Brückner revisited. Diskurse um Polonität in Geschichte und Gegenwart: Mikro- und Makroperspektiven

Brückner revisited. Diskurse um Polonität in Geschichte und Gegenwart: Mikro- und Makroperspektiven

Organisatoren
Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien; Friedrich-Schiller-Universität Jena
Ort
Jena
Land
Deutschland
Vom - Bis
23.05.2014 - 24.05.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Paulina Gulińska-Jurgiel, Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien an der Martin-Luther-Universität Halle

Das Symposium „Brückner revisited. Diskurse um Polonität in Geschichte und Gegenwart: Mikro- und Makroperspektiven“ war die erste Tagung des im Oktober 2013 eröffneten Aleksander-Brückner-Zentrums für Polenstudien (Halle/Jena). Den Anlass dazu bot der 75. Todestag seines Namengebers Aleksander Brückner, des polyglotten Slawisten aus dem habsburgischen Galizien, der disziplinäre Grenzen souverän ignorierte und ein vielfältiges Werk in Linguistik, Literaturwissenschaft, Kulturgeschichte und Ethnologie hinterließ. Sein wissenschaftliches Denken entfaltete sich in wechselnden sprachlichen und politischen Zusammenhängen in verschiedenen europäischen Bildungszentren, insbesondere in Lemberg, Wien, Leipzig und Berlin.

Ziel des Symposiums war es, Brückners Arbeit in den verschiedenen Forschungsfeldern zu rekapitulieren, zu reflektieren und auf Anknüpfungsmöglichkeiten für eine interdisziplinäre Erforschung Polens im frühen 21. Jahrhundert zu befragen. Im Zentrum der Begegnung stand die Frage nach den facettenreichen Diskursen um Polonität – das heißt, die Frage danach, was, wann und wo Polen bzw. polnisch war und ist oder als solches wahrgenommen wird. Die TeilnehmerInnen näherten sich dieser Problematik aus historischen, linguistischen, literaturwissenschaftlichen und ethnologischen Perspektiven.

Den Einstieg in die Tagung bildete der Festvortrag von DAVID FRICK (Berkeley), der unter dem Titel „Geschichtswissenschaft und Philologie: Wenn Archive Geschichten erzählen“ Einblicke in seine persönliche Werkstatt gab und gleichzeitig ein Plädoyer für interdisziplinäre Wissenschaft hielt. Er zeichnete zunächst den Weg seiner philologischen Ausbildung nach, um dann anhand konkreter Beispiele seiner Forschung zur frühneuzeitlichen Geschichte Polen-Litauens vorzuführen, wie stark historische Erkenntnis und philologische Kenntnis Hand in Hand gehen. So sei in seinem neuen Buch „Kith, Kin, and Neighbors. Communities and Confessions in Seventeenth-Century Wilno” eine tiefgreifende Interpretation von Gerichtsverhören allein aufgrund der Vertrautheit mit altpolnischer Rhetorik möglich gewesen.

Die erste Sektion des Symposiums „Sprache als Instrument – Instrumentalisierung von Sprache“ widmete sich aus historischer und linguistischer Perspektive insbesondere der Frage, wie Brückner selbst im mehrsprachigen Umfeld agierte und polnische Geschichte, Sprache und Kultur analysierte. Gleichzeitig war die Sektion der Versuch, zentrale Thesen Brückners kritisch zu hinterfragen und daraus neue Forschungsfragen zu entwickeln.

Eingangs betrachtete MICHAEL MÜLLER (Halle) den Zusammenhang zwischen Biographie und Kulturvermittlung. Er setzte sich kritisch mit der These Max Vasmers zu Brückners Funktion als „Vermittler zwischen deutscher und polnischer Wissenschaft“ auseinander. Vasmer widersprechend betonte er, dass Brückner in den beiden weitgehend voneinander getrennten akademischen Welten unterschiedlich agierte. Folglich habe er weder dem deutschen noch dem polnischen Milieu vollends angehört und sei kaum in der Lage gewesen, zwischen beiden zu vermitteln. Als Beispiel nannte er Brückners deutschsprachige „Geschichte der polnischen Literatur“ (1885ff.) und deren Einseitigkeit in der Stereotypisierung der Slawen sowie in der Ausblendung der aggressiven Rolle Preußens bei den Teilungen Polens. Den polnischen Zeitgenossen sei Brückner folglich nicht patriotisch genug gewesen.

Das Themenfeld Kulturkontakt und Stereotypisierung beschäftigte auch ACHIM RABUS (Jena) in seinem Vortrag über das sprachliche Konzept der Polonität in Brückners Werk. Dabei hob er charakteristische Argumente, aber auch problematische Akzente bzw. Dissonanzen hervor: So habe Brückner einerseits eine puristische Haltung verfochten und für die Pflege des Polnischen durch die Entfernung fremder Elemente plädiert, andererseits habe er gewisse Übernahmen aus westlichen Sprachen ins Polnische begrüßt. Eine Grundkonstante – so Rabus – sei die Postulierung einer kulturellen Überlegenheit der Polen bzw. des Polnischen im Hinblick auf die östlichen Nachbarn. Diesen Aspekt habe jedoch die Zensur in der Volksrepublik Polen, insbesondere in der 4. Auflage der Dzieje języka polskiego (Geschichte der polnischen Sprache), abgeschwächt.

MAREK ŁAZIŃSKI (Warschau) setzte sich mit der sprachwissenschaftlichen Forschung Brückners im engeren Sinne auseinander. Anhand einer Analyse der Entwicklung von Wortbedeutung und Konnotation von „kobieta“, dem polnischen Wort für „Frau“, konnte er zeigen, dass Brückners aus heutiger Sicht problematische etymologische Hypothese bezüglich dieses Wortes, die von einer eindeutig negativen Bewertung ausgeht, auch heute noch nachwirkt. Dies belegte er durch verschiedene Textbeispiele, die für die historische Entwicklung der Verwendungsweise des Wortes stehen. Als wichtiges Indiz führte er an, dass „kobieta“ als Selbstbezeichnung erst in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts aufkam.

Eine noch junge Richtung der sprachwissenschaftlichen Forschung vertrat ROLAND MEYER (Berlin), der sich dem Thema Polonität mittels korpuslinguistischer Methoden näherte. Er präsentierte eine korpusgestützte Analyse von Kollokationen, also überdurchschnittlich häufig benachbart auftretenden Wortverbindungen, mit den Lexemen „polnisch“, „Pole“ bzw. „Polin“. Auf diesem Wege konnte er empirisch verschiedene Stereotype nachweisen. Interessanterweise – so Meyer – bestehen hierbei große genderspezifische Unterschiede, dergestalt, dass mit „Polin“ andere, meist positivere Wörter verbunden sind als mit „Pole“.

YVONNE KLEINMANN (Halle) knüpfte aus rechtshistorischer Perspektive an ein zentrales Thema Brückners an: die Staatsreform Polens und den Verlust der staatlichen Souveränität im späten 18. Jahrhundert. Anhand dieses Beispiels arbeitete sie heraus, dass Brückner Polonität situativ unterschiedlich definierte: In der Auseinandersetzung mit dem politischen Niedergang Polens habe er „polnisch“ v.a. auf die Einheit und Integrität des Staatswesens bezogen; in seiner mehrbändigen „Geschichte der polnischen Kultur“ hingegen habe er die gesamte multiethnische Bevölkerung Polen-Litauens unter „polnisch“ subsumiert. Diese Beobachtung verband Kleinmann mit einer begriffsgeschichtlichen Analyse der Verfassung vom 3. Mai 1791, die über ethnische und religiöse Heterogenität aus strategischen Gründen weitgehend geschwiegen habe.

Im zweiten Teil des Symposiums, der unter dem Titel „Welche Polonität?“ stand, befassten sich die TeilnehmerInnen aus ethnologischer, ethnolinguistischer, literaturwissenschaftlicher und historischer Perspektive mit den unterschiedlichen Möglichkeiten, Polonität bzw. alternative Konzepte inhaltlich zu füllen.

Im positiven Sinne irritierend war der Vortrag von MIRJA LECKE (Bochum), die polnisch-nationale Vorstellungen von Polonität anhand der so genannten russischen Phase (1820er bis 30er) des Romantikers Adam Mickiewicz hinterfragte. Mittels einer literaturwissenschaftlichen Analyse der „Krimsonette“, von „Konrad Wallenrod“ und „Ahnenfeier“ (Teil 3) demonstrierte sie die vielschichtige Verflechtung von Mickiewiczs Dichtung mit der russischen Kultur, die sich in der näheren Betrachtung dem monologischen polnischen Nationalprisma entzieht, für das Mickiewicz heute als pars pro toto steht.

Die übrigen Vorträge legten den Schwerpunkt auf Mikro- und Minderheitenstudien. KATRIN STEFFEN (Lüneburg) analysierte aus historischer Perspektive öffentliche Diskurse um den Platz von Juden in der polnischen Kultur und Gesellschaft der Zwischenkriegszeit. Sie identifizierte das Polnische seit dem späten 19. Jahrhundert als Umgangssprache der jüdischen Inteligencja, in der nächsten Generation schon als Muttersprache zahlreicher Juden in Polen. Dagegen hätten sowohl Vertreter jüdischer Gruppierungen als auch katholische Polen aufbegehrt. In beiden Gruppen habe die Vorstellung von einem jüdischen bzw. katholischen Körper, der in Reinform zu erhalten sei, aus unterschiedlichen Motiven eine bedeutende Rolle gespielt. Hybridität hingegen sei unerwünscht gewesen. Die Quelle dieses Denkens machte Steffen u.a. in der transnational relevanten physischen Anthropologie der Zwischenkriegszeit aus.

EWA DZIĘGIEL (Warschau/Krakau) widmete sich der langfristigen Entwicklung der polnischen Minderheit und der polnischen Sprache in der Ukraine. Als Ausgangspunkt nahm sie die gemeinsame Geschichte der Polen und Ruthenen unter habsburgischer Herrschaft und im Polen der Zwischenkriegszeit. In beiden politischen Zusammenhängen sei eine klare kulturelle Dominanz der Polen zu verzeichnen gewesen. Ein tiefgreifender demographischer Einschnitt sei jedoch durch die Grenzziehungen nach dem II. Weltkrieg eingetreten, infolge derer etwa 300.000 Polinnen und Polen auf dem Territorium der ukrainischen Sowjetrepublik verblieben. Aufgrund von gestreuter Siedlung und Ehen mit Nichtpolen habe der intensive Sprachkontakt mit dem Ukrainischen eine Varietät des Polnischen hervorgebracht, die sich deutlich vom heutigen Standardpolnischen unterscheide.

AGNIESZKA HALEMBA (Warschau) analysierte auf Grundlage ethnologischer Feldforschung die Selbstwahrnehmung der Rusinen, einer griechisch-katholischen ostslawischen Minderheit im heute ukrainischen Transkarpatien, und kam zu dem Schluss, dass sie sich einer nationalen Zuschreibung zu den Ukrainern entziehen. Wichtiger als das Kriterium Nation – so das Ergebnis zahlreicher Interviews – seien neben der Konfession die Familie und das Dorf, die durch gemeinsame Werte und Bräuche eine bedeutsamere Gemeinschaft bildeten.

Das polnische Spiegelbild zu diesem Vortrag bildete die Präsentation von OLENA DUĆ-FAJFER (Krakau) zum Kultur- und Identitätsdiskurs der Lemken, einer Untergruppe der Rusinen im heutigen südlichen Polen. In ihrer Skizze der Geschichte der Lemken betonte sie die Grundtendenz der Assimilation an die polnische Mehrheitsgemeinschaft. Grundsätzlich problematisierte sie, dass die Lemken in der Republik Polen nicht uneingeschränkt als Minderheit anerkannt seien. Ungeachtet dessen existiere neben dem dominanten Konzept von Polonität eine lemkische Gemeinschaft, darüber hinaus seien auch hybride Identitätskonzepte möglich. Dies belegte Duć-Fajfer durch zahlreiche Bildquellen.

Anna PIECHNIK-DĘBIEC (Krakau) befasste sich aus ethnolinguistischer Perspektive mit der kulturellen Selbstbeschreibung der polnischen Landbevölkerung in den Bergregionen des heutigen Kleinpolen. Auf Grundlage intensiver Feldforschung kam sie zu dem Schluss, dass die Wirklichkeitswahrnehmung der DorfbewohnerInnen vor allem auf den Antipoden „wir“ und „die Fremden“ beruhe. Die eigene Welt sei stark durch die Tradition der Landwirtschaft, durch Dialekt, Katholizismus, Bräuche und historisches Gedächtnis im Hinblick auf das eigene Dorf geprägt. Polonität hingegen spiele nur eine Rolle, wenn es um die Abgrenzung gegenüber Fremden gehe – zum einen externen wie Deutschen und Russen, zum andern internen wie Juden, Sinti und Roma.

In der Zusammenschau hat das Symposium vorgeführt, dass eine erneute Beschäftigung mit dem in seinen vielen Aspekten nicht mehr präsenten Werk Aleksander Brückners lohnt – darüber hinaus, dass dieses Werk einer neuen, interdisziplinär ausgerichteten Forschung als produktive Reibungsfläche dienen kann. Gerade die Auseinandersetzung mit dem Thema Polonität hat deutlich gemacht, wie dynamisch und kontrovers polnische Sprache, Geschichte und Gesellschaft in Zukunft diskutiert werden können.

Die VeranstalterInnen planen mittelfristig, eine digitale Open-Access-Reihe Interdisziplinäre Polenstudien / Interdisciplinary Polish Studies ins Leben zu rufen. Die Beiträge des Symposiums sollen den Auftakt der Reihe bilden.

Das Symposium wurde von der Deutsch-Polnischen Wissenschaftsstiftung, dem Emmy Noether-Programm der DFG und von der Alexander von Humboldt-Stiftung gefördert.

Kurzübersicht der Tagung

Begrüßung: Klaus Dicke

Einführung: Yvonne Kleinmann, Achim Rabus

Keynote: David Frick: Geschichtswissenschaft und Philologie: Wenn Archive Geschichten erzählen

Sektion I: Sprache als Instrument – Instrumentalisierung von Sprache

Michael G. Müller: Polonität in der Fremde: Aleksander Brückner und sein intellektuelles Umfeld in Berlin

Roland Meyer: Was Kollokationen (nicht) verraten: Ethnokulturelle Stereotype und digitale Textkorpora

Marek Łaziński: Das Wort „kobieta“ und seine Bewertung in der Geschichte des Polnischen: Der Einfluss der etymologischen Hypothese Brückners auf die Sprachwisenschaft und das sprachliche Weltbild

Achim Rabus: Brückners Werk revisited: Zensierte Polonität?

Yvonne Kleinmann: Einheit durch Sprache oder Schweigen über Vielheit? Polonität in der Verfassungsdiskussion des späten 18. Jahrhunderts

Sektion II: Welche Polonität?

Agnieszka Halemba: ‘Rusyn’ as an Anational Self-Identification in Contemporary Ukrainian Transcarpathia

Olena Duć-Fajfer: Lemkische Gemeinschaft neben Polonität: Ein Kultur- und Identitätsdiskurs

Mirja Lecke: Polonität als Problem in Mickiewiczs „russischer Periode“

Katrin Steffen: Umstrittene jüdische Polonität – Diskurse um den Ort von Juden in der polnischen Kultur und Gesellschaft

Ewa Dzięgiel: Polish Language and Polish Minority in Ukraine. National Identity in a Situation of Multilingualism and Loss of the Native Language

Anna Piechnik-Dębiec: Cultural Self-Description of the Inhabitants of Polish Villages (an Ethnolinguistic Perspective)


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