtum im komplexen Denken des Jean Bodin offenbarte sich in der Konfrontation seiner sechs Bücher über den Staat mit dem ihm zugeschriebenen, sehr spät posthum edierten sogenannten „Siebengespräch“. HENNING HUFNAGEL (Freiburg im Breisgau) zeigte dabei wieder einmal, dass sich in der philosophischen Begegnung der Konflikt gänzlich anders darstellt als in der Sprache des Rechts, die hier ihre Stärke in der Komplexitätsreduktion findet

TYLER LANGE (Berkeley, Ca. / Frankfurt am Main) demonstrierte, dass vorreformatorische Kirchenrechtsgeschichte unter dem Gesichtspunkt der Konflikte verarbeitenden Rolle des Rechts unmittelbar in die Vergangenheit heutiger kapitalistischer Wirtschaftsordnungen und damit fortwährender auch wirtschaftsethischer Konstruktionen führt. Er gab einen Einblick in brandaktuelle rechtshistorische Forschung, die unsere noch durch Max Weber determinierten Vorstellungen von Grund auf umwälzt.

Die Schnittstellen zwischen Rechtsgeschichte und romanistischer Literaturgeschichte im Lazarillo de Tormes, Guzmán de Alfarache und Buscón aufzusuchen, war ein anspruchsvolles, gleichwohl mehr als lohnendes Unterfangen von FRANK ESTELMANN (Frankfurt am Main). THOMAS AMOS (Frankfurt am Main) demonstrierte dem verblüfften Plenum im Decamerone Giovanni Boccaccios, dass die Vorstellung, es sei zwar die Aufgabe des Strafrechts, Rechtsgüter, nicht aber Moral(vorstellungen) und Sittlichkeit zu schützen, so neu nicht ist. In wohl dieselbe Kerbe schlug im 16. Jahrhundert auch ein heute vielleicht zu wenig beachteter Repräsentant des juristischen Humanismus, Étienne Forcadel, als er es zur Pointe einer Satire machte, dass sich über Cupido trotz der fortwährenden Konflikte, die er schüre, nicht zu Gericht sitzen lasse. WIM DECOCK (Frankfurt am Main / Leuven) stellte ihn vor. AMANDINE LE ROUX (Paris) präsentierte, wie sich an und um die Tätigkeit von durch die Kurie entsandten Kollektoren im 14. und 15. Jahrhundert Konflikte entzündeten und ihren Weg in die Archivalien fanden. Nicht weniger eindrücklich präsentierte BENEDETTA ALBANI (Frankfurt am Main) die Integration der Neuen Welt in den Apparat einer in Zeiten der Reformation und Gegenreformation dem Anspruch nach erst recht universalen Kirche durch das Instrument der Konfliktlösung. Und wie man die Konflikte an der Kurie und dem Mailänder Herzogshof des 15. Jahrhunderts in den Gesandtenberichten und im sonstigen Briefwechsel der Mächtigen und ihrer Adlaten trotz teilweise raffinierter Chiffrierung greifbar machen kann (oder eben nicht mehr), war eine Lehrstunde aus der Rubrik „Der Historiker als Detektiv“ von JESSIKA NOWAK (Freiburg im Breisgau). „Außer Konkurrenz“ schließlich lief eine Einführung in die nicht genuin wissenschaftlichen, sondern sich aus der Notwendigkeit zeitgemäßer Public Relations (PR) und Öffentlichkeitsarbeit (ÖA) ergebenden wissenschaftsnahen Aufgabenfelder künftiger Forscher/-innen und akademischer Lehrer/-innen von ANDREAS KARG (Frankfurt am Main).

Die Abendvorträge zu guter Letzt gediehen zu fesselnden Erzählstunden, wie sie nur an Erfahrungen überreiche Wissenschaftlerkarrieren hervorbringen können: MICHAEL STOLLEIS (Frankfurt am Main) begann in „Rechtsgeschichte und Literatur“ mit einer kühlen Absage gegenüber dem Iconic Turn („Alles ist Sprache“) und führte anhand von Ursula Krechels „Landgericht“ die Doppelbödigkeit von Wahrheit in Poesie und Geschichte vor. HANS-JOACHIM LOTZ (Frankfurt am Main) machte anhand der historischen und gegenwärtigen „Frankfurter romanistischen Studienordnungen“ nicht nur den Wandel der Studienbedingungen in den zurückliegenden Jahrzehnten, sondern auch das Ende der Ordinarienuniversität sicht- und begreifbar. FRIEDRICH WOLFZETTEL (Frankfurt am Main) ließ die Zuhörer seines Vortrags Zeuge werden, wie die legendäre, utopisch-egalitäre Tafelrunde, die sich enthusiastisch von alten feudalen Strukturen abwendet, erst auf- und dann, unter dem Druck der schließlich nicht mehr zu bewältigenden äußeren Herausforderungen, untergeht.

Die Interdisziplinäre Dr. Franz J. Vogel Sommerschule des Deutschen Romanistenverbands (DRV) 2014 war zum einen gewiss eine Bestandsaufnahme des Dialogs zwischen der philologisch-literaturwissenschaftlichen Romanistik und ihren historisch forschenden Nachbarn, der allgemeinen Geschichtswissenschaft und der Rechtsgeschichte – zumindest, wenn man berücksichtigt, dass die eigentliche Initiative zu ihr zunächst aus den letztgenannten beiden Fächern heraus ausging (indes sofort engagiert aufgegriffen wurde durch den Deutschen Romanistenverband). Sie hat zum anderen aber auch gezeigt, dass dieser Dialog, wenn er einmal angestoßen ist, es wert ist, geführt und ausgebaut zu werden. Gewiss kann es nicht darum gehen, ein weiteres interdisziplinäres Fach zwischen den klassischen und auch bewährten Grenzen der traditionellen Fächer zu etablieren. Aber ein Bewusstsein davon, dass es mehr als einen interpretativen Zugang zu Texten gibt, kann den Vertreterinnen und Vertretern von Disziplinen, deren Arbeit sich auf Texte stützt, kaum abträglich sein.

Konferenzübersicht:

Vorträge von Stipendiatinnen und Stipendiaten
Max Wohltmann (Freiburg im Breisgau), Das Jahr 877 – eine „Verschwörung der Großen“ im Westfränkischen Reich?

Maria Kammerlander (Freiburg im Breisgau), Das in Vergessenheit geratene „Hauskloster“ eines Proto-Habsburgers: Konflikte in und um die elsässische Abtei Ottmarsheim.

Annika Sindlinger (Freiburg im Breisgau), Burgund und das Nibelungenlied.

Ulrich Denzer (Frankfurt am Main), Zur Bedeutung von Ratgeberliteratur im Mittelalter.

Alessia Loiacono (Bari), Laesa maiestas ed etica dantesca.

Lektionen der Dozierenden

Henning Hufnagel (Freiburg im Breisgau), Gattung und Konflikt: Jean Bodin, Six livres de la république – Colloquium Heptaplomeres.

Tyler Lange (Berkeley, Ca. / Frankfurt am Main), Caritas und Konflikt vor geistlichen Gerichten vor der Reformation.

Frank Estelmann (Frankfurt am Main), Der pikareske Roman in Spanien: drei Lektüren an der Schnittstelle von Literatur- und Rechtsgeschichte (Lazarillo de Tormes, Guzmán de Alfarache, Buscón).

Thomas Amos (Frankfurt am Main), Zu Recht erzählt. Delikt und Justiz im Decameron.

Wim Decock (Frankfurt am Main / Leuven), Recht und Literatur im „Cupido Jurisperitus“ des Humanisten Étienne Forcadel.

Amandine Le Roux (Paris ), Conflits et résolutions des conflits relatifs à la levée des taxes pontificales (Royaume de France, Provence, XIVe-XVe siècles).

Benedetta Albani (Frankfurt am Main), Governo della Chiesa e gestione die conflitti in prospettiva globale: La Curia Romana come istanza di giustizia per il Nuovo Mondo [secoli XV-XVII].

Jessika Nowak (Freiburg im Breisgau), Konflikte an der Kurie und am Mailänder Herzogshof im Spiegel der italienischen Korrespondenz.

Andreas Karg (Frankfurt am Main), Wissenschaftskommunikation im europäischen Forschungsraum.

Abendvorträge

Michael Stolleis (Frankfurt am Main), Rechtsgeschichte und Literatur.

Hans-Joachim Lotz (Frankfurt am Main), Frankfurter romanistische Studienordnungen im Wandel der Zeit.

Friedrich Wolfzettel (Frankfurt am Main), „Coutume“ und Konfliktregulierung im Artusroman von Chrétien de Troyes.

Anmerkungen:
1 Stendhal, in: Correspondance générale VI (ed. Victor Del Litto), Paris 1999, S. 410.
2 Zum Gesamtbefund: Thomas Vormbaum, Die Produktivität der Spiegelung von Recht und Literatur – für Klaus Lüderssen (2002), in: Ders., Diagonale. Beiträge zum Verhältnis von Rechtswissenschaft und Literatur, Berlin, Münster 2011, 3-18.
3 Jacob Grimm, Von der Poesie im Recht, in: Zeitschrift für geschichtliche Rechtswissenschaft 2 (1815), A. 25-99, hier: S. 27.


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