Gewalt – Geschichte – Gesellschaft. Interdisziplinäre studentische Tagung

Gewalt – Geschichte – Gesellschaft. Interdisziplinäre studentische Tagung

Organisatoren
Studierende am Historischen Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
Ort
Freiburg
Land
Deutschland
Vom - Bis
30.05.2014 - 01.06.2014
Url der Konferenzwebsite
Von
Lara Track / Helga Eichenberg, Mitglieder des Organisationsteams der Tagung / Veranstalterinnen, Historisches Seminar, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Ein weites Feld hatte der Call for Papers für die offene Studentische Tagung unter dem Titel ‚Gewalt – Geschichte – Gesellschaft‘ abgesteckt; eine bunte Blütenlese sollte sie als Ergebnis erbringen. Studierende der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg organisierten im dritten Jahr in Folge diese Veranstaltung. Interdisziplinär und epochenübergreifend widmeten sich die Teilnehmenden dem komplexen Themenfeld der Gewalt mit dem Ziel, einen „differenzierten Blick auf das Phänomen“ zu erhalten. Die Organisator*innen hatten bewusst auf eine konkrete Fragestellung verzichtet, was gleichzeitig Manko und Stärke des Unterfangens gewesen sein mag. Einerseits hätte eine Begrenzung nach zeitlichen oder disziplinären Kriterien möglicherweise zu greifbareren Ergebnissen geführt. Andererseits regten die Beiträge aus den verschiedenen Fachrichtungen dazu an, sich dem Gegenstand aus immer neuen Perspektiven zu nähern. In spannenden Diskussionen arbeiteten die Teilnehmenden nicht nur verschiedene Formen von Gewalt heraus, sondern beleuchteten deren Wirken in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten.

Der Eröffnungsvortrag von ANJA LOBENSTEIN-REICHMANN (Göttingen/Heidelberg/Prag) bot einen hervorragenden Überblick über eine subtile, jedoch nicht weniger wirksame Form der Gewalt. Sie erläuterte anhand verschiedener historischer Kontexte, wie Gewalt sich in der Sprache manifestiert und so zur Stigmatisierung und Ausgrenzung gesellschaftlicher Minderheiten führt. Sprache stelle in diesem Zusammenhang ein Mittel zur Gewaltausübung dar, indem sie Menschen durch sprachliche Inklusion einem Kollektiv zuordne und so eine positive Identität stifte. Diese Art der Inklusion erwirke die sprachliche und soziale Exklusion derjenigen Menschen, die nicht als Teile des Kollektivs wahrgenommen würden. Die Zugehörigkeit eines Individuums zu einer Gruppe impliziere insofern dessen Abgrenzung von anderen. Anhand der Hexenverfolgung der Frühen Neuzeit verdeutlichte die Referentin, dass Menschen, indem sie bestimmte Personen oder Gruppen sprachlich abwerteten, vorher nicht existierende Kategorien schufen, welche wiederum Gewaltexzesse innerhalb der jeweiligen Gesellschaft legitimierten oder gar herausforderten.

An die Überlegungen des Eröffnungsvortrags knüpften die studentischen Vorträge am Folgetag an, wobei darin zahlreiche weitere Formen von Gewalt zur Sprache kamen. Zunächst erschlossen PHILIPP RHEIN (Freiburg), THOMAS HIRSCHLEIN (Hamburg) und ASTRID HÄHNLEIN (Freiburg) dem Plenum einige theoretische Grundlagen anhand der Gewalt-Konzeptionen Pierre Bourdieus, Walter Benjamins und Hannah Arendts. Die Frage, ob und auf welche Weise(n) Gewalt gesellschaftliche Ordnung konstituiere, beschäftigte alle Vortragenden. Bereits hier wurde eine begriffliche Schwierigkeit deutlich, welche die Diskutierenden immer wieder problematisieren sollten. Gewalt als ein soziales Ordnungsprinzip zu analysieren bedeutete, den Gewaltbegriff weder als normativ, noch als statisch anzunehmen. Folglich erörterten die Teilnehmer*innen im Verlauf der Tagung nicht nur verschiedene Manifestationen von Gewalt, sondern suchten gemeinsam nach Definitionskriterien derselben. Hirschlein verwies explizit auf die Doppeldeutigkeit des Begriffs in der deutschen Sprache, der sowohl power als auch violence beinhalte.

Die Referierenden zeigten Zusammenhänge ebenso wie Grenzen zwischen Gewalt und verwandten Phänomenen wie Herrschaft (Bourdieu) und Macht (Arendt) auf. Hähnlein betonte, dass laut Arendt Gewalt nur dann auftrete, wenn legitime Macht im Schwinden begriffen sei. Sie zerstöre damit notwendigerweise die Möglichkeit von Gemeinschaft, anstatt sie zu konstituieren. Die Frage nach der praktischen Relevanz dieser Theorien stand während der Diskussion mehrmals im Raum. Die beiden Referenten des nächsten Panels boten Antworten darauf an.

Einen Versuch, Arendts Gedanken anzuwenden, unternahm FELIX WITTSTOCK (Jena) in seinem Referat zur europäischen Verteidigungspolitik. Er kam zu dem Schluss, dass Macht zwar der Gewalt überlegen sei, ihr Verlust jedoch in einen unkontrollierten Gewalteinsatz ausarten könne, wie die strategischen Leitlinien nach dem 11. September 2001 verdeutlichten. Die Verflechtung von Gewalt und Politik zeichnete JONAS FEDDERS (Frankfurt am Main) am Beispiel des bundesdeutschen Diskurses über die Rote Armee Fraktion (RAF) seit den späten 1960er-Jahren bis heute nach. Der Referent beschrieb einen Prozess der öffentlichen Entpolitisierung von Gewalt, in welchem den Terrorist*innen abgesprochen wurde, überhaupt politische Ziele zu verfolgen. Sie seien als Kriminelle abgetan worden, in der Annahme, dass Gewalt per se keine politische Bedeutung besitze.

Im dritten Panel ging es um regionale und temporale Aspekte von Gewalt. Aus der Sicht des Geographen beschäftigte sich THOMAS S. CARHART (Freiburg) mit der These, dass bestimmte Zonen des Erdballs eine besondere Affinität zu Konflikten aufwiesen. Er wandte sich gegen Historiker*innen, die exzessive Gewaltausbrüche innerhalb definierter Gebiete damit erklären würden, dass in diesen eine generelle Tendenz zur Brutalität vorhanden sei. Der Referent ging davon aus, dass kein solcher Zusammenhang bestehe; seine Argumentation wurde im Plenum kontrovers diskutiert.

SABINE MISCHNER (Freiburg) ging daraufhin der Frage nach, inwiefern Krieg beeinflussen könne, wie Menschen Zeit wahrnehmen und ob der Eindruck, man lebe in einer anderen Zeit, in einem „Ausnahmezustand“, erst dauerhafte physische Gewalt ermögliche. Am Beispiel des Ersten Weltkrieges rekonstruierte sie Empfindungen der Zeitgenossen aus Quellen und kam zu dem Schluss, dass die anhaltenden brutalen Erfahrungen tatsächlich eine Art Ausnahmezustand begründeten. Dieser trennte die als gut erinnerte Vergangenheit von der als noch positiver erwarteten Zukunft. Im Sinne des Koselleck'schen Ansatzes zu Erfahrungsraum und Erwartungshorizont sprach sie von der neuen Zeit des Krieges, die sich ins Unendliche auszudehnen schien und auf Seiten der Deutschen letztlich zu lethargischen Reaktionen geführt habe.

Das vierte Panel behandelte – schlicht gesprochen – die Frage, was Krieg mit zivilen Gesellschaften macht. Auf welche Art subjektive Erlebnisse Kollektive prägen und wie letztere damit umgehen, ob das bewusste Hinterfragen einer Form von Gewalt dazu führen kann, dass Menschen auch andere Arten derselben wahrnehmen und schließlich welche Spuren eine veränderte Sicht auf Krieg und Gewalt in zivilen Rollenbildern hinterlässt – diesen Fragen gingen die Referierenden nach.

Den Nordirlandkonflikt der späten 1960er- bis 1990er-Jahre und dessen Folgen für die gegenwärtige politische und soziale Situation behandelte RAPHAEL CUADROS (Berlin). Er fragte, wie sich traumatische Gewalterfahrungen Einzelner auf die (Nachkriegs-)Gesellschaft auswirkten. Des Weiteren legte er dar, welche Erkenntnisse der Friedensforschung in der nordirischen Politik bis heute Anwendung fanden, um eine nationale Aussöhnung herbeizuführen.

Auf eine oppositionelle Friedensbewegung kam LARA TRACK (Freiburg) zu sprechen. Sie stellte die US-amerikanischen „Women Strike for Peace“ (WSP) vor und erläuterte deren Engagement gegen den amerikanischen Krieg in Vietnam. Anhand dessen ging sie der Frage nach, ob die Aktivistinnen durch ihren Einsatz gegen eine spezifische Form von Gewalt ein breiteres Verständnis von Gewalt an sich entwickelten. Mit Bezugnahme auf Johan Galtungs Theorie der strukturellen Gewalt verdeutlichte die Referentin, dass WSP-Mitglieder gerade durch ihre Zusammenarbeit mit diversen Akteuren der Antikriegsbewegung begannen, verschiedene Formen sozialer Ungleichheit bewusst wahrzunehmen.

Mit den Nachwirkungen des Zweiten Weltkrieges auf die geschlechterspezifische Rollenverteilung in Familie und Gesellschaft beschäftigte sich CORA SCHMIDT-OTT (Freiburg). Aus Zeitschriften destillierte sie Debatten der 1950er- bis 1970er-Jahre, die das Aufbrechen des traditionellen autoritären Männerbildes zugunsten dem eines sorgenden Familienvaters nahe legten. Ihren Forschungen gemäß hätten zwei Faktoren innerhalb der Nachkriegsgesellschaft den Prozess angestoßen: einerseits brachen Gesellschaftsstrukturen und Rollenbildern infolge einer kollektiven psychischen Belastung zusammen und andererseits übernahmen Frauen Verantwortung für Aufgaben, die traditionell als männlich galten. Beides habe zur Schaffung einer friedlichen Nachkriegsgesellschaft beigetragen.

Dass die Erinnerung an Gewalt im Mythos auch ein gemeinschaftsstiftendes Moment im Sinne der Zusammengehörigkeit von Opfergruppen hervorrufen könne, erklärte SEBASTIAN KLÖDEN (Dresden). In seinem Vortrag sprach er über den Massenselbstmord jüdischer Menschen, die im 1. Jahrhundert in der Festung Masada im heutigen Israel von römischen Soldaten umstellt waren. Um der römischen Herrschaft zu entgehen, hätten sie den kollektiven Selbstmord aus Ausweg gewählt. Klöden berichtete, dass der „Mythos Masada“ im 19. und 20. Jahrhundert immer wieder instrumentalisiert worden sei und dass bis heute die Vorstellung von dem gerechten Kampf gegen die Unterdrücker im nationalen israelischen Gedächtnis nachwirkt.

Einer weiteren Konstruktion von Identität ging schließlich SEBASTIAN PETZNICK (Freiburg) am Beispiel des Massakers der Hutu an den Tutsi im Jahr 1994 nach. Im Gegensatz zum Mythos Masada habe jedoch im Fall der Konfliktparteien Ruandas keine selbständige Identitätsstiftung stattgefunden. Die Begriffe Hutu und Tutsi bezeichneten die Mitglieder zweier durchlässiger sozioökonomischer Gruppen. Petznick erklärte, dass Vertreter der Kolonialmacht Belgien Hutu und Tutsi als Ethnien deuteten und ihnen ethnische Zugehörigkeiten zuschrieben. Diese Zuordnungen, bzw. eine imaginierte generelle Fremdheit zwischen Hutu und Tutsi, hätten letzten Endes zum Ausbruch exzessiver Gewalt in Ruanda beigetragen. Indirekt knüpfte der letzte Vortrag der Tagung also noch einmal an den ersten an, indem auch hier die Gewalt sprachlicher Zuschreibungen betont wurde.

Die Beiträge des fünften Panels verdeutlichten, dass einerseits gemeinsam erlebte Gewalt – oder zumindest die Vorstellung einer solchen Erfahrung – ein identitäts- oder sogar nationenbildendes Potential besitzt. Andererseits kann Frieden zerstört werden, indem eine wie auch immer geartete Spaltung der Menschen in scheinbar exklusive Gruppen künstlich hervorgerufen wird.

Nach zahlreichen konkreten Gedankenanstößen zum Thema galt es in der Abschlussdiskussion, die Ergebnisse zusammenzufassen und größere Bezüge herzustellen. Die Bilanzierung orientierte sich an einer im Laufe der Tagung immer wieder aufgeworfenen Frage, nämlich der nach der Definition von Gewalt. Letzten Endes konnte darauf – kaum verwunderlich – keine abschließende Antwort gefunden werden. Stattdessen diskutierten die Teilnehmenden eine Reihe von daran anknüpfenden Fragen wie etwa, ob die Intention der Täterinnen oder die Leidwahrnehmung durch die Opfer notwendige Bedingungen darstellten, um von Gewalt überhaupt erst sprechen zu können. Verschiedene Formen von Gewalt – von der sprachlichen über die symbolische und strukturelle bis hin zur physischen – waren bereits zur Sprache gekommen. Klar wurde außerdem, dass einige Referentinnen zu einem engeren, andere zu einem weiter gefassten Gewaltbegriff neigten. Erneut wiesen die Teilnehmenden darauf hin, dass im Rahmen des wissenschaftlichen Diskurses allen die Normativität des Begriffes bewusst sein müsse, damit nicht moralische Verurteilungen ein Ende der Debatte auslösten. Zahlreiche Anwesende sprachen sich dennoch dafür aus, Gewalt nicht als ein Phänomen wie jedes andere zu behandeln.

Alles in Allem glich die Tagung dem Herantasten an ein komplexes Problem und warf mehr neue Fragen auf, als sie beantworten konnte. Es wäre ja auch nicht viel gewonnen, hätten Studierende und angehende Wissenschaftler*innen keine Neugierde und keinen Mut zur Aporie mehr.

Konferenzübersicht:

Eröffnungsvortrag
Anja Lobenstein-Reichmann (Heidelberg/Göttingen/Prag), Sprachliche Ausgrenzung in Geschichte und Gegenwart

I. Theorien und Gewalt

Philipp Rhein (Freiburg), Anerkannte und verkannte Gewalt – Pierre Bourdieus Konzept der symbolischen Gewalt als Analyseinstrument sozialer Herrschaft

Thomas Hirschlein (Hamburg), Die „größte Entartung der Gewalt“ – Polizei, Recht und Gewalt bei Benjamin und Agamben

Astrid Hähnlein (Freiburg), Gewalt in Politik und Geschichte. Überlegungen ausgehend vom Denken Hannah Arendts

II. Staat und Gewalt

Felix T.Wittstock (Jena), Die Gewalt Europas. Hannah Arendt und die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik

Jonas Fedders (Frankfurt am Main), Unpolitische Gewalt durch gewalttätige Politik – Zur Dialektik von Gewalt und Politik am Beispiel der Auseinandersetzung mit der RAF

III. Zeit und Raum der Gewalt

Thomas S. Carhart (Freiburg), Raumbezogene Persistenz von Gewalt: Fata Morgana oder Fluch der Menschheit?

Sabine Mischner (Freiburg), Zeit(en) der Gewalt. Temporale Dimensionen von Gewalterfahrung

IV. Krieg und Frieden

Raphael Cuadros (Berlin), Traumata in Krisengebieten – Wenn Gewalt im Kopf weitergeht und was das für Friedensbildungsprozesse bedeutet

Lara Track (Freiburg), Friedensfrauen und der Krieg. Das Gewaltverständnis der Organisation „Women Strike for Peace“ anhand ihres Einsatzes gegen den Vietnamkrieg

Cora Schmidt-Ott (Freiburg), Der „vermenschlichte Mann“. Neue Leitbilder ziviler Männlichkeit in der BRD (1945-1970)

V. Identität und Gewalt

Sebastian Klöden (Dresden), Gewalt, Mythos, Ideologie. Der Mythos Masada und sein Einfluss auf die Politik und Gesellschaft Israels

Sebastian Petznick (Freiburg), Die Wurzeln der Gewalt – „Hutu“ und „Tutsi“ im kolonialen Ruanda

Abschlussdiskussion


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