(Un)Sicherheit, (Un)Sichtbarkeit und Geschlecht in historischer Perspektive

(Un)Sicherheit, (Un)Sichtbarkeit und Geschlecht in historischer Perspektive

Organisatoren
Sylvia Schraut/Felix de Taillez, Universität der Bundeswehr München
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
03.07.2014 - 04.07.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Matthias Kuhnert, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Nicht zuletzt durch die Anschläge von 9/11 und die anschließenden Versuche, der terroristischen Bedrohung zu begegnen, sind Sicherheitsfragen ins Zentrum der öffentlichen Debatten gerückt. Seit mittlerweile mehr als einem Jahrzehnt wird intensiv darüber diskutiert, wie öffentliche Sicherheit, die dazu für viele notwendige (digitale) Überwachung und die Freiheit des Einzelnen in Einklang gebracht werden können. Auch die Geschichtswissenschaft hat sich dem Gegenstand „Sicherheit“ in den letzten Jahren immer wieder unter verschiedenen Blickwinkeln genähert und dabei gezeigt, dass diese Thematik keineswegs ein neues Phänomen darstellt. Trotz aller Diskussionen und Beiträge zum Problemfeld „Sicherheit“ sind bis heute viele Fragen weitgehend ungeklärt. Welche unterschiedlichen Vorstellungen von Sicherheit existierten und wie wandelten sie sich im Laufe der Zeit? Wie versuchten historische Akteure diese Vorstellungen in die Praxis umzusetzen? Was waren die Voraussetzungen für die unterschiedlichen Sicherheits-Konzepte und wie beeinflussten sie das Handeln der Akteure? Diesen und weiteren Fragen stellte sich die Konferenz an der Universität der Bundeswehr in München. Durch die systematische Verknüpfung von Sicherheit und Sichtbarkeit, die die Tagung strukturierte, entwarfen die beiden VeranstalterInnen, Sylvia Schraut und Felix de Taillez, eine neue und innovative Perspektive auf die genannten Forschungskomplexe, indem sie auf die Wechselwirkung zwischen beiden Kategorien hinwiesen. Um diese Herangehensweise zu diskutieren, waren TeilnehmerInnen aus den Geschichts- und Sozialwissenschaften eingeladen, die den Nexus zwischen Sicherheit und Sichtbarkeit in verschiedenen Epochen ergründeten.

Im ersten Panel nahm die Konferenz verschiedene Sicherheitsakteure in den Blick. SYLVIA SCHRAUT (München) behandelte in ihrem Vortrag die Genese, Anwendung und Folgen des Republikschutzgesetzes in der Weimarer Republik. Nach den Morden an Erzberger und Rathenau forderten Parlamentarier und Regierungsmitglieder vehement Maßnahmen zum Schutz von Politikern gegenüber der Presse, deren ungezügelter Hetze sie eine Mitschuld an den beiden Attentaten gaben. Die Sichtbarkeit von Politikern sollte im Ausnahmefall vermindert werden, um ihre Sicherheit zu garantieren. In der Praxis erwies sich das Gesetz jedoch nicht als Schutz der Republik, sondern wurde unter Mithilfe einer konservativen Richterschaft zur Zensur der Arbeiter-Presse benutzt. Die „Sicherheitsakteure“ in der Justiz erwiesen sich als wenig willig, die ihnen zugedachte Aufgabe auszufüllen. Stattdessen trugen sie dazu bei, die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.

FELIX DE TAILLEZ (München) widmete sich in seinem Vortrag der kanadischen Oktoberkrise von 1970. In diesem Jahr hatten die radikalen Untergrundkämpfer des Front de Libération de Québec (FLQ) einen britischen Diplomaten und einen kanadischen Politiker entführt. Damit wollten sie ihrer Forderung nach einem unabhängigen und sozialistischen Québec Ausdruck verleihen. Die kanadische Regierung unter dem liberalen Premierminister Trudeau reagierte darauf mit einer Verschärfung der Sicherheitsmaßnahmen, die in der Verhängung des Kriegsrechtes gipfelte. Beide Seiten versuchten in der Auseinandersetzung, auf ihre Weise die Medien und damit die Visibilität ihres Vorgehens zu instrumentalisieren. Eine der zentralen Forderungen des FLQ war, dass sein Manifest im Programm des größten öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders des Landes (CBC/Radio-Canada) verlesen werde. Dadurch sollte die allgemeine Sichtbarkeit ihrer Ideen erhöht werden. Die Regierung Trudeau hingegen benutzte die Medien als Plattform, um ihre unnachgiebige Haltung zu unterstreichen und ihre Sicherheitsmaßnahmen zu inszenieren. Die hohe Sichtbarkeit der Armee und Polizei im öffentlichen Leben und den Medien erreichte jedoch den gegenteiligen Effekt. Wie de Taillez anschaulich herausarbeitete, steigerte die Omnipräsenz der Sicherheitskräfte bei der frankophonen Bevölkerung Québecs vielmehr die gefühlte Bedrohung. Die erhöhte Sichtbarkeit der Sicherheitsmaßnahmen grub sich tief in das kollektive Gedächtnis Kanadas ein und führte somit zu einer ablehnenden Haltung gegenüber weitreichenden Überwachungsmaßnahmen.

Mit Akteuren, deren Sicherheit für gewöhnlich durch ihre Unsichtbarkeit garantiert wird, beschäftigte sich ANDREA PETO (Budapest). Sie untersuchte Spioninnen und Informantinnen des ungarischen Geheimdienstes während des Kommunismus. Peto beschäftigte sich insbesondere mit den genderspezifischen Stereotypen, die Spioninnen allgemein zugeschreiben würden. Im Allgemeinen gälten diese als verführerische, schöne Frauen à la Mata Hari, die vor allem ihre körperlichen Reize einsetzten und eine lose Moral an den Tag legten. Anhand von Personalakten und Handbüchern zur Ausbildung von Geheimdienstmitarbeitern dekonstruierte Peto diese Klischees und zeigte, dass auch von Frauen hohe Qualifikationen in dieser Branche erwartet wurden. Die genannten Stereotype und die damit verbundene Sexualisierung von Frauenrollen dienten laut Peto vor allem zur Konstruktion von Geschlechternormen. So wurden Sicherheitsakteurinnen visuelle Attribute zugeschrieben, die ihrer Einordnung in ein disziplinierendes Normensystem dienten.

In der zweiten Sektion richtete die Konferenz ihren Blick auf die räumliche Dimension von Sicherheit. LUCY BARNHOUSE (New York) veranschaulichte anhand des Hospizes St. Georg in Mainz, dass Leprakranke keineswegs, wie bisher angenommen, aus der mittelalterlichen Gesellschaft ausgeschlossen waren. Vielmehr waren die Leprösen dazu fähig, sich in gerichtlichen Auseinandersetzungen Gehör zu verschaffen und ihre verbürgten Rechte durchzusetzen. So nahmen die Vertreter der Lepra-Kranken von St. Georg an Prozessen teil, die den oralen und performativen Rechtstraditionen folgten. In diesen Aushandlungsprozessen waren die Leprösen nicht nur sichtbar, es gelang ihnen außerdem, über andere Teile der Gemeinde Macht auszuüben. Auf diese Weise sei es ihnen möglich gewesen, ihre soziale Absicherung auf lange Sicht herzustellen. Dadurch waren die Kranken nicht nur sichtbar, sondern auch sicher.

Mit dem europäischen Parlament nahm INES SOLDWISCH (Aachen) einen modernen Sicherheitsraum in den Blick. Den Ausgangspunkt ihrer Analyse bildete die Beobachtung, dass gerade das EU-Parlament sich die Transparenz auf die Fahnen geschrieben habe. So verspreche das Parlament, offen für die Bürger zu sein. Dieser Anspruch spiegelte sich sogar in der Architektur des Gebäudes wider, das mit seiner gläsernen Fassade die Transparenz des Parlamentes unterstreiche. Die Sicherheitsmaßnahmen im Europäischen Parlament stünden allerdings im krassen Gegensatz zur proklamierten Offenheit. Besucher seien in Brüssel und Straßburg mit weitreichenden Kontrollen und permanenter Videoüberwachung konfrontiert. Soldwisch konstatierte, dass es sich das Parlament selbst in diese schwierige Lage bringe, da es seine legitimen Sicherheitsinteressen nicht ausreichend kommuniziere und gleichzeitig am Transparenzanspruch festhalte.

Sektion III widmete sich der Medialisierung von Unsicherheit. SYLVIA KESPER-BIERMANN (Köln) untersuchte Folter vom 18. bis ins 21. Jahrhundert. Sie betonte, dass Folter meist mit dem Versprechen von Sicherheit für das Kollektiv verbunden sei. Entweder würde sie mit der Abschreckung von Straftaten oder mit der Abwendung von Gefahren legitimiert. Mit der Abschaffung der Folter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts habe dagegen die Sicherheit des Individuums im Zeichen der Menschenrechte die Sicherheit der Gemeinschaft abgelöst. Dieser Schritt verband sich mit einer zeitgleichen Musealisierung der Folter. Obwohl offiziell gebannt, war sie im öffentlichen Leben durch Zurschaustellungen in Museen und Gruselkabinetten weiterhin präsent. Die Inszenierung der Folter diene modernen Gesellschaften bis heute zur Abgrenzung gegenüber einer vermeintlich ‚düsteren‘ Vergangenheit und zur Selbstversicherung des eigenen „Fortschritts“. Von dieser Beobachtung ausgehend zeigte der Vortrag den Wandel von Geschlechterdarstellungen in den Visualisierungen auf. Waren es in der Frühen Neuzeit noch meist männliche Folterer, die Männer folterten, so wurden im 19. Jahrhundert immer mehr Frauen in der Opferrolle porträtiert. Die Visualisierungen tradierten bestimmte Bilder von Folter, die bis heute wirksam sind.

RAJESH KUMAR (Kanpur, Indien) konzentrierte sich in seinem Vortrag auf die Darstellung Pakistans in den indischen Medien. Er skizzierte die alarmistische Art und Weise, mit der sowohl Zeitungen als auch das Fernsehen Indiens das Nachbarland porträtierten. Die Medien charakterisierten Pakistan als Failed State, der von der Armee und fanatischen Mullahs kontrolliert würde. Darüber hinaus sei es an der Tagesordnung, Pakistan als Sündenbock für diverse Fehlentwicklungen zu benutzen und dies mit hypernationalistischen Parolen zu unterstreichen. Laut Kumar sei dies eine Taktik, um von den eigentlichen Problemen Indiens abzulenken. Die negative Berichterstattung führe zu einem gefährlichen Sicherheitsdiskurs, der unter Umständen in eine Eskalation münden könnte. Aufgrund dieser Gefahren sei mediale Mäßigung unabdingbar. Um zu einer ausgewogeneren Berichterstattung zu gelangen, schlug Kumar konkrete Schritte, etwa einen institutionalisierten Austausch zwischen indischen und pakistanischen Medienvertretern, vor. Durch eine Versachlichung der Visualisierungen der jeweiligen Nachbarländer könne langfristig mehr Sicherheit erreicht werden, als durch die gängigen Dramatisierungen.

Im vierten und letzten Panel stellte die Konferenz Argumentationsmuster in den Mittelpunkt. VINCENT RZEPKA (Berlin) befasste sich in seinem ideengeschichtlichen Vortrag mit dem Konzept des Panopticons von Jeremy Bentham, das Foucault später in „Überwachen und Strafen“ thematisiert hat. Rzepka kritisierte Foucaults verkürzte Lesart, die das Panopticon auf seine disziplinierende Funktion reduziert habe. Stattdessen schlug Rzepka eine Betrachtungsweise vor, die das Panopticon als Versuch der architektonischen Umsetzung eines moralphilosophischen Konzeptes interpretiert. Als Reaktion auf die steigende Kontingenz während des Beginns der Moderne schlug Bentham sein Konzept radikaler Transparenz vor. Jeder sollte prinzipiell für alle sichtbar sein und gleichzeitig an der Beobachtung der anderen partizipieren. Davon erhoffte sich Bentham eine moralische Besserung der gesamten Gesellschaft. Politik und Parlament etwa sollten durch die Publikation aller ihrer Debatten von den Bürgern überwacht und dadurch zum rationalen Verhalten gezwungen werden. Das Panopticon war somit laut Rzepka die bauliche Umsetzung seiner Idee einer umfassenden Sichtbarkeit, die zu einer allgemeinen Sicherheit führen sollte.

Mit gesellschaftlichen und staatlichen Kontrollmechanismen beschäftigte sich auch JASMIN RÖLLGEN (München). Konkret fasste sie die immer weiter um sich greifende digitale Überwachung in den Blick. Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass in den letzten beiden Jahrzehnten sowohl die verschiedenen digitalen Kommunikationstechnologien als auch die Mittel zu ihrer Überwachung enorme Fortschritte gemacht haben. Röllgen untersuchte verschiedene Strategien des Umgangs mit diesen vergleichsweise neuen gesellschaftlichen Problemen der digitalen Überwachung. Sie identifizierte im Wesentlichen drei verschiedene Umgangs- und Bewältigungsformen. Erstens hielten einige Akteure in Politik und Medien traditionelle Dichotomien, etwa Privatsphäre und Sicherheit, aufrecht und schrieben dadurch althergebrachte Argumentationsmuster fort. Zweitens seien Akteure zu nennen, die versuchten eben diese zentralen Widersprüche aufzulösen und zu konsensualen Lösungen zu gelangen. Drittens seien Anpassungsstrategien zu nennen. Als Beispiel für Letzteres skizzierte Röllgen die Darstellung neuer digitaler Überwachungsmethoden in Kriminalserien. Durch die Präsentation der Techniken als notwendige Mittel zur Verbrechensbekämpfung im Fernsehen komme es bei den Zuschauern zu einem Primingeffekt. Das bedeutet, bei der Bevölkerung etabliere sich nach und nach ein bestimmtes Bild digitaler Überwachungsmethoden, wodurch diese langfristig als normale Alltagsphänomene akzeptiert würden. Röllgen zeigte in ihrem Vortrag somit auf anschauliche Weise, wie die Visualisierung von Sicherheitsmaßnahmen zu deren Etablierung beitragen kann.

In der folgenden Abschlussdiskussion thematisierten die TeilnehmerInnen die verschiedenen Sicherheitskonzepte, die die einzelnen Vorträge präsentiert hatten. Wichtig erschien die Frage, ob und wie sich Sicherheit von anderen Konzepten, wie Ordnung, abgrenzen lasse. Dabei wurde schnell deutlich, dass zwischen einem analytischen Sicherheitsbegriff und dem der jeweiligen historischen Akteure unterschieden werden sollte. Ob ein analytischer Begriff von Sicherheit überhaupt operationalisierbar ist und für weiterführende Untersuchungen einen Mehrwert darstellen kann, blieb bis zuletzt fraglich. Fest stand für die DiskutantInnen jedoch, dass historische Akteure das Konzept jeweils in spezifischen Kontexten konstruierten und stets neu aushandelten. Gerade in der Rekonstruktion und Deutung der verschiedenen Sicherheitsvorstellungen bestehe vielversprechendes Potential für die (historische) Forschung.

Insgesamt bot die Konferenz einen spannenden Austausch über ein derzeit in mehreren Disziplinen vieldiskutiertes Forschungsthema. Gerade der interdisziplinäre Dialog und der epochenübergreifende Zugriff der Tagung stellten sich als überaus produktiv heraus und wiesen darüber hinaus auf die zukünftige Notwendigkeit eines solchen Austausches hin. Positiv hervorzuheben ist vor allem, dass die einzelnen Vorträge tatsächlich konsequent die Wechselwirkung von Sicherheit und Sichtbarkeit aufgriffen und so zur Umsetzung des bereits im Tagungstitel angedeuteten Forschungsprogrammes beitrugen. Gerade in dieser Verknüpfung der beiden Kategorien ist auch der weiterführende heuristische Wert der Tagung zu sehen. Es ist zu wünschen, dass diese Perspektive in Zukunft produktiv aufgegriffen wird, da von ihr neue Impulse für die Sicherheitsforschung ausgehen können.

Konferenzübersicht:

Sektion I: (Un)Sicherheitsakteure
Moderation: Ina Ulrike Paul (München)

Sylvia Schraut (München), (Un)Sicherheitsakteure – politische Zensur in der Weimarer Republik

Felix de Taillez (München), (Un)Sicherheit sichtbar und hörbar machen. Die Oktoberkrise 1970 als Kampf um die mediale Deutungshoheit in Kanada

Andrea Peto (Budapest), Gendering Intelligence: Female Spies and Informants in Communist Hungary

Sektion II: (Un)Sicherheitsräume
Moderation: Tobias Wolffhardt (München)

Lucy C. Barnhouse (New York), Envisioning Justice: Ritual, Performativity and Presence in the Chartulary of St. Georg Leper Hospital, Mainz, 1351-1391

Ines Soldwisch (Aachen), Unsichtbare Sicherheit im Europäischen Parlament: Transparenz und Offenheit der „Glaspaläste” versus Überwachung zur eigenen Sicherheit

Sektion III: Medialisierung von (Un)Sicherheit
Moderation: Roman Köster (München)

Sylvia Kesper-Biermann (Köln), Die (un)sichtbare Folter. Visualisierungen in Europa vom 18.-20. Jahrhundert

Rajesh Kumar (Kanpur, Indien), Pakistan Factor, Securitization and Indian Media

Sektion IV: Argumentationsmuster
Moderation: Charlotte Klonk (Berlin)

Vincent Rzepka (Berlin), Sicherheit durch Sichtbarkeit. Die Entstehung von Transparenz als politisches Programm

Jasmin Röllgen (München), Alltägliche Unsicherheit. Die Domestizierung digitaler Sicherheitsmaßnahmen

Abschlussdiskussion