Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900

Das Ende der Kindheit? Jüdische Kindheit und Jugend ab 1900

Organisatoren
Martha Keil, Wolfgang Gasser, Philipp Mettauer, Institut für jüdische Geschichte Österreichs
Ort
Wien
Land
Austria
Vom - Bis
02.07.2014 - 04.07.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Merethe Jensen / Philipp Mettauer, Institut für jüdische Geschichte Österreichs, St. Pölten

Die erstmals am neuen Campus der Wirtschaftsuniversität Wien veranstaltete 24. Internationale Sommerakademie des Instituts für jüdische Geschichte Österreichs widmete sich heuer der Kindheit, die als Entdeckung der Moderne und Errungenschaft des Bürgertums als soziales Konstrukt ständigem kulturellem und historischem Wandel unterliegt. Die dreitägige Konferenz gliederte sich in verschiedene Themenfelder: Zunächst wurde sowohl ein historisch-anthropologischer als auch ein entwicklungspsychologischer Überblick über diverse Konzepte von Kindheit gegeben. Von jüdischen Kindheits- und Jugendentwürfen ab der Wende zum 20. Jahrhundert handelte der nächste thematische Fokus, der die Bedeutung von Schule und Bildung im Judentum einerseits, in der jüdischen Jugendliteratur andererseits beleuchtete. In Ergänzung zu bürgerlichen und sozialdemokratischen Idealvorstellungen wurden alternative Erziehungs- und Pädagogikkonzepte vorgestellt.

Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten und dem „Anschluss“ Österreichs zerbrach die in Zeitzeugenberichten bis dahin meist als unbeschwert erinnerte Kinderwelt schlagartig. Dem Ende der Kindheit durch rassistische Verbote und Verordnungen, Flucht, Vertreibung, Kinder- und Jugend-Alijah, in der Zwangsemigration, Ghettos und Konzentrationslagern war der zweite Konferenztag gewidmet. Ein weiterer Schwerpunkt der Sommerakademie war die Vermittlung der Shoah an heutige Schülerinnen und Schüler. Die Fragestellungen richteten sich nach der Didaktik an Gedenkstätten und den Methoden der so genannten „Holocaust-Education“. Jüdische Kindheit und Jugend im Nachkriegseuropa rundeten abschließend das Programm der mit täglich rund 100 Teilnehmer/innen gut besuchten Sommerakademie ab.

Zur Begrüßung griff Gastgeber PETER BERGER (Wien), Leiter des Instituts für Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Wirtschaftsuniversität Wien (WU), die Jahreszahl aus dem Titel auf und wies darauf hin, dass bereits aufgrund von Flucht und Vertreibungen infolge des Ersten Weltkriegs zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein „Kindheitsraub“ stattgefunden hatte. Danach überraschte er mit einer Erzählung aus seiner eigenen Lebensgeschichte, als ihm als Kind bei einem Sukkotfest erstmals die jüdische Herkunft seiner Familie bewusst wurde.

Daran anschließend eröffnete JOHANNES KOLL (Wien) mit einem Vortrag über die Vertreibung Studierender von der Wiener Hochschule für Welthandel, der Vorgängerin der WU. Unmittelbar nach dem „Anschluss“ wurden sowohl politische Gegner des NS-Regimes als auch Jüdinnen und Juden ohne Zeugnis von der Hochschule entfernt. Der damalige Rektor Bruno Dietrich ging dabei über die bloße Verwaltung der zahlreichen diskriminierenden Sondergesetze hinaus und entschied, zwei jüdisch Studenten, die bereits Monate vor dem „Umbruch“ ihre Dissertationen eingereicht hatten, nicht mehr promovieren zu lassen. Seit 2012 ist die WU bestrebt, mit einem Forschungsprojekt, einem Online-Gedenkbuch und einem Mahnmal am Universitätsgelände an das Schicksal der Opfer zu erinnern.

TILL KÖSSLER (Bochum), Inhaber des Lehrstuhls für „Sozialgeschichte des Aufwachsens und der Erziehung“ an der Ruhr-Universität, folgte in seinen Ausführungen dem Grundgedanken der Veranstaltung und erläuterte die doppelte Bedeutung des Fragezeichens im Tagungstitel. Nach Philippe Ariès wurden Kinder in der bürgerlichen Moderne erst als solche entdeckt und als schützenswerte Wesen wahrgenommen. Folgen waren die „Familiarisierung“, das Herauslösen aus der Dorfgemeinschaft sowie die „Verhäuslichung“, von der Straße ins Elternhaus, in Unterrichtsinstitutionen und Jugendverbände. Erst spät wurden Kinder und Jugendliche als eigenständige Akteure wahrgenommen. Das Verständnis ihrer Geschichte sei schon allein deshalb unumgänglich, da ihnen die Rolle als Zukunftsträger zugeschrieben wurde und sie zum fundamentalen Teil der ideologischen Auseinandersetzungen und nationalen Konflikte des 20. Jahrhunderts gemacht wurden.

Die Psychologin BRIGITTE LUEGER-SCHUSTER (Wien) beleuchtete anschließend die Auswirkungen von Traumatisierungen auf die Entwicklung von Kindern. Dies ist ein auch von der historischen Forschung nicht zu vernachlässigendes Thema, war doch die Hälfte der heute noch lebenden Opfer des NS-Regimes zu Kriegsende nicht älter als 14 Jahre. Um zu überleben mussten sie sich verbiegen und ihre Herkunft verleugnen, sie erlebten eine gebrochene Kindheit, waren aber nicht notwendigerweise gebrochene Kinder. Durch die Verfolgung wurden Werte und Regeln außer Kraft gesetzt, die bis dahin die psychische Stabilität gewährleistet hatten. Die langfristigen Auswirkungen des Traumas hingen sowohl von den einzelnen Reaktionen der Bezugspersonen als auch des gesellschaftlichen Kollektivs, den persönlichen Ressourcen, dem Alter der Kinder sowie ihrem weiteren Lebensweg nach 1945 ab. Seit 1966 beobachtet die psychotherapeutische Forschung den transgenerationalen Transfer von Trauma an die Kinder der Betroffenen, seit 1999 ist das „Überlebendensyndrom“ als eine Form der posttraumatischen Belastungsstörung im ICD-10 (Internationale Statistische Klassifikation der Krankheiten und verwandter Gesundheitsprobleme) in Österreich anerkannt. Dabei muss beachtet werden, dass nicht nur Trauma, sondern auch Ressourcen und Resilienzen, beispielsweise Strategien des Überlebens in gefährlichen Situationen, transferiert werden.

TIRZA LEMBERGER (Wien) gab als ehemalige Religions- und Hebräischlehrerin interessante Einblicke in das Innere des jüdischen Schulwesens in Wien. Dessen Anfänge sind mit dem ersten Schulgebäude im Jahr 1812 am Katzensteig/Seitenstettengasse zu finden. Obwohl die Gemeinde ab 1850 wuchs, errichtete die Israelitische Kultusgemeinde (IKG) keine weiteren Schulen, was dazu führte, dass Privatpersonen die Rolle der Gründer übernahmen. Diese Schulen wurden aber, mit Ausnahme derjenigen in der Malzgasse, die heute noch existiert, meist bald wieder geschlossen. 1919 wurde das jüdische Privatrealgymnasium (später nach dem Oberrabbiner und Schulgründer Zwi Perez Chajes umbenannt) eröffnet, 1938 wurde dort die letzte Matura vor den Vertreibungen und Deportationen abgehalten. Nach 1945 wurden mehrere jüdische Schulen eröffnet, wovon ein Teil aufgrund mangelnder Schülerzahlen jedoch bald wieder schließen musste. Zurzeit befinden sich inklusive dem Lauder Chabad Campus drei jüdische Schulen in Wien.

HADASSAH STICHNOTHE (Tübingen) widmete ihren Vortrag der jüdischen Kinderliteratur der Zwischenkriegszeit, wobei zionistische Erzählungen, Abenteuerromane und Märchen dominierten, die von der Besiedlung Palästinas handelten. Selbst unter der NS-Herrschaft förderte die Reichsschrifttumskammer, die ansonsten für alle jüdischen Autorinnen und Autoren Berufsverbote aussprach, noch die Publikation von Auswandererliteratur. Bis in die späten 1930er-Jahre wurden zudem Kinderbücher publiziert, welche die Rückkehr der assimilierten Kinder zum Judentum und die kindliche Selbstdisziplinierung thematisierten.

In seinem unkonventionellen und humorvollen Vortrag präsentierte ROBERT STREIBEL (Wien) die widersprüchliche Person der Pädagogin und Pionierin der Mädchenbildung Eugenie Schwarzwald und die einer inneren Logik folgenden Erinnerungspolitik anhand einer schließlich doch angebrachten Gedenktafel. In dem von Schwarzwald gegründeten privaten Mädchenlyzeum wurden bereits 1910 die Lernziele von den Schülerinnen selbst festgesetzt, eine Methode, die bis heute unter dem Namen „Zielvereinbarung“ auf der Managementebene Gültigkeit besitzt und die das Selbstvertrauen und die Selbstständigkeit der Mädchen stärkte.

Der in Wien geborene ehemalige Chefredakteur der „Jerusalem Post“ ARI RATH (Wien/Jerusalem) berichtete als Zeitzeuge von seinen Erfahrungen mit der Kinder- und Jugend-Alijah in Palästina. Aus jüdischer Perspektive schlug er, neben der erzwungenen Emigration als markantem Ende seiner Kindheit, einen weiteren Wendepunkt zum Erwachsenwerden vor, nämlich die Bar bzw. Bat Mitzwa. Nach Ari Rath konnten Kinder die Emigration leichter verkraften als ältere Menschen. Wie Setzlinge seien sie von einem Beet in die neue Erde gesetzt worden, währenddessen „man einen alten Baum nicht verpflanzt“.

VICTORIA KUMAR (Graz) referierte anschließend aus wissenschaftlicher Perspektive über die gleiche Thematik. Die Jugend-Alijah-Teilnehmer waren einem strengen Auswahlprozedere unterworfen und gelangten erst nach absolvierter Ausbildung in einem Vorbereitungsprogramm nach Palästina. Auf die erste Zeit in der „neuen Heimat“, die sie trotz schwieriger Arbeitsbedingungen und kulturellem Bruch als positiv erlebten, folgte allerdings meist eine Phase der Ernüchterung.

Obwohl in lebensgeschichtlichen Interviews die Frage nach den Kindheitserinnerungen zum Standardrepertoire gehört und meist den Einstieg in die Erzählung bildet, ist in den Oral History Interviews, die PHILIPP METTAUER (St. Pölten) mit österreichisch-jüdischen Emigrantinnen und Emigranten in Argentinien führen konnte, zunächst erstaunlich wenig über diesen prägenden Lebensabschnitt zu erfahren. Angesichts der kommenden Katastrophe scheint die Vorgeschichte entweder nicht erzählenswert oder die Erinnerungen sind massiv von den traumatischen Ereignissen der Ausgrenzung, Verfolgung und Flucht überlagert. Mit dem „Anschluss“ zerbrach die bis dahin als heil erinnerte Kinderwelt schlagartig, die Erzählungen setzen meist erst bei diesem Bruch ein.

Wie CHRISTINE HARTIG (Göttingen) anhand von Briefen der Familien Bergmann aus Wien, Cohn aus Berlin und Theiner aus Prag zeigte, wurde von Kindern und Jugendlichen, denen die Ausreise ins sichere Ausland ohne Eltern gelungen war, Anpassung, Selbständigkeit, Selbstdisziplin und Dankbarkeit erwartet. Gemeinsam mit der meist nur als vorübergehend gedachten Trennung von den Angehörigen machten diese Erwartungen den familiendynamischen Prozess des Erwachsenwerdens umso komplexer. Seitens der Eltern wiederum bedeutete die je nach Wohnort zeitlich versetzte und sich zuspitzende Einschränkung von Entscheidungsmöglichkeiten die erzwungene Aufgabe bisheriger Erziehungsvorstellungen und -ideale.

ANDREAS BAUMGARTNER (Wien) thematisierte die unterschiedlichen Überlebenschancen für Kinder, die in die NS-Terrormaschinerie gerieten. Beim Genozid durch die Einsatzgruppen und in den Vernichtungslagern waren sie, wie jene für die Erwachsenen, gleich null. Bei Selektionen in Ghettos, die „Ablieferungsquoten“ zu erfüllen hatten, gehörten Kinder meist gemeinsam mit den alten Personen zu den ersten, die deportiert wurden, da sie nicht zur Aufrechterhaltung der Infrastruktur benötigt wurden. In Konzentrationslagern, in denen einzig die Arbeitsfähigkeit als Kriterium des Überlebens galt, hatten Kinder aufgrund ihrer geringeren physischen Belastbarkeit kaum Chancen. Eine Überlebensstrategie bestand im Verschweigen des wahren Alters, eine weitere, bis heute tabuisierte, bestand darin bei Funktionshäftlingen Schutz zu suchen, die die Kinder im Gegenzug sexueller Gewalt auslieferten.

MARTA ANSILEWSKA (Berlin/Warschau) widmete ihren Vortrag der religiös-nationalen Identität versteckter jüdischer Kinder in Polen während des Zweiten Weltkriegs, wobei Lügen, Tarnen und Täuschen zu den zentralen Strategien zählten. Nachdem jegliches jüdische Anzeichen den Tod bedeutet hätte, bildeten katholische Gebete, Versuche, „arisch“ auszusehen oder sich zu kleiden, bei Buben die Beschneidung zu verbergen, akzentfreies Polnisch und falsche Papiere, wie beispielsweise ein Taufschein, die Voraussetzung zum Überleben.

Ausgehend von einem Foto, das ein Mädchen in noch behütetem, bürgerlichem Ambiente zeigt, obwohl Verhaftung und Deportation nach Auschwitz unmittelbar bevorstanden, setzte sich ANNE D. PEITER (La Réunion) mit dem Gedanken der Veralltäglichung der Shoah auseinander. Die Fotografie entstammt einer umfassenden Sammlung, die 2001 in Serge Klarsfelds Buch „Mémorial des enfants juifs déportés de France“ veröffentlicht wurde. In ihren Überlegungen zur Dialektik von Alltag und Ausnahmesituation machte Peiter darauf aufmerksam, dass sich diese Fotos „von hinten her“ lesen – ausgehend vom Tod, den die Kinder erlitten. Sie berühren in ihrer Furcht erregenden Alltäglichkeit, die der zunehmenden Bedrohung abgerungen war.

Der folgende Themenschwerpunkt war der Vermittlungsarbeit der historischen Forschungen und Erkenntnisse an heutige Jugendliche gewidmet. Der Historiker WOLFGANG GASSER präsentierte mit Schülern des BRG/BORG St. Pölten, JULIA LEPUTSCH und FABIO ALFERY (alle St. Pölten), ihre Ergebnisse des Projekts „Das Ende (m)einer Kindheit? Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher aus Österreich 1938-41“. Dieses läuft im Rahmen von „Sparkling Science“, einem Forschungsprogramm des Bundesministeriums für Wissenschaft, Forschung und Wirtschaft unter dem Motto „Wissenschaft ruft Schule. Schule ruft Wissenschaft“. Anhand von Text- und Video-Material hatten sich die Schüler/innen mit dem Schicksal von „Kindertransportkindern“ auseinandergesetzt und dazu selbstreflexiv ihre eigenen Zugänge zum Thema Jugend und Erwachsenwerden analysiert. Im Fokus standen dabei Fragen nach der Wahrnehmung von Brüchen, Anpassungsstrategien und die Integration an neue Lebensumstände sowie der Prozess des Erinnerns.

MERETHE JENSEN (St. Pölten), wissenschaftliche Mitarbeiterin im selben Projekt, referierte anschließend über die historischen Grundlagen der Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder und Jugendlicher nach Skandinavien von 1938 bis 1940. Innerhalb dieses abgestimmten Fluchtprogramms wurden Kinder ohne Eltern prinzipiell als problematisch eingestuft, weshalb eine Vielzahl an Hilfsorganisationen zur Betreuung miteinbezogen wurde. Mit der deutschen Besetzung Norwegens und Dänemarks waren die Kinder und Jugendlichen jedoch erneut der nationalsozialistischen Verfolgung ausgesetzt.

WERNER DREIER (Bregenz) widmete seinen Vortrag der „Holocaust-Education“ an österreichischen Schulen, die darum bemüht ist, nicht nur historische Ereignisse zu unterrichten, sondern gleichzeitig auch die Grundideen der Menschenrechte zu vermitteln. Bei Besuchen mit Schulklassen in KZ-Gedenkstätten stelle sich allerdings die Frage, ob ausgerechnet an diesen Orten über die Wirksamkeit von Genozid-Prävention reflektiert werden könne. Gegen Rassismus und Antisemitismus gebe es jedenfalls keine „Schutzimpfung“. Fokus sei, den Schülerinnen und Schülern Jüdinnen und Juden nicht so sehr als Opfer, sondern als Menschen näher zu bringen, wobei den Motiven der Täterinnen und Täter ebenso nachgegangen werden müsse.

INA SCHULZ (Bad Arolsen) referierte über die Betreuung und Lebenssituation von unbegleiteten jüdischen Kindern in Nachkriegsdeutschland im sogenannten Displaced Persons Children's Center Kloster Indersdorf, das die United Nations Relief and Rehabilitation Administration (UNRRA) eingerichtet hatte. Die Schwierigkeiten, diese Kinder nach Jahren des Terrors in ein „normales“ Leben zurückzuführen, waren enorm und glichen einer „Rehabilitation“. Verhaltensmuster, die während der Verfolgung das Überleben ermöglicht hatten, mussten der neuen Lebenssituation angepasst werden, beispielsweise die Mahlzeiten nicht zu verschlingen oder bei Tisch nichts unbemerkt für später in die Taschen zu stecken.

ALEXANDER FRIEDMAN (Saarbrücken) berichtete über die Lebenswelten jüdischer Jugendlicher in den 1960er- und 1970er-Jahren in der Sowjetunion, in der vor allem nach dem Sechstagekrieg die antizionistische Stimmung stark zunahm. Bereits ein jüdisch klingender Name reichte aus, um an Schulen und Hochschulen von Schikanen und physischer Gewalt betroffen zu sein. Innerhalb der UdSSR wurden Juden als eigene Nation definiert, die Reisepässe jüdischer Sowjetbürger als solche gekennzeichnet. Für viele von ihnen stellte die Verschleierung ihrer Herkunft oder die Emigration den einzigen Ausweg dar.

Abschließend thematisierte MERON MENDEL (Frankfurt am Main) die Situation von Jüdinnen und Juden, die nach 1945 entweder als Displaced Persons in Deutschland blieben oder als Remigranten dahin zurückkehrten und im Spannungsfeld zwischen Assimilationsdruck und Weiteremigration lebten. Vor allem für jüngere war das ehemalige Täterland meist nur eine Übergangsstation, bis sie in die USA oder nach Israel auswandern konnten, das oftmals auch als Projektionsfläche einer „Ersatzidentität“ herangezogen wurde. Während die ältere Generation in der Bundesrepublik eher isoliert blieb, integrierte sich die zweite allmählich in die nicht-jüdische Gesellschaft.

Mit der „Machtergreifung“ der Nationalsozialisten begann das Ende der jüdischen Kindheit in Europa. Von den Kindern und Jugendlichen wurde mit einem Mal ein großes Maß an Selbständigkeit und Eigenverantwortung verlangt, sie mussten zahlreiche erwachsene Aufgaben übernehmen. Gerieten sie in die NS-Vernichtungsmaschinerie war ihre Überlebenschance aufgrund ihrer geringeren physischen Belastbarkeit äußerst gering.

Insbesondere für die zeitgeschichtliche Forschung stellt jüdische Kindheit ein zentrales Thema dar, war doch mehr als die Hälfte der heute noch lebenden NS-Opfer zu Kriegsende nicht älter als 14 Jahre. Die Tagung hat sich aus interdisziplinärer Perspektive eingehend mit diesem Thema beschäftigt und die besondere Betroffenheit der Kinder durch rassistische Verordnungen, Flucht und Vertreibung wissenschaftlich thematisiert.

Konferenzübersicht:

Johannes Koll (Wien), Die Vertreibung Studierender von der Wiener Hochschule für Welthandel. Der „Anschluss“ Österreichs und die Folgen

Till Kössler (Bochum), Kindheit und Jugend in der Moderne

Brigitte Lueger-Schuster (Wien), Auswirkungen von Traumatisierungen auf die Entwicklung von Kindern

Tirza Lemberger (Wien), Von der Religionsschule zur Schule. Die Entwicklung des jüdischen Schulwesens in Wien 1812-1938

Hadassah Stichnothe (Tübingen), Zwischen Assimilation und Alijah. Jüdische Kinderliteratur der Zwischenkriegszeit

Robert Streibel (Wien), „Ein nicht enden wollender Lobgesang mit störenden Zwischenrufen“. Eugenie Schwarzwald und ihre Schule

Ari Rath (Jerusalem/Wien), Als Kind auf der Flucht nach Palästina

Victoria Kumar (Graz), Das Ausbildungs- und Fluchtprogramm der Jugend-Alijah – Retrospektiven

Philipp Mettauer (St. Pölten), Jüdische Kindheit vor dem „Anschluss“. Erinnerungen in lebensgeschichtlichen Interviews

Christine Hartig (Göttingen), Veränderte Erwartungen an Kinder angesichts der nationalsozialistischen Verfolgung

Andreas Baumgartner (Wien), „da war meine Kindheit plötzlich zu Ende…“ Kinder als Häftlinge in Konzentrationslagern

Marta Ansilewska (Berlin/Warschau), Durch Taufe befreit? Die religiös-nationale Identität der versteckten jüdischen Kinder in Polen während des Zweiten Weltkriegs

Anne D. Peiter (La Réunion), Veralltäglichung der Shoah. Überlegungen zu Fotos von jüdischen Kindern aus Frankreich

Wolfgang Gasser / Julia Leputsch / Fabio Alfery (St. Pölten), Das Ende (m)einer Kindheit? Ein Schulprojekt über die Rettung jüdischer Kinder aus Österreich 1938-1941

Merethe Jensen (St. Pölten), Die Kindertransporte zur Rettung jüdischer Kinder aus Österreich nach Skandinavien 1938-40

Werner Dreier (Bregenz), „Holocaust-Education“ an österreichischen Schulen – Wohin entwickelt sich die Vermittlungsarbeit an Jugendliche?

Ina Schulz (Bad Arolsen), Das Schicksal unbegleiteter jüdischer Kinder und ihre Betreuung in der unmittelbaren deutschen Nachkriegszeit

Alexander Friedman (Saarbrücken), Lebenswelten jüdischer Kinder und Jugendlicher in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg

Meron Mendel (Frankfurt am Main), Jüdische Kindheit und Jugend im Nachkriegsdeutschland


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